Schwerpunktthema

Wenn das Heimische fremd wird …

Kafkas Protagonisten und Chaplins Filmfiguren erleben, was ungezählten Menschen widerfährt, unbemerkt leise oder laut; sie sind tragisch oder komisch, weil ihnen das Heimische fremd wurde, das Vertraute verdächtig.
René Isenschmid
Selbstständiger Case Manager CAS
herzbewegend.ch/stellensuche
Praxiskompetenz Transaktionsanalyse
Ich berichte von fremdartigen, merkwürdigen Erfahrungen eines alten Menschen. Noch vor Jahresfrist war dieser Mann nicht wirklich alt. Seine Pensionierung lag wenige Monate zurück, die uniformierten Kollegen der Kantonspolizei feierten seinen Abschied mit Geschenken, das Kader mit hohlen Reden; er allerdings fühlte sich vom Himmel fallen wie ein unreifer Stern. Dieser Mann ist mein Vater.
Die Geschichte startet in der Nacht – wie alle guten Geschichten. Mein Vater erwacht regelmässig um Mitternacht. Sein Bett steht als einziges im geräumigen, karg möblierten Krankenzimmer, das auch nachts der Dunkelheit trotzt. Monumentale Fenster widerspiegeln den nie erlöschenden Lichterteppich der Stadt, die zurückliegenden Erlebnisse schleichen sich in das Herz des Kranken wie alte Vertraute, die man missbilligen, aber nicht abweisen kann. Für gesunde Menschen nicht nachvollziehbare Impulse drängen den Mann aufzustehen, er rudert sich mit Armen und Beinen aus dem Bett, als hätte er in Tonnen von Sägespänen geschlafen, er zelebriert das Ritual in der Absicht, sich einmal mehr mit seiner Situation zu versöhnen. Mein Vater liebt das Bild der nie zur Ruhe kommenden Windmühlen, ihren Rädern bleibt die freie Bahn verwehrt und fremde, unbekannte Kräfte bestimmen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er liebt die ohnmächtige und widersprüchliche Figur des Don Quijote, sie ist fatal und ihm sehr vertraut. Vaters Ohnmacht ist die mündliche Sprachlosigkeit, die Operation seiner Zunge liegt wenige Wochen zurück und macht ihn für immer stumm. Und jede Nacht hegt er den Verdacht: Dieser Verlust ist eine Parabel über mein rechtschaffenes Leben als Beamter auf dem Dorf! Eigentlich wollte er sich nie dem bürgerlichen Klischee entgegenstellen, er wollte sich anpassen, dazugehören, seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen und seiner farbenreichen Stimmmelodie einen unverwechselbaren Charakter.
Der Polizeikorporal, der längst zum Wachtmeister befördert sein sollte, strandet während den Sommerferien mit seiner Familie im kleinen Dorfkern der sich weit ausdehnenden Rottal-Gemeinde. Der Zügeltermin ist durch das Polizeikommando bestimmt. Um einer allfälligen dörflichen Kumpanei zuvor zu kommen, wechseln die Ortspolizisten regelmässig nach sechs Jahren ihre Posten. Wurzeln schlagen macht korrupt! Die Zentrale reflektiert die Auswirkungen auf ihre uniformierten Angestellten und auf die mehr oder weniger kinderreichen Familien nicht, selbst die Wohnungsgrösse bleibt marginal. Das Kader negiert die Frage, ob der neue Polizist sich in diese bäuerliche, in möglichst vielen Facetten abschottende Gemeinschaft integrieren und seinen Dienst ordnungsgemäss leisten kann. Mit dieser Frage aber hat alles angefangen.
Über dem Dorf thront die landesweit bekannte Barockkirche wie der Pfarrherr über den Köpfen. Der katholische Männerturnverein und die katholischen Bäuerinnen treffen sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Lokalen und Dorfbeizen. Die konfessionellen Attribute werden mit der Geschichte gerechtfertigt; irgendwie spürt der Neuankömmling hier die letzten Atemzüge des verlorenen Sonderbundkrieges. Dieses Trauma erklärt ausser dem religiösen auch das politische und gesellschaftliche Klima in der Dorfgemeinschaft. Die Kinder der sehr wenigen evangelischen Mitbürger haben während des Religionsunterrichts schulfrei, die kaum zählbaren Wähler von politischen Parteien ohne das «C» im Akronym pendeln in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen naiven Irregeleiteten und Brunnenvergiftern, in diesem Dorf sind weder schwule noch im Konkubinat lebende Menschen bekannt. Farbige Menschen gibt es keine - für sie ein Glücksfall.
Tiefschwarz ist das Auto des ankommenden Ortspolizisten. Mein Vater erwarb den alten, motorisierten Koloss für wenig Geld in einer Zeit des billigen Benzins. Seine Frau schämte sich für ihn, sie schaffte es kaum, die Markenbezeichnung «Chevrolet» in den Mund zu nehmen, das Wort klebte ihr auf der Zunge wie Zeltli am Papier. Die Zeit, in der die Landpolizei in einheitlichen, bunt gestreiften Fahrzeugen mit Alarmsirenen auf dem Dach über die Strassen fegt, ist noch nicht angebrochen. Die aus den Mafiafilmen bekannte Limousine mit ihrem runden, in das abfallende Heck eingebauten Fenster, erzielte eine den heutigen Streifenwagen ebenbürtige Aufmerksamkeit. Mehr ungewollte Provokation zum Dienstantritt ging nicht. Wenige Wochen später wurde das Auto verkauft, es liess sich keine Garage finden, in die man es ohne fahrerische Höchstleistung im Millimeterbereich einparken konnte.
Die Kette der Missverständnisse riss nicht ab. Für die Mitglieder des Gemeinderates und für zahlreiche Mandatsträger war das Verhalten des Polizisten anmassend und dreist. Sein alltäglicher Auftritt in den Strassen des überschaubaren Dorfes wirkte ungewohnt, fremd. Ausser der auf beiden Seiten mit einem feinen Streifen versehenen Hose verwies nichts auf die Amtsperson, der dunkelblaue oder graue Kittel wirkte immer etwas zu knapp, die steife Uniformmütze fehlte vollends. Was den Behörden missfiel, schätzten die Menschen. Sie mochten ihn, sie suchten seinen Rat und die Gespräche gestalteten sich zusehends offener und unbefangener. Das Abbild des steifnackigen Dorfgendarmen verblasste, die neue Autorität benötigte zu ihrer Wahrung weder die Kopfbedeckung in den Staatsfarben noch die mit goldenen Blechknöpfen verzierte Uniformjacke, dessen Ledergürtel einzig dazu diente, die Pistole sichtbar zu tragen. Bis heute bleibt ungeklärt, wann und wo und welche Behörde beschlossen hat, drastische Massnahmen gegen den Ortspolizisten zu ergreifen, den sie als verkappten Sozialarbeiter verunglimpften. Das Polizeikommando, die seit mehr als zwanzig Jahren vorgesetzte Stelle, begnügte sich mit mündlichen Ermahnungen an ihren Mann vor Ort, wieder einmal die Verordnungen und Weisungen zu lesen. Die Führungscrew hatte längst akzeptiert, dass der Korporal aus dem Rottal zu den monatlichen Rapporten beim Amtswachtmeister regelmässig die kleinste Anzahl an Strafanzeigen mitbrachte, dass er ein miserabler Schütze und gleichzeitig ein hervorragender Polizist war, dem die Menschen vertrauten. Die Gemeindevertreter fanden im Kommando nicht die erhoffte Unterstützung, sie hatten dennoch das Ziel, diesen Querulanten in Uniform disziplinieren zu können.
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Merkwürdige Vorkommnisse waren die Folge. Da war beispielsweise dieser prächtige Maitag, Licht und Wärme durchfluteten das Tal wie auch die Gartenwirtschaft des Landgasthofes «Eintracht», der wenige Kilometer abseits des Dorfkerns zahlreiche Menschen zum Verweilen und Geniessen einlud. Selbst Polizeibeamte spüren den Frühling und sind auch mal durstig. Mein Vater liebte den sauren Most, den dieses Restaurant exklusiv von einer Grossmosterei aus dem Thurgau bezog und der in wulstigen, braunen Bügelflaschen ausgeschenkt wurde. Bier verschmähte er zeitlebens. Der kurze Ausflug in den Frühling endete eher drollig als tragisch. Bei seiner Rückkehr in dem inzwischen auf einen Occasions-Renault geschrumpften Auto standen zwei Uniformierte vor seiner Wohnung und baten ihren Kollegen, sie in die Kantonshauptstadt zu begleiten und einer Blutentnahme zur Bestimmung des Alkoholpegels zuzustimmen. Das Ergebnis war negativ, der Denunziant aus dem Wirtshausgarten blieb anonym. Zeitgleich wurde ein weiterer Wohnungswechsel innerhalb der Gemeinde geplant. Der Mietvertrag für den Polizeiposten und die dazugehörige Wohnung wurde innert weniger Jahre dreimal gekündigt und die Familie zum Umzug gezwungen, ohne Mitsprache oder Anhörung. Mit in die neuen Unterkünfte zogen Ohnmacht und Enttäuschung. «Dreimal umgezogen ist so gut wie einmal abgebrannt!» Das Zitat Benjamin Franklins leuchtete von den neu bezogenen Wänden, obwohl es dort nicht geschrieben stand. In der Regel sind Buchweisheiten lähmend, oft aber vermögen sie verdeckte Wahrheiten und nicht gestellte Fragen unverblümt aufzuzeigen. Wurzeln schlagen war längst keine Option mehr, das genuine Gefühl «Hier bin ich zu Hause» erstickte in willkürlichen Verwaltungsakten und Sachzwängen. Selbst unserer siamesischen Katze «Thea» ging dieser Instinkt verloren. Nach den ersten beiden Revierwechseln orientierte sie sich entgegen ihrem natürlichen Wesen nicht an den ihr vertrauten Orten, sondern an den Menschen, die sie fütterten. Wenige Wochen nach dem Bezug der dritten Wohnung blieb sie für immer weg. Die ausgedehnte Suche nach dem rassenreinen Tier, die einzige Siamkatze in der Gemeinde, blieb erfolglos. Sie hat die bäuerliche Wildnis der Lust auf weitere Domizilwechsel vorgezogen - dachten wir.
Was schmerzt mehr, die getarnte Kleinigkeit oder die offene Fehde? Selbst die Landwirte streiten sich, ob die wenigen Krähen oder die vielen Spatzen ihre Ernten schmälern. Die Vorstellung, dass eine dörfliche Autoritätsperson mit wirkmächtigen, gesetzlichen Kompetenzen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt, irritiert nur auf den ersten Blick. Hier prallten lebenslang Welten aufeinander: Ein übersicheres Muss und ein untersicheres Sein, ein angepasster Untergebener und eine autonome Persönlichkeit, ein der Familie verpflichteter Mensch und ein rebellischer Charakter. Das Auseinanderklaffen dieser Welten blieb den Dörflern nicht verborgen. Immer mehr von ihnen hörten vom konfliktscheuen Polizisten, der sich lieber inmitten seiner ungezählten Bücher aufhält als kontrollierend über Parkplätze schlurft, der lieber Albert Camus liest als Strafanzeigen tippt. Die Gemeindebehörden schäumten geräuschlos. Mein Vater wusste, er findet weder in Rousseaus Gesellschaftsvertrag noch in Platons Staat Lösungen für seine schwierige Situation, die guten Freunde seiner Parallelwelt entspannten und trösteten ihn, helfen konnten sie nicht. Eine wirkliche Unterstützung war nirgends in Sicht. Die grossen Psychologen der Weltliteratur wie Nietzsche und Dostojewski wurden zu Begleitern auf dem Rückzug. Die Auseinandersetzung mit ihren Ideen und Sichtweisen ersetzten viele menschliche Kontakte, verwischten die einsamen Gefühle des Fremdseins und der Ohnmacht. Kluge Analysen über die Auswirkungen permanenter Ohnmachtsgefühle füllen heute die Bücherregale, in der Bibliothek meines Vaters existierten keine Publikationen dieser Provenienz.
Mein Vater hatte keine Berufsausbildung, die wirtschaftliche Not der Dreissigerjahre nötigte ihn, als Hilfsschreiner in der Möbelfabrik zu arbeiten und seine Eltern und die jüngeren Geschwister finanziell zu unterstützen. Der elterliche Hof, der in der Waldlichtung an einem steilen Hügel klebte und aus fünf Ziegen und einem grossen Garten bestand, ernährte keine Familie, für eine Ausbildung der Kinder fehlte das Geld. Der junge Mann fand in der Fabrik gelangweilte, aber auch politisch interessierte Kollegen und gute Freunde. Sie erörterten mit ihm gesellschaftliche, aber auch Fragen der Gerechtigkeit und der ökonomischen Missverhältnisse. Die Gewerkschaften luden sonntags ein zu Lesegruppen für Arbeiter, die jungen Menschen hörten zum ersten Mal die Namen von Proudhon und Lassalle, Bebel und Marx. Ideale Welten blühten auf, neue Impulse erleichterten wohl die harte Arbeit in der Fabrik und auf dem Heimetli, nicht aber die persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Chance, diese hinter sich zu lassen, kam kurz vor dem zweiten Weltkrieg, mein Vater bewarb sich erfolgreich als Polizeianwärter, zusammen mit mehr als 600 weiteren Kandidaten. Was bedeutete dieser Erfolg? Das grosse Glück oder der Tod grosser Träume? Er absolvierte die Ausbildung für den Polizeidienst, startete ein bürgerliches Beamtenleben, heiratete und versorgte seine Familie vorzüglich. Und doch vermochten die stabilen finanziellen Verhältnisse zeitlebens die Zweifel nicht zu bändigen, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Die wirtschaftliche Not von damals prägte seinen Charakter weit mehr, als er zuzugeben bereit war. Sich als Akteur erleben, sich als Subjekt seiner Kräfte empfinden und diesen Kräften nicht entfremdet sein, keine fremden Masken aufsetzen müssen und keinen zu irgendwelchen Götzen erhobenen Institutionen folgen - ein verpflichtendes Lebensmotto. Der gute Polizist ist, bei aller inneren Zerrissenheit, vor allem ein Mensch. Er lebt zufrieden als eine auf die Mitmenschen bezogene Persönlichkeit und akzeptiert, dass einmal sein angepasstes, ein andermal sein rebellisches Ich sich dem normativen widersetzen. Die Seins-Orientierung zeichnet ihn aus, die Aversion gegen Uniformen und Pistolengürtel bleibt ein ulkiges Fragment.
Inzwischen liegt das Spitalzimmer im Licht der Morgensonne. Der pensionierte Polizist erholt sich in seinem Bett, das Gefühl, in Sägespänen zu liegen, lässt ihn nicht los. Frühstücken tut er seit langem nicht mehr, der ihm täglich mehrfach verabreichte, zähflüssige Brei ist ihm zuwider. Er wird über eine Magensonde mit Stöpsel ernährt, die routinierte Vorgehensweise der Pflegehilfskräfte erinnert ihn daran, wie er vor Jahren seine amerikanische Grosslimousine tankte. Der einst zu leichtem Übergewicht neigende Mann wiegt noch knapp fünfzig Kilogramm, seine schon längst schütteren Haare sind noch karger geworden, einzig die blauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren. Die Tage verbringt er grösstenteils im Stuhl, der in der Ecke neben dem Fenster steht. Dieser hat eine hohe Lehne, ist gut gefüttert, mit blauem Plastik überzogen und wird an guten Tagen mit einer Decke wärmer und weicher hergerichtet. Die guten Tage werden durch das Pflegepersonal verordnet und zeichnen sich zusätzlich zur Decke dadurch aus, dass der Patient über seine mitgebrachte Schiefertafel mit Kreide verfügen darf, um Bedürfnisse oder Wünsche aufzuschreiben, vielleicht auch mal seinem subtilen Zynismus zu frönen. Welche Ausdrucksweise bleibt einem Menschen, der zu jeder Zeit klar im Kopf und warm im Herzen ist, der differenziert denkt und feinsinnig fühlt und gleichzeitig stumm dem Tod entgegen segelt? Seine Spottlust hilft ihm zu leben, selbst wenn der Himmel einstürzt, sind noch nicht alle Spatzen tot!
Kurz und bestimmt klopft es an der Tür und nach wenigen Momenten tritt ein älterer, gepflegter Herr unaufgefordert in das Zimmer. Er bleibt in der Raummitte unruhig stehen, schaut sich suchend um, sein Blick findet das leere Bett, er dreht sich wieder zur Tür und - blickt in die Augen meines Vaters in seinem blauen Stuhl. Der Herr Gemeindeammann wirkt nervös, seine Hände nesteln am mitgebrachten Päckchen und er entschuldigt sich bei dem abgezehrten Mann für die Störung. Er suche den ehemaligen Polizisten seines Dorfes und vielleicht könne er ihm die Zimmernummer verraten? Der Mann im Stuhl bleibt stumm, der Gast lässt es sich deutlich anmerken, wie unhöflich und dreist er ihn aufgrund der verweigerten Antwort einstuft und verlässt die kleine, letzte Welt meines Vaters, bevor dieser ihm seine Identität eröffnen kann. Die Katze «Thea», diese schöne und stolze Siamesin, wurde wenige Tage später gefunden. Der Bauunternehmer, der seinen Lagerplatz gegenüber dem Polizeiposten räumte, fand ihren mumifizierten Kadaver unter einem Holzstapel, eingerollt, den Brustkorb durchbohrt mit der Kugel aus einem kleinkalibrigen Gewehr. Mein Vater starb 1982.

Schwerpunktthema

Sichtlich getrübt – das Fremde

Silvia Schnorf, lic. phil. I
Englischlehrerin/
Erwachsenenbildung
In fortgeschrittener Ausbildung
in Transaktionsanalyse
s.schnorf@bluewin.ch
Was wir als fremd empfinden, halten wir uns erst mal vom Leibe und produzieren gerade dadurch Fremdheit. Dazu reicht ein Blick des Befremdens, die Reaktion darauf entspricht der Blockierung einer gekreuzten Transaktion. Auf dieser visuellen Ebene hatten wir die Möglichkeit, parallel zu interagieren (‘transagieren’) aus dem wortwörtlich geteilten Augenblick heraus. Das Fremde trat uns entgegen und statt es in seiner Unbekanntheit anzunehmen, reagierten wir befremdet, verschreckt vielleicht und abwehrend. Unter diesem Fremdeln können wir ein Schutzbedürfnis aus dem Kind-Ich sehen, eine warnende Stimme aus dem Eltern-Ich hören oder gar eine urmenschliche Instinktreaktion vermuten, auf alle Fälle fehlt eine bewusste und integrierende Antwort aus dem Erwachsenen-Ich, die der Situation und den Umständen Rechnung trägt. Das Fremde ist ein Skript-Trigger, Begegnungen mit Fremden oft geradezu eine Miniskript-Achterbahn. Kein Wunder, wehren wir Fremdes, wo immer möglich, mit bekannter Vehemenz ab - oder suchen es, ganz im Gegenteil, als etwas Ideales. Dabei geht vergessen, dass das Fremde bezeichnenderweise ja unbekannt ist, sich also die Frage stellt, was denn abgewehrt, bzw. angestrebt wird. Weil es ja so blanko fremd ist, bietet sich das Fremde in seiner Leere als Projektionsfläche an. Wir kennen die Trübungen von Exotik (positive Projektionen, Illusion, Wunschdenken) und jene von Xenophobie und Rassismus (Vorurteile, negative Projektionen, Hass). Natürlich handelt es sich hier um Abwertungen (Discounts). Zu verhindern sind diese Vor-Urteile und anfänglichen Verzerrungen in ihren milderen Formen bei niemandem, sie dienen uns zu einer groben Orientierung. Doch Bewusstheit über diese Prozesse und die Bereitschaft zu reflektieren können vermeiden helfen, dass gleich aufs Dramadreieckskarussell aufgesprungen wird und man persönlich und politisch manipulierbar oder selbst manipulativ wird.
Das Befremden auf der einen Seite charakterisiert das Fremdsein auf der anderen. Ich denke, es ist viel Autonomie nötig, mit den (meist unausgesprochenen) Annahmen über einen selbst als Fremden umzugehen. Es kostet Kraft, sich nicht über sie definieren zu lassen und ist in gewissen Fällen unmöglich. Eine immer wieder zu erbringende Integrationsleistung von Migrierten ist es, zu beweisen, dass sie nicht ‘so’ sind, nicht sind, wie sie in den Köpfen spuken. Nationalitätenklischees halten sich oft hartnäckig, die wahren Identitäten fallen Discounting zum Opfer. Wer hätte, bis zu jenem Notfall, wo sie in Aktion trat, vermutet, dass die Dame hinter dem Tresen eine albanische Ärztin war, die sofort auch erklärte, dass sie hier nicht praktizieren darf. Das Fremde in Schranken zu halten, bedeutet es fremd zu halten. Fremdsein bedeutet nicht gesehen zu werden, sich nicht einbringen zu dürfen.
Im Fremden wehren wir unbewusst die Möglichkeit eigenen Fremdseins ab, denn Fremdsein ist bedrohlich und mit Schmerz verbunden. Ausserhalb stehen zu müssen löst Gefühle des Nicht-OK-Seins (-/+) oder die Abwertung vonseiten der Zugehörigen (+/-) aus. Wir sind auf Anerkennung angewiesen. Über den Austausch von Strokes vergewissern wir uns unserer sozialen Existenz. Was bei Ausgrenzung hirnphysiologisch abläuft, erklärt z.B. Joachim Bauer schlüssig und unter Verweis auf eine Fülle von sozialen und historischen Beispielen.1
Soziale Zugehörigkeit und Bindungen bedeuten Sicherheit. Im Fremdsein fallen diese weitgehend weg. Wenn ich selbst über Beziehungen verfüge und Zugehörigkeit erfahre, habe ich es weniger nötig, Fremde als Eindringlinge auszugrenzen. Dort jedoch, wo sie fehlen, werden Fremde unweigerlich als Konkurrenten empfunden – wie will ich sie integrieren, wenn ich es selbst nicht bin? Das würde die Empfindlichkeit gegenüber Fremden in strukturell schwachen Gegenden erklären. Menschen in bedrängter (oder so empfundener) Lage wechseln gegenüber Schwächeren auch mal aus der Opfer- in die Verfolgerposition. Das ist kein problemlösendes oder ethisches Verhalten. Die knappen Ressourcen (auch die psychischen) mit völlig Fremden zu teilen und damit den Eigenen vorzuenthalten, wird im gegebenen Kontext meist auch keine Option sein. Es ist folglich weniger eine Frage der Kultur, sondern eher der Begegnungsrahmen, der eine Annäherung und Überwindung der Fremdheit verunmöglichen kann. Es sind hier nicht kulturelle Differenzen, sondern mangelnde Ressourcen, die Animositäten auslösen und den Blick auf Gemeinsamkeiten versperren.
Über Fremdes definieren wir Eigenes, setzen Grenzen, erleben innerhalb Zugehörigkeit. Wenn die eigene Identität nicht stabil ist oder unter Druck gerät, provoziert das Fremde leicht nachvollziehbar Reaktionen aus dem Skript. Es irritiert z.B., indem es unser Selbstbild in Frage stellt, was es nicht sympathischer macht. Wir verteidigen unsere Grenzen vehementer mit starrem Bezugsrahmen, merken vielleicht nicht mehr, wo wir diskriminierend ausgrenzen, statt uns selbstbewusst und fair abzugrenzen. Wir lassen eine sehr wohl mögliche Verbindung zu diesen anderen Menschen nicht, oder nur bedingt zu. Statt uns mit dem Fremden vertraut zu machen, um es evtl. schrittweise als nun Vertrautgewordenes zu integrieren, betreiben wir ‘Othering’. Othering ist ein Begriff aus dem postkolonialen Diskurs, der treffend darauf hinweist, dass Andersartigkeit auch konstruiert wird. Indem ich Andere zu solchen erkläre, grenze ich sie aus und werte sie ab – mit TA gesprochen handelt es sich um Grandiosität aus einer Abwehrposition. Mit dieser Abwertung kann ich das Fremde nun für mich legitim abwehren und muss mich nicht mit ihm auseinandersetzen.
Unser Blick bleibt in diesem Fall an Differenz haften und versperrt jenen auf Gemeinsamkeiten. Das kann dazu führen, dass wir uns in Verstrickungen und Abhängigkeiten in Form von Symbiosen begeben. Othering ist diskriminierend. Es finden Machtspiele statt. Mechanismen wie Opferabwertung und die Verkehrung von Opfern in Täter dienen ihrer Rechtfertigung. Daher lohnt es sich, mit offenem Blick hinzusehen. Wir alle kennen genug soziale und politische Beispiele dieser Dynamiken. Vielleicht geben wir uns mit Rettermentalität Mühe, den ‘armen Menschen’ zu helfen, während wir ihnen gleichzeitig ihre Ressourcen aberkennen, sie aus verdeckten (unbewussten?) Motiven in der Opferposition halten, für die wir (nun als Verfolger) sie dann auch noch verantwortlich machen.
Wie anders sähe ein gleichwertiger Umgang aus! Zumindest könnten wir OK-OK realistisch (Fanita English) anstreben und im Dialog über Vertragsarbeit – in Anerkennung beiderseitiger Interessen und unter Respektierung bleibender Unterschiede – zu kooperativen Lösungen finden. Dass der Umgang mit kulturell Fremden komplexer ist als der mit dem altbekannten Nachbarn, versteht sich von selbst. Wenn wir aber bedenken, was wir sonst alles zu lernen bereit sind, dann ist es erstaunlich, dass wir unsere kulturellen Prägungen (und die der anderen) generell für so absolut halten, zumal wir genügend Beispiele haben für gelungene soziale Integration und sicher im eigenen Leben auf Erfahrungen zurückgreifen können, wo wir gelernt haben, mit disparaten Elementen unserer eigenen Kultur und Herkunft konstruktiv umzugehen – vielleicht gerade über TA und Skriptarbeit.
Das Fremde in den Köpfen hält sich neben kollektiven Stereotypen vor allem in Form einiger einflussreicher Trübungen, die auch damit zu tun haben, dass Kultur und Identität als Konzepte fast ebenso schlecht fassbar sind wie das Fremde selbst.
© Silvia Schnorf
Da ist einmal die statische Auffassung von Kultur, mithilfe derer wir, wie schon erwähnt, unsere Lernfähigkeit in Bezug auf Kultur ausblenden. Die TA postuliert, dass jeder Mensch denken und sich verändern kann – auch kulturell möchte ich hinzufügen. Kulturen wandeln sich mit gelebter Praxis und wir uns mit ihnen. Der Prozess der Digitalisierung führt uns das deutlich vor Augen. Mir gefällt als Illustration auch das Beispiel der Historizität von Emotionen2. Unsere Kultur und Lebenswelt bestimmt uns bis in unsere Gefühle – und zwar dynamisch. Wir ändern uns persönlich und kulturell, auch im Kontakt mit anderen Kulturen.
Die Idee singulärer Zugehörigkeit schürt Konflikte und lässt Konfrontationen eskalieren. Unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe bedingt notwendigerweise die Abgrenzung von anderen Gruppen. Problematisch wird es dort, wo dies nicht (selbst-)bewusst geschieht, sondern mittels destruktiver Spiele gegen Andere agitiert wird. Hierher gehört dann das Hochspielen einer singulären Zugehörigkeit, oft benutzt zur hysterischen Überhöhung einer Exklusivität, die so nicht existiert. Amartya Sen weist darauf hin, dass auf diese Weise Feindbilder mit katastrophalen Folgen stilisiert werden, während ausgeblendet wird, dass jeder Mensch im realen Leben vielfältigen Gruppierungen angehört und über verschiedene Teilidentitäten und entsprechende Beziehungen verfügt3. Plötzlich zählt nur noch ein einziges Identitätskriterium – meist Ethnie oder Religion - und es ist egal, ob die Trennlinie sogar durch Familien verläuft. Fremd ist dann ganz klar Feind, und es reicht, den falschen Namen zu haben, um verfolgt zu werden. Wie viele tragen solch traumatische Erfahrungen in ihrem kulturellen Skript und reagieren auf Fremde mit grossem Misstrauen.
Die Annahme kultureller Homogenität steht im Zusammenhang mit dem oben Genannten. Wir leben in einer globalisierten Welt und einer Einwanderungsgesellschaft: In allen Lebenssphären empfangen wir Impulse aus anderen Kulturen und schaffen gemeinsam Neues - ob Lösungen oder Probleme. Der Mythos kultureller Homogenität hält sich als grobe Simplifizierung jedoch hartnäckig (meist in Form von Nationalismus) und will etwas bewahren, das längst aufgegeben worden ist zugunsten einer, auch problematischen, Offenheit in der gegenwärtig so vernetzten Welt. In einer plurikulturellen Gesellschaft unter Veränderungsdruck soll dieser Mythos Überfremdungsgefühle erklären und produziert sie dabei gleich selbst.
Das Ausblenden von Gemeinsamkeiten ist die Folge der oben genannten Trübungen. Im Banne des Differenz- und Diversitätsgedankens übersehen wir, was wir teilen – seien dies gemeinsame Interessen und Ziele, eine Berufsidentität oder Familienrolle, ganz zu schweigen von universellen menschlichen Bedürfnissen. Mit Gemeinsamkeiten im Blick würden wir viel eher Schritte zu Bekanntschaft und Beziehung in die Wege leiten und damit Fremdheit und das mit ihr verbundene Unbehagen reduzieren.
Ein zentraler Punkt in der Begegnung mit Fremden schliesslich betrifft die Vernachlässigung des Kontexts. Die Lage eines Menschen bestimmt sein Verhalten und seine Möglichkeiten oft mehr als seine kulturelle Identität. Dies wird ausgeblendet, wo seine Fremdheit im Fokus ist. Dazu ein Gedankenexperiment: man stelle sich Personen identischer Herkunft als ‘Expats’ oder Asylsuchende vor, als Nachbarn oder Geschäftspartner. Der Kontext bestimmt, welches Bild wir von diesen Menschen gewinnen und wie wir ihnen begegnen.

All diese Trübungen suggerieren im Fremden etwas Absolutes und Unüberwindbares. Sie stellen kognitive Barrieren dar, die wir abwehrend errichtet haben. Wo wir Differenz suchen, werden wir sie auch immer finden, Gemeinsamkeiten jedoch übersehen. Hier können wir mit TA ansetzen in Anerkennung menschlicher Grundbedürfnisse und durch Anstreben einer OK-OK-Haltung. Die TA handhaben wir generell als universell anwendbare Kommunikationsmethode. Sie bietet in ihren Modellen auch einigen Spielraum für den Ausdruck kulturell unterschiedlicher Ausprägungen menschlicher Erfahrungen und Werte. Sie liefert ebenso das Instrumentarium für einen Austausch darüber und wird mittlerweile quer über den Globus praktiziert. TA nimmt Menschen in ihrem Kontext wahr und begleitet sie hin zu grösserer Autonomie. Ein schönes Beispiel dafür liefert Karen Pratt in einem Beitrag über ihre Arbeit in Südafrika4.
TA fördert Selbst- und Sozialkompetenz und trägt damit zur Verständigung und Verringerung von gefühlter Fremdheit bei. Wir können sie einsetzen zur Förderung von Fremdheitskompetenz: Nach innen zur Förderung des Bewusstseins für eigene Reaktionen auf Fremdes und Fremde, sowie zur Reflexion eigener Erfahrungen des Fremdseins; nach aussen zu einer achtsamen Verständigung auf OK-OK-Basis, die dem fremden Gegenüber die gleiche Menschlichkeit zugesteht wie den Eigenen. Die Kombination der Innen- und Aussenperspektive schliesslich verhilft den sich Fremden in der Begegnung zu mehr Autonomie: Wir wahren einen flexiblen Bezugsrahmen, der dem Lernen über Andere und über uns selbst zugänglich ist und uns immer wieder neu Orientierung verschafft (Bewusstheit); wir können Beziehungen herstellen und freier gestalten, die uns Skriptreaktionen (auch kollektive) bis dahin verunmöglichten (Intimität); über kooperatives Vorgehen können wir unsere Ressourcen komplementär einbringen und gemeinsam nutzen (Spontaneität). Studien und Versuchsanlagen im Zuge der Desegration in den USA zeigten, dass Begegnungen mit einzelnen Vertretern einer kulturell fremden Gruppe zumeist keine Vorurteile entkräfteten, sondern sie im Gegenteil noch verstärkten, da solche Einzelpersonen offenbar gemeinhin als die Regel bestätigende Ausnahmen gesehen werden. Erfolgreichere Arrangements gestalteten mit dem «jigsaw classroom» ein kooperatives Lernsetting, innerhalb dessen beide, bzw. alle Seiten gleichberechtigt waren, gemeinsame Ziele anzustreben hatten und aufeinander angewiesen waren5. Diese drei Kriterien finden wir auch in den meisten erwachsenenbildnerischen Kontexten. Wir können einen solch ko-kreativen Rahmen ideal mit TA begleiten, um mehr soziale Kohärenz anzustreben. (Als TA-ler haben wir ja die Wirksamkeit solcher Gruppenarrangements in der Ausbildung auch selbst erlebt.) Positive Lernerfahrungen in einer kulturell gemischten Gruppe, in der mit jeder Lektion mehr Gemeinsamkeiten und auch grösseres Verständnis für Unterschiede entstehen, dienen konkret der Enttrübung und Bezugsrahmenerweiterung und liefern damit ein Gegenmittel zu den Negativschlagzeilen, die unser Bild vom Fremden stärker zu prägen scheinen als die weit häufigeren problemlosen, damit aber unauffälligen, Begegnungen.
Mit TA können wir ergründen, welche Umstände und inneren Faktoren unser Verhältnis zum Fremden bestimmen. Mir scheint ein selbst- und sozialkompetenter Umgang mit dem Fremden vielversprechender als interkulturelle Verhaltenstrainings für einzelne Kulturen. Wo wir es schaffen, Lernen situativ und in geschütztem Rahmen (Permission, Protection, Potency!) im konstruktivistischen Sinn anzuleiten, entsteht Neugier und Entdeckerlust, die Kommunikation wird klarer, die eigene Identität gewinnt in Auseinandersetzung mit dem Fremden an Kontur. Anstelle von Fremdeln tritt Vertrauen in Selbst und Andere. Und nicht zuletzt erlangt in solchen Dialogen auch ‘das Fremde’ eine Stimme mit Resonanz, die einer nachhaltigen Verständigung dienen wird und das Eigene bereichern kann.


1. Bauer, J. (2011). Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München: K. Blessing.
2. Siehe: History of Emotions: www.ted.com/talks/tiffany_watt_smith_the_history_of_human_emotions und www.mpib-berlin.mpg.de/en/research/history-of-emotions
3. Sen, Amartya. (2006). Identity & Violence, The Illusion of Destiny. London: Penguin.
4. Pratt, Karen. (2016). Building Community. In: G. Barrow & T. Newton (Eds.) Educational Transactional Analysis. (pp. 251-264). London: Routledge.
5. Aronson, E. et al. (2016). Reducing Prejudice. In: Social psychology. (pp. 442-450). Boston: Pearson.