Schwerpunktthema

Das Fremde

„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten und kommt damit in die Mitte.“ (C.G. Jung)
Das Fremde ist immer anwesend, das Eigene auch. Interessant ist, dass mir zum Begriff des Fremden kein Gegenteil einfällt. Das Bekannte? Das Vertraute? Das Eigene? Nein, auch das Fremde kann mir bekannt und vertraut werden, auch im Fremden kann ich Eigenes entdecken. Und das Eigene? Das ist mir natürlich vertraut, aber wenn ich mutig bin, dann erkenne ich in mir Anteile, die mir zwar vertraut sein mögen, die mir aber gleichzeitig immer auch etwas fremd sind. Und immer wieder finde ich in mir Anteile, Bestrebungen, Bedürfnisse, Ängste, die mir neu sind und bis dato mir selber verborgen, eben fremd waren.
Braucht es überhaupt ein Gegenteilpaar? Es braucht dann eines, wenn ich in Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse, Richtig oder Falsch aufteile. Wenn Komplexität reduziert werden muss, damit die Welt oder Teile von ihr überhaupt noch fassbar bleiben, ist es notwendig abzutrennen, auszuklammern, zu fokussieren. Im Moment des dualistischen Weltbildes braucht es Gegensatzpaare. Wenn diese Aufspaltung aber in Gefahr gerät, weil ich z.B. „als guter Mensch“ jemand anderen geschädigt habe, wenn das Fremde sich nicht mehr ausklammern lässt und auf einmal eine Wirkung entfaltet, dann entstehen oftmals schwer auszuhaltende Empfindungen wie Angst, Schmerz, Scham, Ohnmacht, Orientierungslosigkeit.
Ich ahne, dass es weder ein Gegenteil zum Fremden noch eines zum Vertrauten gibt, sondern dass beides nur Anteile eines komplexen Ganzen sind, die sich sogar ineinander umwandeln können. So z.B., wenn die Eigenart des Einen dem Anderen zuerst fremd, eigenartig und später liebenswert vorkommt. Das nennt man dann wohl Integration des Fremden. Gleichzeitig könnte man es aber genauso Integration des Eigenen (in etwas Grösseres) nennen.
Das Eigene. Was macht das Eigene aus? Individualität, Einzigartigkeit und Identität sind Begriffe, die mir hier einfallen. In den Momenten, in denen ich mir meiner Einzigartigkeit bewusst bin, bin ich mir auch meiner Unterschiedlichkeit zu Anderen bewusst. Das kann dann heissen, dass die Anderen mir in dem Moment fremd sind, muss es aber nicht. Einzigartigkeit ist ein Teil der Identität von Menschen und sie konstruiert sich auch durch Unterscheidung. Wenn man auf das Spüren der eigenen Identität fokussiert, dann braucht es nicht nur Unterschiedlichkeit, sondern auch das Fremde. In dem Moment, in dem ich mich mit Anderen identifiziere, z.B. um nachempfinden zu können, was diese fühlen, mache ich mich gleich und verliere meine Identität. Die Eigenheit einer Person oder sozialen Gruppe kann also erst an der Unterscheidung zum Anderen empfunden werden.
Dieses Phänomen wird immer wieder bei Jugendlichen deutlich, die sich abgrenzen, anders sein wollen, um das Gefühl einer anderen, besonderen Zugehörigkeit zu ihren Peers herzustellen. Zum einen entwickeln die Jugendlichen unter sich eine andere Sprache. Die eigene Kommunikation definiert das soziale Subsystem. Nur wer genau diese Sprache spricht, der gehört dazu. Die eben noch akzeptierten Eltern werden dann in dieser Sprache als „Spiesser“ angesehen, indem ihnen bestimmte Eigenschaften oder Vorlieben zugeschrieben werden, die man selber ablehnt. So bildet sich die eigene Identität über den Weg eines „anderen, sich unterscheidenden Erwachsenen“ heraus.
Ich selber bin Deutscher und lebe in der Schweiz, meiner Wahlheimat. Ich bemühe mich um Integration, möchte sozial akzeptiert sein und dazugehören. Was läge da näher, als die Sprache zu lernen? Dies aber ist ein Punkt, an dem ich immer wieder auf eine mehr oder weniger subtile Form von Ablehnung bzw. Ausgrenzung stosse. Ich bekomme immer wieder mit unterschiedlichen Begründungen gesagt, ich solle doch gar nicht erst anfangen, „Schwiizzerdütsch z'redde“. Fremden aus anderen Regionen gegenüber hat man in der Regel diese Einstellung nicht, fordert häufig sogar, dass diese Mundart lernen. Wenn man weiss, dass Sprache Zugehörigkeit definiert, wenn man weiss, dass Deutsche und Deutschschweizer sehr viele Gemeinsamkeiten haben und wenn man weiss, dass das Schweizerdeutsch erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder die Sprache aller Deutschschweizer, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit, wurde, so liegt die Vermutung nahe, dass die Motivation der Reaktionen auf mein Sprachlernen in einer Bewahrung der eigenen Identität als Abgrenzung zu Deutschland beruht.
Soziale Systeme, z.B. Bevölkerungsteile, IT-Abteilungen, Liebespaare, Transaktionsanalytiker, brauchen ihre eigene Sprache als Abgrenzung zum Fremden, um eine eigene Gruppen-Identität („Wir-Gefühl“) zu entwickeln. Das Andere und das Fremde haben also nicht nur einen Existenzanspruch an sich, sondern sind notwendig, um das Eigene empfinden zu können. Gleichzeitig ist es notwendig, dass die einzelnen Personen sich innerhalb dieses sozialen Systems über eine kritische Distanz ihre Einzigartigkeit be-wahren, damit sich das System überhaupt lernend weiterentwickeln kann. So tragen sowohl die teilweise Ausgrenzung als auch die teilweise Integration des Fremden zum Überleben eines sozialen Systems bei.
Lernen bzw. Persönlichkeitsentwicklung kann im weitesten Sinne als Aneignung und Integration von etwas Neuem und/oder etwas Ungekonnten definiert werden. Egal, ob das Lernen von etwas Neuem bewusst oder unbewusst verläuft, es braucht auf jeden Fall einen Anschluss an das Vorhandene, um gelernt werden zu können (Hüther 2016). Dieser Anschluss wird darüber hinaus durch eine Sinnhaftigkeit gesteuert. Das Lernen von etwas Neuem muss Sinn machen, sonst lernen wir es nicht nachhaltig. Hat das Fremde keinen Anschluss, so wird die (meist verordnete) Integration als überfordernd erlebt!


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Im Bezug zum Thema dieses Artikels ergibt sich daraus also die Frage: „Ist das jeweils Fremde anschlussfähig an meinen Bezugsrahmen und macht die Integration dessen Sinn für mich?“ Diese Fragen markieren für mich die Grenze der Integration des Fremden bzw. die Grenze des Selbsts zu einer gegebenen Zeit.
Was bedeutet dies alles nun für uns als professionelle Begleiter/innen von Menschen? Ich möchte diese Frage im Folgenden hauptsächlich in den Kontext der Einzel- und der Paarberatung stellen.
Egal, in welchem Zusammenhang und Setting wir Menschen begleiten, wir werden in der Regel langsam miteinander vertraut und bleiben uns gleichzeitig fremd. Zwei Fremde, die sich immer mehr lernen können und sich nie wirklich wissen werden. Genau das ist für mich das Spannende an der Persönlichkeitsentwicklung. Auch nach so vielen Jahren ist es immer wieder herausfordernd für mich, eine Entwicklung fördernde Wirkung an einer Stelle in einem Beratungsprozess zu haben, an dem für alle Beteiligten klar ist, dass die Lösung ausserhalb des eigenen Bezugsrahmens liegt. In die-sem Sinne ist Persönlichkeitsentwicklung oder die gemeinsame Entwicklung eines Paares die Integration fremder Aspekte, indem diese an etwas Eigenem Anschluss finden, was dann insgesamt etwas Neues ergibt. Das bedeutet aber auch, dass das Fremde nicht so fremd sein darf, dass es keinen Anschluss findet. Beispielsweise kann jemand, der in einer Familie mit weitgehender Harmonie aufgewachsen ist, nicht nachfühlen, wie sich eine Paarbeziehung sicher anfühlen kann, wenn der Zusammenhalt auf ständigen Konflikten basiert. Das ist dann zwar verstandesmässig zu erfassen, nicht aber emotional. So wird der/dem Professionellen in der Begleitung eines Klientensystems immer einiges fremd bleiben. Das zu akzeptieren ist sehr wichtig, um die Klienten respektvoll begegnen zu können.
Eine wichtige Frage für unsere Professionalität lautet also: „Was muss mir (bewusst und unbewusst) fremd bleiben, damit meine Identität nicht zu stark bedroht wird?“ „Was ist so wichtig für meine Identität, dass es als fremd definiert bleiben muss und was darf integriert werden?“ Dieses gilt sowohl für das Klientensystem als auch für die/den Professionelle(n)! Schon Peter Schellenbaum (1986) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Prozess der Nichtintegration des Fremden eben auch teilweise anzustreben ist. In seinem bekannten Buch „Das Nein in der Liebe“ setzt er sich für Abgrenzung in Liebesbeziehungen ein. Er plädiert dafür, sich dem anderen mit seinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten zuzumuten, dem Partner aber nicht die Verantwortung der Erfüllung dieser aufzubürden. Wenn das paarweise gelingt, dann stehen zwei Menschen miteinander in Verbindung, in der jeder seine Identität behält. Dieses ist in Schellenbaums Augen die Voraussetzung dafür, dass die Partner sich gegenseitig ein Leitbild für ihre eigene Entwicklung werden können („Leitbildspiegelung“). Erst diese Rücknahme der Projektionen in Bezug auf das „Befremdliche“ lässt Menschen das Gegenüber sehen, wie es ist, so dass Zusammengehörigkeit entstehen kann.
Noch ein Beispiel aus meiner Arbeit als Paarberater: Sie beklagt sich über seine emotionale Verschlossenheit, die sie als „Gefühllosigkeit“ bezeichnet. Er solle sich ändern, sonst beendet sie die Beziehung. Ich erlebe den Mann auch als emotional verschlossen, oder besser ausgedrückt, als hilflos im emotionalen Ausdruck. Gleichzeitig wirkt er auf mich sehr zugewandt und liebevoll seiner Frau gegenüber. Diese bestätigt meine Empfindung auch, beharrt aber darauf, dass ihr Mann „emotional unterentwickelt“ und „empathielos“ sei. Sie wiederum trägt Gefühle zu Markte und hat die Tendenz, diese gross zu machen, um das Gefühl des gesehen werden zu bekommen. In diesem Dramatischen wirkt sie zwar sehr emotional, zeigt sich aber nicht wirklich mit ihrer Angst - genau wie ihr Mann. Dieser hat nur den gegenteiligen Weg des Minimierens gewählt. Erst als die Frau dieses zu sehen beginnt, wird sie ihrem Mann gegenüber weicher und fängt an, ihn emotionaler wahrzunehmen. Beiden bleibt der emotionale Umgang des Partners zwar fremd, aber sie erkennen, wofür der jeweils Andere jedem ein Leitbild der eigenen Entwicklung sein kann.
Transaktionsanalytisch betrachtet entsteht in diesen Momenten eine Bewusstheit beider Partner über das Zusammengehören und ihre wechselseitige Abhängigkeit von einander (Symor 1992).
Das Fremde an sich muss also kein Problem sein, entscheidend ist der Umgang damit. Frei nach dem oberen Zitat von C.G. Jung könnte man sagen: „Wer zugleich das Eigene und das Fremde wahrnimmt, der sieht die Welt von zwei Seiten und kommt damit in Bezug zu ihr, so dass er sie im Rahmen seiner Möglichkeiten erwachsen gestalten kann.“

Literaturangaben:
Buber, M. (2008), Ich und Du. Stuttgart: Reclam.
Cornell, W.F. / Landaiche, M., Engpass und Intimität in der Paar-Beratung, Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 24
Garz, D. (2008), Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Hendricks, G. / Hendricks, K. (2004), Liebe macht stark. München: Goldmann
Hüther, G. (2016), Mit Freude lernen – ein Leben lang. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Kast, V. (2000), Der Schatten in uns: die subversive Lebenskraft. Zürich und Düsseldorf: Walter
B. SCHÄFER / B. SCHLÖDER: Identität und Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte der Eingliederung und Ausgliederung des Fremden
Peter Schellenbaum, P. (1986), Das Nein in der Liebe. München: dtv
Symor, N. K. (1992) in: Kottwitz, G. und Lenhardt, V., Integrative Transaktionsanalyse. Band 1, Berlin: Institut für Kommunikationstherapie

Schwerpunktthema

Wenn das Heimische fremd wird …

Kafkas Protagonisten und Chaplins Filmfiguren erleben, was ungezählten Menschen widerfährt, unbemerkt leise oder laut; sie sind tragisch oder komisch, weil ihnen das Heimische fremd wurde, das Vertraute verdächtig.
René Isenschmid
Selbstständiger Case Manager CAS
herzbewegend.ch/stellensuche
Praxiskompetenz Transaktionsanalyse
Ich berichte von fremdartigen, merkwürdigen Erfahrungen eines alten Menschen. Noch vor Jahresfrist war dieser Mann nicht wirklich alt. Seine Pensionierung lag wenige Monate zurück, die uniformierten Kollegen der Kantonspolizei feierten seinen Abschied mit Geschenken, das Kader mit hohlen Reden; er allerdings fühlte sich vom Himmel fallen wie ein unreifer Stern. Dieser Mann ist mein Vater.
Die Geschichte startet in der Nacht – wie alle guten Geschichten. Mein Vater erwacht regelmässig um Mitternacht. Sein Bett steht als einziges im geräumigen, karg möblierten Krankenzimmer, das auch nachts der Dunkelheit trotzt. Monumentale Fenster widerspiegeln den nie erlöschenden Lichterteppich der Stadt, die zurückliegenden Erlebnisse schleichen sich in das Herz des Kranken wie alte Vertraute, die man missbilligen, aber nicht abweisen kann. Für gesunde Menschen nicht nachvollziehbare Impulse drängen den Mann aufzustehen, er rudert sich mit Armen und Beinen aus dem Bett, als hätte er in Tonnen von Sägespänen geschlafen, er zelebriert das Ritual in der Absicht, sich einmal mehr mit seiner Situation zu versöhnen. Mein Vater liebt das Bild der nie zur Ruhe kommenden Windmühlen, ihren Rädern bleibt die freie Bahn verwehrt und fremde, unbekannte Kräfte bestimmen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er liebt die ohnmächtige und widersprüchliche Figur des Don Quijote, sie ist fatal und ihm sehr vertraut. Vaters Ohnmacht ist die mündliche Sprachlosigkeit, die Operation seiner Zunge liegt wenige Wochen zurück und macht ihn für immer stumm. Und jede Nacht hegt er den Verdacht: Dieser Verlust ist eine Parabel über mein rechtschaffenes Leben als Beamter auf dem Dorf! Eigentlich wollte er sich nie dem bürgerlichen Klischee entgegenstellen, er wollte sich anpassen, dazugehören, seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen und seiner farbenreichen Stimmmelodie einen unverwechselbaren Charakter.
Der Polizeikorporal, der längst zum Wachtmeister befördert sein sollte, strandet während den Sommerferien mit seiner Familie im kleinen Dorfkern der sich weit ausdehnenden Rottal-Gemeinde. Der Zügeltermin ist durch das Polizeikommando bestimmt. Um einer allfälligen dörflichen Kumpanei zuvor zu kommen, wechseln die Ortspolizisten regelmässig nach sechs Jahren ihre Posten. Wurzeln schlagen macht korrupt! Die Zentrale reflektiert die Auswirkungen auf ihre uniformierten Angestellten und auf die mehr oder weniger kinderreichen Familien nicht, selbst die Wohnungsgrösse bleibt marginal. Das Kader negiert die Frage, ob der neue Polizist sich in diese bäuerliche, in möglichst vielen Facetten abschottende Gemeinschaft integrieren und seinen Dienst ordnungsgemäss leisten kann. Mit dieser Frage aber hat alles angefangen.
Über dem Dorf thront die landesweit bekannte Barockkirche wie der Pfarrherr über den Köpfen. Der katholische Männerturnverein und die katholischen Bäuerinnen treffen sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Lokalen und Dorfbeizen. Die konfessionellen Attribute werden mit der Geschichte gerechtfertigt; irgendwie spürt der Neuankömmling hier die letzten Atemzüge des verlorenen Sonderbundkrieges. Dieses Trauma erklärt ausser dem religiösen auch das politische und gesellschaftliche Klima in der Dorfgemeinschaft. Die Kinder der sehr wenigen evangelischen Mitbürger haben während des Religionsunterrichts schulfrei, die kaum zählbaren Wähler von politischen Parteien ohne das «C» im Akronym pendeln in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen naiven Irregeleiteten und Brunnenvergiftern, in diesem Dorf sind weder schwule noch im Konkubinat lebende Menschen bekannt. Farbige Menschen gibt es keine - für sie ein Glücksfall.
Tiefschwarz ist das Auto des ankommenden Ortspolizisten. Mein Vater erwarb den alten, motorisierten Koloss für wenig Geld in einer Zeit des billigen Benzins. Seine Frau schämte sich für ihn, sie schaffte es kaum, die Markenbezeichnung «Chevrolet» in den Mund zu nehmen, das Wort klebte ihr auf der Zunge wie Zeltli am Papier. Die Zeit, in der die Landpolizei in einheitlichen, bunt gestreiften Fahrzeugen mit Alarmsirenen auf dem Dach über die Strassen fegt, ist noch nicht angebrochen. Die aus den Mafiafilmen bekannte Limousine mit ihrem runden, in das abfallende Heck eingebauten Fenster, erzielte eine den heutigen Streifenwagen ebenbürtige Aufmerksamkeit. Mehr ungewollte Provokation zum Dienstantritt ging nicht. Wenige Wochen später wurde das Auto verkauft, es liess sich keine Garage finden, in die man es ohne fahrerische Höchstleistung im Millimeterbereich einparken konnte.
Die Kette der Missverständnisse riss nicht ab. Für die Mitglieder des Gemeinderates und für zahlreiche Mandatsträger war das Verhalten des Polizisten anmassend und dreist. Sein alltäglicher Auftritt in den Strassen des überschaubaren Dorfes wirkte ungewohnt, fremd. Ausser der auf beiden Seiten mit einem feinen Streifen versehenen Hose verwies nichts auf die Amtsperson, der dunkelblaue oder graue Kittel wirkte immer etwas zu knapp, die steife Uniformmütze fehlte vollends. Was den Behörden missfiel, schätzten die Menschen. Sie mochten ihn, sie suchten seinen Rat und die Gespräche gestalteten sich zusehends offener und unbefangener. Das Abbild des steifnackigen Dorfgendarmen verblasste, die neue Autorität benötigte zu ihrer Wahrung weder die Kopfbedeckung in den Staatsfarben noch die mit goldenen Blechknöpfen verzierte Uniformjacke, dessen Ledergürtel einzig dazu diente, die Pistole sichtbar zu tragen. Bis heute bleibt ungeklärt, wann und wo und welche Behörde beschlossen hat, drastische Massnahmen gegen den Ortspolizisten zu ergreifen, den sie als verkappten Sozialarbeiter verunglimpften. Das Polizeikommando, die seit mehr als zwanzig Jahren vorgesetzte Stelle, begnügte sich mit mündlichen Ermahnungen an ihren Mann vor Ort, wieder einmal die Verordnungen und Weisungen zu lesen. Die Führungscrew hatte längst akzeptiert, dass der Korporal aus dem Rottal zu den monatlichen Rapporten beim Amtswachtmeister regelmässig die kleinste Anzahl an Strafanzeigen mitbrachte, dass er ein miserabler Schütze und gleichzeitig ein hervorragender Polizist war, dem die Menschen vertrauten. Die Gemeindevertreter fanden im Kommando nicht die erhoffte Unterstützung, sie hatten dennoch das Ziel, diesen Querulanten in Uniform disziplinieren zu können.
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Merkwürdige Vorkommnisse waren die Folge. Da war beispielsweise dieser prächtige Maitag, Licht und Wärme durchfluteten das Tal wie auch die Gartenwirtschaft des Landgasthofes «Eintracht», der wenige Kilometer abseits des Dorfkerns zahlreiche Menschen zum Verweilen und Geniessen einlud. Selbst Polizeibeamte spüren den Frühling und sind auch mal durstig. Mein Vater liebte den sauren Most, den dieses Restaurant exklusiv von einer Grossmosterei aus dem Thurgau bezog und der in wulstigen, braunen Bügelflaschen ausgeschenkt wurde. Bier verschmähte er zeitlebens. Der kurze Ausflug in den Frühling endete eher drollig als tragisch. Bei seiner Rückkehr in dem inzwischen auf einen Occasions-Renault geschrumpften Auto standen zwei Uniformierte vor seiner Wohnung und baten ihren Kollegen, sie in die Kantonshauptstadt zu begleiten und einer Blutentnahme zur Bestimmung des Alkoholpegels zuzustimmen. Das Ergebnis war negativ, der Denunziant aus dem Wirtshausgarten blieb anonym. Zeitgleich wurde ein weiterer Wohnungswechsel innerhalb der Gemeinde geplant. Der Mietvertrag für den Polizeiposten und die dazugehörige Wohnung wurde innert weniger Jahre dreimal gekündigt und die Familie zum Umzug gezwungen, ohne Mitsprache oder Anhörung. Mit in die neuen Unterkünfte zogen Ohnmacht und Enttäuschung. «Dreimal umgezogen ist so gut wie einmal abgebrannt!» Das Zitat Benjamin Franklins leuchtete von den neu bezogenen Wänden, obwohl es dort nicht geschrieben stand. In der Regel sind Buchweisheiten lähmend, oft aber vermögen sie verdeckte Wahrheiten und nicht gestellte Fragen unverblümt aufzuzeigen. Wurzeln schlagen war längst keine Option mehr, das genuine Gefühl «Hier bin ich zu Hause» erstickte in willkürlichen Verwaltungsakten und Sachzwängen. Selbst unserer siamesischen Katze «Thea» ging dieser Instinkt verloren. Nach den ersten beiden Revierwechseln orientierte sie sich entgegen ihrem natürlichen Wesen nicht an den ihr vertrauten Orten, sondern an den Menschen, die sie fütterten. Wenige Wochen nach dem Bezug der dritten Wohnung blieb sie für immer weg. Die ausgedehnte Suche nach dem rassenreinen Tier, die einzige Siamkatze in der Gemeinde, blieb erfolglos. Sie hat die bäuerliche Wildnis der Lust auf weitere Domizilwechsel vorgezogen - dachten wir.
Was schmerzt mehr, die getarnte Kleinigkeit oder die offene Fehde? Selbst die Landwirte streiten sich, ob die wenigen Krähen oder die vielen Spatzen ihre Ernten schmälern. Die Vorstellung, dass eine dörfliche Autoritätsperson mit wirkmächtigen, gesetzlichen Kompetenzen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt, irritiert nur auf den ersten Blick. Hier prallten lebenslang Welten aufeinander: Ein übersicheres Muss und ein untersicheres Sein, ein angepasster Untergebener und eine autonome Persönlichkeit, ein der Familie verpflichteter Mensch und ein rebellischer Charakter. Das Auseinanderklaffen dieser Welten blieb den Dörflern nicht verborgen. Immer mehr von ihnen hörten vom konfliktscheuen Polizisten, der sich lieber inmitten seiner ungezählten Bücher aufhält als kontrollierend über Parkplätze schlurft, der lieber Albert Camus liest als Strafanzeigen tippt. Die Gemeindebehörden schäumten geräuschlos. Mein Vater wusste, er findet weder in Rousseaus Gesellschaftsvertrag noch in Platons Staat Lösungen für seine schwierige Situation, die guten Freunde seiner Parallelwelt entspannten und trösteten ihn, helfen konnten sie nicht. Eine wirkliche Unterstützung war nirgends in Sicht. Die grossen Psychologen der Weltliteratur wie Nietzsche und Dostojewski wurden zu Begleitern auf dem Rückzug. Die Auseinandersetzung mit ihren Ideen und Sichtweisen ersetzten viele menschliche Kontakte, verwischten die einsamen Gefühle des Fremdseins und der Ohnmacht. Kluge Analysen über die Auswirkungen permanenter Ohnmachtsgefühle füllen heute die Bücherregale, in der Bibliothek meines Vaters existierten keine Publikationen dieser Provenienz.
Mein Vater hatte keine Berufsausbildung, die wirtschaftliche Not der Dreissigerjahre nötigte ihn, als Hilfsschreiner in der Möbelfabrik zu arbeiten und seine Eltern und die jüngeren Geschwister finanziell zu unterstützen. Der elterliche Hof, der in der Waldlichtung an einem steilen Hügel klebte und aus fünf Ziegen und einem grossen Garten bestand, ernährte keine Familie, für eine Ausbildung der Kinder fehlte das Geld. Der junge Mann fand in der Fabrik gelangweilte, aber auch politisch interessierte Kollegen und gute Freunde. Sie erörterten mit ihm gesellschaftliche, aber auch Fragen der Gerechtigkeit und der ökonomischen Missverhältnisse. Die Gewerkschaften luden sonntags ein zu Lesegruppen für Arbeiter, die jungen Menschen hörten zum ersten Mal die Namen von Proudhon und Lassalle, Bebel und Marx. Ideale Welten blühten auf, neue Impulse erleichterten wohl die harte Arbeit in der Fabrik und auf dem Heimetli, nicht aber die persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Chance, diese hinter sich zu lassen, kam kurz vor dem zweiten Weltkrieg, mein Vater bewarb sich erfolgreich als Polizeianwärter, zusammen mit mehr als 600 weiteren Kandidaten. Was bedeutete dieser Erfolg? Das grosse Glück oder der Tod grosser Träume? Er absolvierte die Ausbildung für den Polizeidienst, startete ein bürgerliches Beamtenleben, heiratete und versorgte seine Familie vorzüglich. Und doch vermochten die stabilen finanziellen Verhältnisse zeitlebens die Zweifel nicht zu bändigen, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Die wirtschaftliche Not von damals prägte seinen Charakter weit mehr, als er zuzugeben bereit war. Sich als Akteur erleben, sich als Subjekt seiner Kräfte empfinden und diesen Kräften nicht entfremdet sein, keine fremden Masken aufsetzen müssen und keinen zu irgendwelchen Götzen erhobenen Institutionen folgen - ein verpflichtendes Lebensmotto. Der gute Polizist ist, bei aller inneren Zerrissenheit, vor allem ein Mensch. Er lebt zufrieden als eine auf die Mitmenschen bezogene Persönlichkeit und akzeptiert, dass einmal sein angepasstes, ein andermal sein rebellisches Ich sich dem normativen widersetzen. Die Seins-Orientierung zeichnet ihn aus, die Aversion gegen Uniformen und Pistolengürtel bleibt ein ulkiges Fragment.
Inzwischen liegt das Spitalzimmer im Licht der Morgensonne. Der pensionierte Polizist erholt sich in seinem Bett, das Gefühl, in Sägespänen zu liegen, lässt ihn nicht los. Frühstücken tut er seit langem nicht mehr, der ihm täglich mehrfach verabreichte, zähflüssige Brei ist ihm zuwider. Er wird über eine Magensonde mit Stöpsel ernährt, die routinierte Vorgehensweise der Pflegehilfskräfte erinnert ihn daran, wie er vor Jahren seine amerikanische Grosslimousine tankte. Der einst zu leichtem Übergewicht neigende Mann wiegt noch knapp fünfzig Kilogramm, seine schon längst schütteren Haare sind noch karger geworden, einzig die blauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren. Die Tage verbringt er grösstenteils im Stuhl, der in der Ecke neben dem Fenster steht. Dieser hat eine hohe Lehne, ist gut gefüttert, mit blauem Plastik überzogen und wird an guten Tagen mit einer Decke wärmer und weicher hergerichtet. Die guten Tage werden durch das Pflegepersonal verordnet und zeichnen sich zusätzlich zur Decke dadurch aus, dass der Patient über seine mitgebrachte Schiefertafel mit Kreide verfügen darf, um Bedürfnisse oder Wünsche aufzuschreiben, vielleicht auch mal seinem subtilen Zynismus zu frönen. Welche Ausdrucksweise bleibt einem Menschen, der zu jeder Zeit klar im Kopf und warm im Herzen ist, der differenziert denkt und feinsinnig fühlt und gleichzeitig stumm dem Tod entgegen segelt? Seine Spottlust hilft ihm zu leben, selbst wenn der Himmel einstürzt, sind noch nicht alle Spatzen tot!
Kurz und bestimmt klopft es an der Tür und nach wenigen Momenten tritt ein älterer, gepflegter Herr unaufgefordert in das Zimmer. Er bleibt in der Raummitte unruhig stehen, schaut sich suchend um, sein Blick findet das leere Bett, er dreht sich wieder zur Tür und - blickt in die Augen meines Vaters in seinem blauen Stuhl. Der Herr Gemeindeammann wirkt nervös, seine Hände nesteln am mitgebrachten Päckchen und er entschuldigt sich bei dem abgezehrten Mann für die Störung. Er suche den ehemaligen Polizisten seines Dorfes und vielleicht könne er ihm die Zimmernummer verraten? Der Mann im Stuhl bleibt stumm, der Gast lässt es sich deutlich anmerken, wie unhöflich und dreist er ihn aufgrund der verweigerten Antwort einstuft und verlässt die kleine, letzte Welt meines Vaters, bevor dieser ihm seine Identität eröffnen kann. Die Katze «Thea», diese schöne und stolze Siamesin, wurde wenige Tage später gefunden. Der Bauunternehmer, der seinen Lagerplatz gegenüber dem Polizeiposten räumte, fand ihren mumifizierten Kadaver unter einem Holzstapel, eingerollt, den Brustkorb durchbohrt mit der Kugel aus einem kleinkalibrigen Gewehr. Mein Vater starb 1982.