Editorial

Das Fremde ist lebenslang Quelle menschlichen Lernens.

Isabelle Thoresen
Liebe Leserinnen, liebe Leser.
„Das Fremde ist lebenslang Quelle menschlichen Lernens.“ Das war eine der Konklusionen, die Prof. Dr. Lena Lämmle an ihrem Referat an der GV der DSGTA zog. Mir gefällt diese Aussage und ich finde es sehr spannend, jedes Wort in den Kontext des Fremden zu stellen: Lebenslang gibt es Erfahrungen, die neu sind, die uns immer wieder herausfordern, ja sogar unsere letzte Erfahrung in diesem Körper ist vermutlich eine der fremdartigsten. Das Fremde ist eine Quelle. Während eine (Wasser)Quelle im Grunde genommen eigentlich ja auch etwas Fremdes symbolisiert, nämlich Wasser, das scheinbar aus dem Nichts aus dem Boden fliesst, ermöglicht sie dort Leben. Ein Quell ist auch Inspiration: Fremdes – sofern es im richtigen Mass aufgenommen werden kann (und uns nicht masslos überfordert) – inspiriert, befruchtet, gibt neue Ideen, neue Sichtweisen. Das Fremde ist aber in gewisser Hinsicht auch etwas zutiefst menschliches, denn es beinhaltet eine Bewertung. Kein anderes Lebewesen dieser Welt beurteilt (scheinbar) Fremdes so eigenartig wie der Mensch. Und das Fremde lässt uns lernen, Entwicklung geschieht immer an der Grenze zum Unbekannten, zum Neuen.
In diesem info umkreisen wir das Fremde aus verschiedenen Perspektiven. Wie steht das Fremde zum Vertrauten? Inwiefern benötigen sich diese zwei Gegensätze, damit Entwicklung geschehen kann? Warum löst Fremdes das Gefühl von Fremdsein aus und warum macht uns Fremdes so leicht Angst? Was passiert mit uns, wenn wir mit Fremden konfrontiert sind? Was geschieht, wenn uns die Eltern fremd werden, weil sie eine Demenz entwickeln? Und – was ist der Reiz des Fremden, beispielsweise beim Reisen? Wann beginnt sich der Bezugsrahmen zu verändern? Über diese Fragen haben sich die Autorinnen und Autoren der aktuellen Schwerpunktbeiträge Gedanken gemacht. Garniert ist dieser bunte Blumenstrauss mit einem irritierenden Fremdkörper, der aneckt. Nicht zuletzt, weil selbst der feine Humor in dieser Geschichte fremdartig wirkt.
Mit dem kommenden info (Herbstausgabe 2019) werden wir einen weiteren Schritt in die Fremde machen. Ziel davon ist, Nähe zu schaffen. Nähe zur Romandie. Im nächsten info werden wir die Schwerpunktartikel gemeinsam mit ASAT-SR publizieren. Zur Hälfte in Französisch. Und nur noch in digitaler Form. Wir wagen diesen Schritt, weg vom Vertrauten, Geschätzten. Weg von der Tradition des Papiers. Hin in eine neue Welt, in welcher sich neue Möglichkeiten auftun, Möglichkeiten, die unseren Bezugsrahmen erweitern und Quelle neuer Ideen sein werden.

Ich wünsche Euch viel Inspiration und neue, bereichernde Gedanken.

Schwerpunktthema

Das Fremde

„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten und kommt damit in die Mitte.“ (C.G. Jung)
Das Fremde ist immer anwesend, das Eigene auch. Interessant ist, dass mir zum Begriff des Fremden kein Gegenteil einfällt. Das Bekannte? Das Vertraute? Das Eigene? Nein, auch das Fremde kann mir bekannt und vertraut werden, auch im Fremden kann ich Eigenes entdecken. Und das Eigene? Das ist mir natürlich vertraut, aber wenn ich mutig bin, dann erkenne ich in mir Anteile, die mir zwar vertraut sein mögen, die mir aber gleichzeitig immer auch etwas fremd sind. Und immer wieder finde ich in mir Anteile, Bestrebungen, Bedürfnisse, Ängste, die mir neu sind und bis dato mir selber verborgen, eben fremd waren.
Braucht es überhaupt ein Gegenteilpaar? Es braucht dann eines, wenn ich in Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse, Richtig oder Falsch aufteile. Wenn Komplexität reduziert werden muss, damit die Welt oder Teile von ihr überhaupt noch fassbar bleiben, ist es notwendig abzutrennen, auszuklammern, zu fokussieren. Im Moment des dualistischen Weltbildes braucht es Gegensatzpaare. Wenn diese Aufspaltung aber in Gefahr gerät, weil ich z.B. „als guter Mensch“ jemand anderen geschädigt habe, wenn das Fremde sich nicht mehr ausklammern lässt und auf einmal eine Wirkung entfaltet, dann entstehen oftmals schwer auszuhaltende Empfindungen wie Angst, Schmerz, Scham, Ohnmacht, Orientierungslosigkeit.
Ich ahne, dass es weder ein Gegenteil zum Fremden noch eines zum Vertrauten gibt, sondern dass beides nur Anteile eines komplexen Ganzen sind, die sich sogar ineinander umwandeln können. So z.B., wenn die Eigenart des Einen dem Anderen zuerst fremd, eigenartig und später liebenswert vorkommt. Das nennt man dann wohl Integration des Fremden. Gleichzeitig könnte man es aber genauso Integration des Eigenen (in etwas Grösseres) nennen.
Das Eigene. Was macht das Eigene aus? Individualität, Einzigartigkeit und Identität sind Begriffe, die mir hier einfallen. In den Momenten, in denen ich mir meiner Einzigartigkeit bewusst bin, bin ich mir auch meiner Unterschiedlichkeit zu Anderen bewusst. Das kann dann heissen, dass die Anderen mir in dem Moment fremd sind, muss es aber nicht. Einzigartigkeit ist ein Teil der Identität von Menschen und sie konstruiert sich auch durch Unterscheidung. Wenn man auf das Spüren der eigenen Identität fokussiert, dann braucht es nicht nur Unterschiedlichkeit, sondern auch das Fremde. In dem Moment, in dem ich mich mit Anderen identifiziere, z.B. um nachempfinden zu können, was diese fühlen, mache ich mich gleich und verliere meine Identität. Die Eigenheit einer Person oder sozialen Gruppe kann also erst an der Unterscheidung zum Anderen empfunden werden.
Dieses Phänomen wird immer wieder bei Jugendlichen deutlich, die sich abgrenzen, anders sein wollen, um das Gefühl einer anderen, besonderen Zugehörigkeit zu ihren Peers herzustellen. Zum einen entwickeln die Jugendlichen unter sich eine andere Sprache. Die eigene Kommunikation definiert das soziale Subsystem. Nur wer genau diese Sprache spricht, der gehört dazu. Die eben noch akzeptierten Eltern werden dann in dieser Sprache als „Spiesser“ angesehen, indem ihnen bestimmte Eigenschaften oder Vorlieben zugeschrieben werden, die man selber ablehnt. So bildet sich die eigene Identität über den Weg eines „anderen, sich unterscheidenden Erwachsenen“ heraus.
Ich selber bin Deutscher und lebe in der Schweiz, meiner Wahlheimat. Ich bemühe mich um Integration, möchte sozial akzeptiert sein und dazugehören. Was läge da näher, als die Sprache zu lernen? Dies aber ist ein Punkt, an dem ich immer wieder auf eine mehr oder weniger subtile Form von Ablehnung bzw. Ausgrenzung stosse. Ich bekomme immer wieder mit unterschiedlichen Begründungen gesagt, ich solle doch gar nicht erst anfangen, „Schwiizzerdütsch z'redde“. Fremden aus anderen Regionen gegenüber hat man in der Regel diese Einstellung nicht, fordert häufig sogar, dass diese Mundart lernen. Wenn man weiss, dass Sprache Zugehörigkeit definiert, wenn man weiss, dass Deutsche und Deutschschweizer sehr viele Gemeinsamkeiten haben und wenn man weiss, dass das Schweizerdeutsch erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder die Sprache aller Deutschschweizer, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit, wurde, so liegt die Vermutung nahe, dass die Motivation der Reaktionen auf mein Sprachlernen in einer Bewahrung der eigenen Identität als Abgrenzung zu Deutschland beruht.
Soziale Systeme, z.B. Bevölkerungsteile, IT-Abteilungen, Liebespaare, Transaktionsanalytiker, brauchen ihre eigene Sprache als Abgrenzung zum Fremden, um eine eigene Gruppen-Identität („Wir-Gefühl“) zu entwickeln. Das Andere und das Fremde haben also nicht nur einen Existenzanspruch an sich, sondern sind notwendig, um das Eigene empfinden zu können. Gleichzeitig ist es notwendig, dass die einzelnen Personen sich innerhalb dieses sozialen Systems über eine kritische Distanz ihre Einzigartigkeit be-wahren, damit sich das System überhaupt lernend weiterentwickeln kann. So tragen sowohl die teilweise Ausgrenzung als auch die teilweise Integration des Fremden zum Überleben eines sozialen Systems bei.
Lernen bzw. Persönlichkeitsentwicklung kann im weitesten Sinne als Aneignung und Integration von etwas Neuem und/oder etwas Ungekonnten definiert werden. Egal, ob das Lernen von etwas Neuem bewusst oder unbewusst verläuft, es braucht auf jeden Fall einen Anschluss an das Vorhandene, um gelernt werden zu können (Hüther 2016). Dieser Anschluss wird darüber hinaus durch eine Sinnhaftigkeit gesteuert. Das Lernen von etwas Neuem muss Sinn machen, sonst lernen wir es nicht nachhaltig. Hat das Fremde keinen Anschluss, so wird die (meist verordnete) Integration als überfordernd erlebt!


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Im Bezug zum Thema dieses Artikels ergibt sich daraus also die Frage: „Ist das jeweils Fremde anschlussfähig an meinen Bezugsrahmen und macht die Integration dessen Sinn für mich?“ Diese Fragen markieren für mich die Grenze der Integration des Fremden bzw. die Grenze des Selbsts zu einer gegebenen Zeit.
Was bedeutet dies alles nun für uns als professionelle Begleiter/innen von Menschen? Ich möchte diese Frage im Folgenden hauptsächlich in den Kontext der Einzel- und der Paarberatung stellen.
Egal, in welchem Zusammenhang und Setting wir Menschen begleiten, wir werden in der Regel langsam miteinander vertraut und bleiben uns gleichzeitig fremd. Zwei Fremde, die sich immer mehr lernen können und sich nie wirklich wissen werden. Genau das ist für mich das Spannende an der Persönlichkeitsentwicklung. Auch nach so vielen Jahren ist es immer wieder herausfordernd für mich, eine Entwicklung fördernde Wirkung an einer Stelle in einem Beratungsprozess zu haben, an dem für alle Beteiligten klar ist, dass die Lösung ausserhalb des eigenen Bezugsrahmens liegt. In die-sem Sinne ist Persönlichkeitsentwicklung oder die gemeinsame Entwicklung eines Paares die Integration fremder Aspekte, indem diese an etwas Eigenem Anschluss finden, was dann insgesamt etwas Neues ergibt. Das bedeutet aber auch, dass das Fremde nicht so fremd sein darf, dass es keinen Anschluss findet. Beispielsweise kann jemand, der in einer Familie mit weitgehender Harmonie aufgewachsen ist, nicht nachfühlen, wie sich eine Paarbeziehung sicher anfühlen kann, wenn der Zusammenhalt auf ständigen Konflikten basiert. Das ist dann zwar verstandesmässig zu erfassen, nicht aber emotional. So wird der/dem Professionellen in der Begleitung eines Klientensystems immer einiges fremd bleiben. Das zu akzeptieren ist sehr wichtig, um die Klienten respektvoll begegnen zu können.
Eine wichtige Frage für unsere Professionalität lautet also: „Was muss mir (bewusst und unbewusst) fremd bleiben, damit meine Identität nicht zu stark bedroht wird?“ „Was ist so wichtig für meine Identität, dass es als fremd definiert bleiben muss und was darf integriert werden?“ Dieses gilt sowohl für das Klientensystem als auch für die/den Professionelle(n)! Schon Peter Schellenbaum (1986) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Prozess der Nichtintegration des Fremden eben auch teilweise anzustreben ist. In seinem bekannten Buch „Das Nein in der Liebe“ setzt er sich für Abgrenzung in Liebesbeziehungen ein. Er plädiert dafür, sich dem anderen mit seinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten zuzumuten, dem Partner aber nicht die Verantwortung der Erfüllung dieser aufzubürden. Wenn das paarweise gelingt, dann stehen zwei Menschen miteinander in Verbindung, in der jeder seine Identität behält. Dieses ist in Schellenbaums Augen die Voraussetzung dafür, dass die Partner sich gegenseitig ein Leitbild für ihre eigene Entwicklung werden können („Leitbildspiegelung“). Erst diese Rücknahme der Projektionen in Bezug auf das „Befremdliche“ lässt Menschen das Gegenüber sehen, wie es ist, so dass Zusammengehörigkeit entstehen kann.
Noch ein Beispiel aus meiner Arbeit als Paarberater: Sie beklagt sich über seine emotionale Verschlossenheit, die sie als „Gefühllosigkeit“ bezeichnet. Er solle sich ändern, sonst beendet sie die Beziehung. Ich erlebe den Mann auch als emotional verschlossen, oder besser ausgedrückt, als hilflos im emotionalen Ausdruck. Gleichzeitig wirkt er auf mich sehr zugewandt und liebevoll seiner Frau gegenüber. Diese bestätigt meine Empfindung auch, beharrt aber darauf, dass ihr Mann „emotional unterentwickelt“ und „empathielos“ sei. Sie wiederum trägt Gefühle zu Markte und hat die Tendenz, diese gross zu machen, um das Gefühl des gesehen werden zu bekommen. In diesem Dramatischen wirkt sie zwar sehr emotional, zeigt sich aber nicht wirklich mit ihrer Angst - genau wie ihr Mann. Dieser hat nur den gegenteiligen Weg des Minimierens gewählt. Erst als die Frau dieses zu sehen beginnt, wird sie ihrem Mann gegenüber weicher und fängt an, ihn emotionaler wahrzunehmen. Beiden bleibt der emotionale Umgang des Partners zwar fremd, aber sie erkennen, wofür der jeweils Andere jedem ein Leitbild der eigenen Entwicklung sein kann.
Transaktionsanalytisch betrachtet entsteht in diesen Momenten eine Bewusstheit beider Partner über das Zusammengehören und ihre wechselseitige Abhängigkeit von einander (Symor 1992).
Das Fremde an sich muss also kein Problem sein, entscheidend ist der Umgang damit. Frei nach dem oberen Zitat von C.G. Jung könnte man sagen: „Wer zugleich das Eigene und das Fremde wahrnimmt, der sieht die Welt von zwei Seiten und kommt damit in Bezug zu ihr, so dass er sie im Rahmen seiner Möglichkeiten erwachsen gestalten kann.“

Literaturangaben:
Buber, M. (2008), Ich und Du. Stuttgart: Reclam.
Cornell, W.F. / Landaiche, M., Engpass und Intimität in der Paar-Beratung, Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 24
Garz, D. (2008), Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Hendricks, G. / Hendricks, K. (2004), Liebe macht stark. München: Goldmann
Hüther, G. (2016), Mit Freude lernen – ein Leben lang. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Kast, V. (2000), Der Schatten in uns: die subversive Lebenskraft. Zürich und Düsseldorf: Walter
B. SCHÄFER / B. SCHLÖDER: Identität und Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte der Eingliederung und Ausgliederung des Fremden
Peter Schellenbaum, P. (1986), Das Nein in der Liebe. München: dtv
Symor, N. K. (1992) in: Kottwitz, G. und Lenhardt, V., Integrative Transaktionsanalyse. Band 1, Berlin: Institut für Kommunikationstherapie