Vom Ich zum Wir – Nutzen der TA für die interne Kommunikation
Meine Berufserfahrung als Kommunikationsverantwortliche zeigte, dass die interne Kommunikation oft vor einem funktionalen Hintergrund verstanden wird. Dieser funktionale Ansatz hebt technische Elemente hervor und beschreibt interne Kommunikation als Informationstransfer und Prozesse innerhalb einer Organisation. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, gleicht eine Organisation einer ,Kiste‘ bestehend aus einem System von Kommunikationskanälen, in welchen Informationen kodiert und dekodiert werden(4). Ein solcher funktionaler Ansatz ignoriert subjektive und kulturelle Einflüsse bei der Übermittlung von Informationen(5).
Der bedeutungszentrierte Ansatz beschreibt, wie Leute in einer Organisation miteinander in Beziehung treten und gemeinsam Kultur schaffen. Der Fokus liegt dabei auf zwischenmenschlichen Beziehungen, Netzwerken und interpersonellen Dynamiken. Demzufolge gibt es keine Organisation, sondern Menschen, die fortlaufend miteinander interagieren und kontinuierlich Ereignisse schaffen. Das heisst, dass Individuen durch Interaktion mit anderen in einem ko-kreativen Prozess gemeinsame Sprache, Realitäten und Weltbilder erschaffen und gestalten.
Als Kommunikationsverantwortliche erlebte ich, wie die interne Kommunikation einer Organisation gänzlich vernachlässigt wurde, nach dem Motto, interne Kommunikation beginnt, wenn man mit der externen fertig ist. Probleme in der internen Kommunikation wurden in jener Organisation durch ungelöste Konflikte und Krankheitsabwesenheiten von Mitarbeitenden sichtbar.
Eine andere Organisation hatte die Tendenz, interne Kommunikation auf technische Aspekte zu reduzieren. Zum Beispiel wollte man die im Leitbild verankerten Werte umsetzen, indem man sie auf die Kaffeetassen der Mitarbeitenden druckte. Eine andere Vorstellung war, transparente interne Kommunikation herzustellen, indem man in der Cafeteria einen Bildschirm mit der Sitzungsagenda aufschaltete. Schliesslich wurde ich beauftragt, ein internes Kommunikationskonzept zu erarbeiten. Dabei war die Antwort auf meine umfassende Situationsanalyse, ich solle kein Doktorat, sondern lediglich ein Konzept für einen internen Newsletter schreiben. Mir war klar, dass ein Newsletter alleine zu kurz greifen würde, um die interne Kommunikation der Organisation zu verbessern – und entschied mich fürs Doktorat.
Es war ein Glücksfall, in Kontakt mit einer Organisation mit rund 300 Mitarbeitenden zu kommen, welche seit über 20 Jahren TA als strategisches Tool einsetzt, um die externe Kommunikation mit ihren Kunden, den Stellensuchenden, zu optimieren. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass TA, einmal verinnerlicht, in unterschiedlichen Lebensbereichen angewandt werden kann (9). So untersuchte meine Forschungsarbeit in dieser Fallstudien-Organisation den Einfluss der jahrelangen TA-Anwendung auf die interne Kommunikation und ging der Frage nach, ob und wie TA helfen kann, interne Kommunikation zu verbessern.
TA geht davon aus, dass ein Kind mit einer ,Ich bin OK/Du bist OK‘ Position, auch ausgedrückt als OK/OK (+/+), geboren wird. Negative Erfahrungen können jedoch dazu führen, dass eine Person ihre Lebenseinstellung ändert in ,Ich bin OK/Du bist nicht OK‘ (+/-), ,Ich bin nicht OK/Du bist OK‘ (-/+) oder ,Ich bin nicht OK/Du bist nicht OK‘ (-/-) (12). Anhand dieser vier Lebensgrundpositionen entwarf Ernst(13) den ,OK-Corral‘ in der Form eines geviertelten Quadrates. Hay(14) benannte die vier Lebensgrundpositionen als ,Fenster‘, durch welche Individuen die Welt betrachten. Schliesslich fügten Mountain und Davidson (15) dem OK-Corral eine dritte Dimension hinzu (Abb. 1): das ,Sie‘, die Anderen (neben dem Ich und Du). Diese dritte Dimension kann eine oder mehrere Personen, z. B. ein Team, umfassen.
Insgesamt kann das Grundprinzip ,Menschen sind OK‘ und seine erweiterten Formen als Framework für die Analyse von Interaktionen in Organisationen auf allen Ebenen verwendet werden.
Im 2017 besuchte ich die Fallstudien-Organisation, um Daten für meine Forschungsarbeit zu sammeln. In der Feldarbeit erklärte mir Esther* im Interview, wie sie als Personalberaterin anhand des OK-Corrals ihr OK-Sein jeden Morgen selber überprüft, um fit fürs Gegenüber zu sein. Sie merke dabei, wenn sie auf mehr Schlaf, eine ausgewogenere Freizeitgestaltung oder gesündere Ernährung achten sollte.
Das Selbst kann als komplexes System von Prozessen, Überzeugungen und Zuständen definiert werden, aus welchen verschiedene Konstrukte entstehen wie Identität, Selbstkonzept und Selbstbild(19). Die intrapersonelle Kommunikation betont biologische und psychologische Prozesse, die bei der Verarbeitung von Informationen vor, während oder nach der Formulierung einer Nachricht im Kopf und oftmals im ganzen Körper ablaufen. Das Selbstkonzept und die individuelle Kommunikationsfähigkeit haben einen Einfluss auf die Interaktion von Personen(20). Das heisst, wie Menschen sich selbst sehen, beeinflusst die Art und Weise, wie sie mit anderen kommunizieren. Eine positive Selbsteinschätzung kann der Beginn einer bejahenden Kommunikation mit dem Gegenüber sein und die Beobachtung, wie andere auf einen selbst reagieren, gibt Aufschluss über das eigene Kommunikationsverhalten.
Angewandt im Kontext der internen Kommunikation könnte ein Beispiel für eine schädliche Lebensgrundposition ein Vorgesetzter mit der Einstellung sein ,Ich bin hier der Chef und Du nur der Angestellte‘ (+/-)(21). Eine solche Haltung ist nicht produktiv. Kurt, ein Teamleiter, erklärte mir im Interview, wie ihm das OK/OK-Konzept im Führungsalltag hilft, wertschätzende Mitarbeitendengespräche zu führen.
Es gibt verschiedene Modelle, die Führungskräfte dabei unterstützen, Mitarbeitende zu motivieren. Mit Metaphern ausgedrückt, gibt es den ,Pfeil‘-Manager, der den Mitarbeitenden Anweisungen gibt, den ,Kreis‘-Manager, der ihnen zuhört und kulturelle Aspekte innerhalb der Organisation hervorhebt und den ,Tanz‘-Manager, der auf die Ansichten der Mitarbeitenden eingeht, gut mit ihnen verhandelt und in der Lage ist, Verhalten zu antizipieren(22). Studien zeigen, dass bidirektionale Führungsstile wie der Kreis und Tanz am effektivsten sind, um das Engagement von Mitarbeitenden und ein positives Kommunikationsverhalten zu fördern(23). Ein Dialog im OK/OK-Modus unterstützt eine solche Zwei-Weg-Führung.
Schliesslich zeigte sich in verschiedenen Gesprächen, wie sich in der Fallstudien-Organisation anfänglicher Widerstand gegen obligatorische TA-Schulungen im Laufe der Jahre aufgelöst und sich die Organisationskultur durch langfristige TA-Anwendung verändert hat. Dabei liegt der Fokus auf sorgsamem Umgang miteinander, Wertschätzung und Konfliktbewältigung. Annebeth, eine Teamleiterin, vertraute mir an, wie sie TA in ihrer Organisationseinheit heute erlebt.
Solche kulturell verankerten allgemeingültigen Annahmen müssen kritisch untersucht und ihre Legitimität in Frage gestellt werden(24). Ein zentraler Punkt dabei ist, wie der Übergang zwischen anfänglichem Widerstand und gegenwärtiger selbstverständlicher Übernahme stattgefunden hat und ob dieser Übergang durch ethisches Verhalten oder durch allfälligen Machtmissbrauch und Druck erreicht wurde. Die Fallstudien-Organisation wies eine Reihe von Massnahmen auf, welche einen ethischen Umgang mit Widerstand belegte, wie gegenseitiger Austausch bei Meinungsverschiedenheiten, die Freiwilligkeit des weiterführenden TA-Trainings und die zusätzliche Einführung des Lösungsorientierten Beratungsansatzes, um Mitarbeitenden eine Option zu TA zu bieten.
Für die erfolgreiche Anwendung von TA in einer Organisation braucht es gemäss den Leitungspersonen Mitarbeitende, welche eine humanistische Grundhaltung und Offenheit für persönliche Entwicklung mit sich bringen. Dies sind Themen, die bereits bei der Rekrutierung angesprochen werden sollten. Mitarbeitende ihrerseits nehmen das TA-Schulungsangebot insgesamt als Wertschätzung und ,Geschenk‘ wahr, wobei es ihnen wichtig ist, dass ihre Vorgesetzten ebenfalls regelmässig TA-Schulungen besuchen und nach den Grundsätzen der TA führen. Im Endeffekt scheint es die wertschätzende Haltung sich selber und anderen gegenüber sowie der respektvolle Umgang untereinander zu sein, welche den Unterschied zwischen dieser und vergleichbaren Organisationen ohne TA-Anwendung ausmachen.
Das dreidimensionale OK-Sein von Mountain und Davidson(26) ist hilfreich für die Analyse der internen Kommunikation in Teams und der Organisation als Ganzes. Die beste Ausgangslage ist geschaffen, wenn alle drei Dimensionen OK sind: Ich, Du und Sie. Bei einem Besuch der Fallstudien-Organisation stiess ich auf eine Türbeschriftung, welche den Nutzen der TA-Anwendung auf allen Kommunikationsebenen versinnbildlicht und die drei Dimensionen veranschaulicht. Es ist ein Magnetknopf und ein Plüschvogel an der Bürotür von Patrick, einem Personalberater (Abb. 2).
Patrick erklärte mir seine Bürotür folgendermassen: Jedes Mal, wenn er das Büro betritt, erinnert ihn der Vogel daran, sich auf das Positive zu konzentrieren und lösungsorientiert zu denken. Dabei bedeutet der Vogel für ihn Leichtigkeit auf der intrapersonellen Ebene des Selbst und ermahnt ihn, positiv zu bleiben, auch wenn Dinge schieflaufen. Die handschriftlich erstellten Symbole auf dem Magnetknopf fordern Patrick auf, selbstreflexive Momente zu nutzen. Die Kreise und Pfeile symbolisieren dabei die Ich-Zustände mit Fokus auf die Kommunikation im Erwachsenen-Ich und +/+ steht für die angestrebte konstruktive Lebensgrundposition. Die Anwendung der Ich-Zustände und Lebensgrundpositionen helfen Patrick, sich seines Denkens, Fühlens und Verhaltens bewusst zu werden, so dass er allenfalls Massnahmen ergreifen kann, wenn für ihn etwas nicht stimmt. Hinter dem Magnet steht zudem eine Abmachung im Team: Ist der Magnet an der Tür (und nicht am Türrahmen) befestigt, bedeutet dies, Patrick möchte ungestört sein.
Schliesslich verdeutlichen die Zeichen auf dem Magnet auch die gemeinsame TA-Sprache, welche Patrick in internen TA-Kursen gelernt hat und er in der Kommunikation mit seinen Berufskolleginnen und Vorgesetzten anwendet. Diese gemeinsame Sprache besteht aus TA-Vereinbarungen, welche Menschen mit TA-Hintergrund allgemein verstehen. Dieser Umgang mit TA ist in der Fallstudien-Organisation auch Teil der Strategie und Vision, welche den Menschen ins Zentrum setzt. Die gemeinsame TA-Sprache schliesst die humanistische Grundhaltung im Umgang mit ein. Insgesamt illustriert Abb. 2 den Fokus auf die Kommunikation auf Augenhöhe und auf ,Ich bin OK/Du bist OK‘, wobei eine Win-Win-Situation für die Mitarbeitenden und für die Organisation entsteht.
Ein durch TA gestärktes Ich kann zwischenmenschliche Beziehungen positiv beeinflussen und die Grundlage für gemeinsame Werte schaffen. Dadurch können eine gemeinsame Sprache und Kultur als vereinbarte interne Kommunikationsgewohnheiten rund um die humanistischen Grundwerte des Menschen im Zentrum und ein gesundes Arbeitsplatzklima entstehen. Dies entspricht der Wirkung und dem Nutzen von TA für die interne Kommunikation eingebettet in die Organisationskultur.
1. Chang, H. (2008). Autoethnography as method. Left Coast Press.
2. Kalla, H. K. (2005). Integrated internal communications: A multidisciplinary perspective. Corporate Communications: An International Journal, 10(4), 302-314.
3. Shockley-Zalabak, P. (2014). Fundamentals of organizational communication (8th ed.). Pearson.
4. Cheney, G., Christensen, L. T., Zorn, T. E., & Ganesh, S. (2011). Organizational communication in an age of globalization: Issues, reflections, practices (2nd ed.). Waveland Press.
5. Downs, C. W., & Adrian, A. D. (2004). Assessing organizational communication: Strategic communication audits. Guilford Press.
6. Murray, K. (2013). The language of leaders: How top CEOs communicate to inspire, influence and achieve results. Kogan Page Publishers.
7. Maier, M., Schneider, F. M., & Retzbach, A. (2012). Psychologie der internen Organisationskommunikation. Hogrefe Verlag.
8. Rogala, A., & Bialowas, S. (2016). Communication in organizational environments: Functions, determinants and areas of influence. Palgrave Macmillan.
9. Nowak, R. C. (2011). Transaktionsanalyse und Salutogenese (Vol. 2). Waxmann Verlag.
10. Berne, E. (1961). Transactional analysis in psychotherapy: A systematic individual and social psychiatry. Grove Press.
11. Harris, T. A. (1967). I’m OK, you’re OK: A practical guide to transactional analysis. Harper and Row.
12. Cornell, W. F., de Graaf, A., Newton, T., & Thunnissen, M. (Eds.). (2016). Into TA: A comprehensive textbook on transactional analysis. Karnac Books.
13. Ernst, F. H. (1971). Ok corral: The grid to get-on-with. Transactional Analysis Journal, 1(4), 231-240.
14. Hay, J. (1993). Working it out at work: Understanding attitudes and building relationships. Sherwood.
15. Mountain, A., & Davidson, C. (2011). Working together: Organizational transactional analysis and business performance. Gower Publishing.
16. Welch, M., & Jackson, P. R. (2007). Rethinking internal communication: A stakeholder approach. Corporate Communications: An International Journal, 12(2), 177-198.
17. Rogala, A., & Bialowas, S. (2016). Communication in organizational environments: Functions, determinants and areas of influence. Palgrave Macmillan.
18. Wuersch, L. (2020). Transactional analysis in organisations: A case study with a focus on internal communication. Doctor of Philosophy, Charles Sturt University. Bathurst, Australia.
19. Lindgren, K. P., Neighbors, C., Gasser, M. L., Ramirez, J. J., & Cvencek, D. (2017). A review of implicit and explicit substance self-concept as a predictor of alcohol and tobacco use and misuse. The American Journal of Drug and Alcohol Abuse, 43(3), 237-246.
20. DeVito, J. A. (2016). The interpersonal communication book (14th ed.). Pearson.
21. de Graaf, A. (2016). Working climate: The influence of the weather on the workplace. In W. F. Cornell, A. de Graaf, T. Newton, & M. Thunnissen (Eds.), Into TA: A comprehensive textbook on transactional analysis (pp. 343-348). Karnac Books.
22. Clampitt, P. G. (2013). Communicating for managerial effectiveness: Problems, strategies, solutions (5th ed.). Sage Publications.
23. Kang, M., & Sung, M. (2017). How symmetrical employee communication leads to employee engagement and positive employee communication behaviors: The mediation of employee-organization relationships. Journal of Communication Management, 21(1), 82-102.
24. L’Etang, J. (2005). Critical public relations: Some reflections. Public Relations Review, 31(4), 521-526.
25. Cornell, W. F., de Graaf, A., Newton, T., & Thunnissen, M. (Eds.). (2016). Into TA: A comprehensive textbook on transactional analysis. Karnac Books.
26. Mountain, A., & Davidson, C. (2011). Working together: Organizational transactional analysis and business performance. Gower Publishing.
27. Chang, H. (2008). Autoethnography as method. Left Coast Press.
In Weiterbildung zur Transaktionsanalytikerin Organisation
Adjunct Lecturer and Researcher
School of Business | School of Information and Communication
Charles Sturt University, Bathurst NSW, Australia
lwuersch@csu.edu.au
Strukturelle Paar- und
Familienberatung und
TransaktionsanalyseBevor ich die TA kennen lernte, habe ich mich am 2-jährigen Lehrgang an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich in systemischer Beratung weitergebildet. Später wurde mir bald einmal bewusst, wie sich die beiden Lehren wunderbar ergänzen.
Die klassischen transaktionsanalytischen Modelle orientieren sich an der Primärfamilie, aus der im Individuum Grundüberzeugungen über sich selbst, die andern und das Leben schlechthin wachsen und mit in die Gegenwart wirken. Und diese Gegenwartsrealität kann ich in der Beratung mit Paaren und Familien direkt miterleben. Die Systemische Paar- und Familienberatung ist daher gegenwartsbezogen. Anhand des Funktionsmodells kann ich die Transaktionen beobachten und unmittelbar eingreifen.
Berne beschrieb bei der Gruppenstruktur die Hauptgrenzlinie (zwischen der Gruppe und der Aussenwelt) und die Nebengrenzlinien (Grenzen zwischen den Gruppenmitgliedern). Er unterscheidet einfache und komplexe Gruppenstrukturen.
Die Familie ist auch eine Gruppe, und man kann die Konzepte der Gruppenstrukturen von Berne übernehmen. Eine einfache Struktur wäre Eltern und Kinder, eine komplexe Struktur wäre zum Beispiel: Vater, Stiefmutter, Kinder der Stiefmutter und Kinder vom Vater.
Hierarchie - dieser Begriff ist leider oft sehr negativ besetzt. Das hat mit eigenen negativ erlebten Erfahrungen zu tun. In Wirklichkeit beschreibt die Hierarchie Verantwortlichkeiten der Rollen und dient der Sicherheit. In familiären Strukturen sind funktionale Hierarchien von grosser Bedeutung. Es ist einleuchtend, dass die Eltern die meiste Verantwortung tragen.
Anhand eines Beispiels aus meiner Praxis möchte ich aufzeigen, wie sich der Prozess vom Ich zum Wir bewegt, wie sich systemische Konzepte und TA ergänzen, wie sich dysfunktionale Gruppenstrukturen in Familien auswirken können und wie sie sich verändern lassen.
Die Familie XY (Ich nenne den Vater Bruno, die Mutter Ruth, den Sohn Willi)
Erstkontakt mit Bruno
Bruno meldete sich telefonisch; er habe Probleme mit seiner Frau und möchte ein Gespräch. Auf die Frage, ob er seine Frau zum Gespräch nicht mitnehmen wolle, antwortete er, nein, er wolle vorerst lieber allein kommen. Wir vereinbarten ein erstes Gespräch.
Erstgespräch mit Bruno
Bruno erzählte mir: wie seine Frau ihn überhaupt nicht mehr verstehe, wie misstrauisch sie sei und dass sie ihn immer wieder mit Vorwürfen überhäufe. Neulich habe er etwas zu viel getrunken und sich dann entschlossen, auf dem Parkplatz vor einem Restaurant im Auto zu übernachten. Zu Hause habe er dies erklärt, schliesslich sei das ja besser als alkoholisiert zu fahren, das habe ihm seine Frau aber nicht geglaubt. Sie habe angenommen, dass er bei einer anderen Frau war, und schon hätte es wieder Streit gegeben. Dauernd diese Streitigkeiten halte er nicht mehr aus, er gehe jeweils wieder weg und lasse sich dann tagelang nicht mehr blicken. Auch der Sohn, den seine Frau mit in die Ehe brachte, mache ihm Schwierigkeiten, er mache was er wolle, und er als Vater habe überhaupt nichts zu sagen. Ich erklärte mich für eine Beratung bereit, wenn er mit seiner Frau komme und gab ihm meine Unterlagen, um dies mit der Frau zu besprechen. Wir vereinbarten, dass er sich wieder meldet, wenn er diese Angelegenheit mit seiner Frau besprochen hat.
Hypothesenbildung
Es sind strukturelle Probleme vorhanden, wie sie in Stieffamilien gehäuft auftreten. Nämlich, dass zwischen dem leiblichen Elternteil und dem Kind eine symbiotische Beziehung zustande kommt, aus der sich oft eine Koalition gegen den Stiefelternteil bildet. Bruno hat massive Alkoholprobleme entwickelt. Das Aufrechterhalten der Alkoholspiele dient dazu, in der Passivität zu bleiben, anstatt Lösungen zu suchen. Die Vermeidungsstrategien dienen möglicherweise allen Familienmitgliedern und erhalten den Status Quo des familiären Systems, was auch heisst, dass jedes Familienmitglied seine Skriptüberzeugungen nährt und verfestigt.
Erstes Beratungsgespräch mit Ehepaar XY
Ich nahm mir für das 1. Gespräch vor, Vertragsarbeit zu machen und meine Hypothesen zu überprüfen. Ruth erweckte einen sehr misstrauischen Eindruck, vorauf ich sie ansprach. Sie erklärte, dass sie nicht mehr daran glaube, dass ihr Mann wirklich etwas verändern wolle, vielmehr sehe sie in seiner Motivation, in die Beratung zu kommen, eine Alibiübung. Sie habe bereits zum zweiten Mal die Scheidung eingereicht und da habe er jeweils versprochen sich zu ändern, es seien aber leere Versprechungen gewesen, die nur so lange anhielten, bis sie die Scheidung wieder zurückzog. Sie beklagte, dass der Mann zu viel trinke, manchmal tagelang nicht nach Hause käme, und dass sie nur noch Ekel für ihn empfinde.
Kommentar (Einladung zum Gerichtssaalspiel)
Es wurde mir in diesem Gespräch immer unwohler und ich denke, dass dies mit Spieleinladungen an mich zu tun hatte. Es bahnte sich allmählich ein Gerichtssaalspiel an.
Da beide Partner mit der Überzeugung kommen, dass ihre Problemdefinition die richtige sei, versuchen beide, den Berater für sich zu gewinnen und eben als Richter einzuspannen. Ich will nun versuchen, anhand einer kurzen Sequenz von Transaktionen darzustellen, wie Einladungen, in das Gerichtssaalspiel einzusteigen, an mich gerichtet wurden.
(Transaktion 1) Berater zum Bruno: "Ja, hockst du denn in den Beizen rum, weil du es zu Hause nicht schön hast?"
(Transaktion 2) Bruno zum Berater: "Was soll ich sagen, ......ich will dem Streiten ausweichen, ich mag nicht streiten, und......"
(Transaktion 3) Ruth zum Bruno: "Also weisst du, du musst es nicht so hinstellen. Dir ist es dann einfach egal".
(Transaktion 4) Ruth zum Berater: "Ihm ist dann alles egal, er geht dann nicht nur nicht heim, sondern geht dann auch nicht mehr zur Arbeit."
(Transaktion 5) Bruno zu Ruth: "Ich war schon am Arbeiten, ich war nur nicht im Büro, denn bei mir spielt es keine Rolle, ob ich im Büro bin oder nicht, da war ich eben auswärts auf einer Baustelle.»
(Transaktion 6) Ruth zum Bruno: "Erzähl doch keinen Unsinn, ich habe nämlich mit Y gesprochen, und ich weiss genau, dass Du nicht gearbeitet hast."
(Transaktion 7) Bruno, die Hände verwerfend an Berater: "Das ist wieder so etwas, das ist etwas, das mich rasend macht, wenn sie sagt ich hätte nicht gearbeitet. Ich habe nämlich immer 3-4 Baustellen zu betreuen, und sie kann ja gar nicht wissen, welche ich besuche. Ich weiss doch selbst, was ich tue. Auch wenn sie manchmal etwas felsenfest behauptet, das sie gar nicht wissen kann, dann bekommen wir zum Beispiel Streit, nur weil sie von ihrer Sicht dermassen überzeugt ist. Dann müsste ich im Prinzip lügen nur damit es nicht Streit gibt. Das ist etwas, was ich nicht begreife".
Kommentar
In der Transaktion 4 sprach mich Ruth auf der Eltern-Ich-Ebene an was eine ähnliche Atmosphäre ergab, wie wenn eine Mutter mit dem Berater über ihren unartigen Jungen spricht. Dadurch wollte sie mir zeigen, dass der Mann das Problem sei. Sie versuchte mich als Richter einzuladen, mich mit ihr gegen ihn zu verbünden. In Transaktion 7 versuchte auch Bruno, mich in die Rolle des Richters einzuladen.
An dieser Stelle möchte ich auf den Begriff «Allparteilichkeit» eingehen.
Allparteilichkeit
Die Arbeit mit Paaren und Familien braucht viel Geschick. Der Berater/die Beraterin muss darauf achten, nicht Partei zu werden. Das heisst, der Berater sollte für alle Teilnehmenden Partei sein und sich in die Bezugsrahmen der Einzelnen einfühlen Die marsische Haltung (Ich komme vom Mars und weiss nicht, was die Menschen hier tun) ist sehr hilfreich, dass sich alle verstanden und gehört erleben. Wenn der Berater Partei nimmt für eine Seite, dann muss er für einen guten Ausgleich sorgen. Gelingt dies nicht, wird die Beratung bald einmal von der Person abgebrochen, die sich nicht genug gesehen fühlt.
Der harte Vertrag mit Ehepaar XY
Es zeigte sich im Verlauf des Gesprächs, dass auch Ruth dazu neigte, in schlechten Stimmungen zu trinken. Wir konnten die Abmachung eingehen, dass beide in den nächsten Wochen ganz auf Alkohol verzichten. Der Vertrag 0,0-Alkoholkonsum für beide war wichtig, damit die Alkoholspiele unterbrochen wurden. Der Nutzen dieser Alkoholspiele war die Vermeidung, andere Problemkreise zu betrachten. Wir konnten den 0,0-Vertrag immer wieder erneuern und er wurde meines Erachtens eingehalten. So konnten wir vereinbaren, dass beide Partner nach unerledigten Geschichten suchten, sie aufschrieben und in je einen Briefumschlag versorgten. Diese unerledigten-Geschichten-Umschläge wurden dann nach Prioritäten nummeriert und jeweils an die Sitzungen mitgenommen. Auf diese Weise konnten wir allmählich auf die unter den Alkoholspielen verborgenen Problemkreise kommen.
Entscheidend wichtig war auch, dass das Paar während 30 Stunden an einer TA-Selbsterfahrungsgruppe teilnahm und dort an individuellen und Paar-Themen arbeitete.
Lebensgeschichtlicher Hintergrund von Ruth
Ruth ist 33 Jahre alt. Sie wurde als Älteste von 3 Kindern geboren und musste sehr früh Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen. Die Eltern betrieben zusammen ein kleines Geschäft und konnten daher wenig Zeit für die Kinder aufbringen. Ruth konnte sich erinnern, dass sie von der Mutter auch immer wieder den Leuten vorgezeigt wurde, wie vernünftig, verantwortungsbewusst und vorbildlich sie doch sei. Mit 15 Jahren wurde sie schwanger und gebar einen Sohn. Dieses Erlebnis war für sie sehr einschneidend. Sie wurde von der Schule verwiesen und kann noch heute die verurteilenden Blicke gefühlsmässig erinnern. Als sie 16 Jahre alt war, erlebte sie die Scheidung ihrer Eltern. Loyalitätskonflikte kamen nun noch dazu. Sie war auf die Mutter angewiesen, die, während sie einer Arbeit nachging, zum kleinen Sohn schaute. Beide Eltern benutzten sie, um sich gegenseitig gegeneinander auszuspielen. Mit all ihren Ängsten und Nöten fühlte sie sich allein und unverstanden. Aus dem vorbildlichen kleinen Mädchen, das allzu früh erwachsenen sein musste, entwickelte sich eine ängstliche, unsichere junge Frau, die es vermied, unter Leute zu gehen, da sie deren vermeintlich verurteilenden Blicken ausweichen wollte.
Skriptüberzeugungen: Das Leben ist hart, mir steht nichts zu, ich muss nur für die anderen da sein. Ruth sagte an einer Sitzung: "Was hatte ich bis jetzt schon vom Leben? Ich musste vor allem Verantwortung tragen, für andere da sein. Lohnt es sich überhaupt?" Vor einigen Jahren machte sie einen Suizidversuch mit Tabletten.
Lebensgeschichtlicher Hintergrund von Bruno
Bruno ist 43 Jahre alt. Er ist das 5. Kind von insgesamt 8 Kindern. Ausserdem ist er das 1. Kind von der zweiten Frau (komplexe Familienstruktur). In der grossen Familie, die einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete, gehörten finanzielle Probleme zum Alltag. Der Vater griff oft zur Flasche, wenn er nicht mehr über den Berg sah. Über Probleme wurde aber nicht gesprochen. Die Beziehungen waren funktional und distanziert, eher eine Zweckgemeinschaft. Es stand viel Arbeit an und man musste zupacken.
Skriptüberzeugungen: Das Leben besteht aus Arbeit und ich muss schauen, dass ich den Mann stelle, ich darf keine Schwäche zeigen. Der Terminkalender muss stets überfüllt sein.
Tatsächlich kommt es oft vor, dass Bruno morgens bereits um 3.00 Uhr in den Betrieb fährt. Tagsüber ist er dann mit seinen Terminen voll ausgelastet und am Abend schläft er ein, kaum ist er zu Hause.
Beziehung von Bruno zu seinem Stiefsohn Willi: Die beiden gingen sich aus dem Weg, wenn immer es möglich war. Wenn Bruno zu Hause war, suchte Willi das Weite und umgekehrt. An den Wochenenden war Willi meist weg und nicht selten kam er betrunken nach Hause.
Kommentar und Hypothese
Weil ich es in Stieffamilien oft erlebe, dass der leibliche Elternteil eine Koalition mit dem Kind eingeht, was zu massiven Symptomen bei allen Beteiligten führen kann, schlug ich ein erstes Familiengespräch vor. Im Weiteren bildete ich mir anhand der Geschichte von Ruth die Hypothese, dass es sich bei der Beziehungsstruktur zwischen Sohn und Mutter um eine Symbiose 2. Ordnung handeln könnte. Diese Hypothese wollte ich überprüfen.