artikelseptember2023

Es ist Zeit ... Beziehung zu fördern

// Maya Bentele //
© Michael Weber
Als Coach und Begleiterin von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen in Organisationen höre ich immer wieder Berichte von Veränderungsprozessen, die unbefriedigend verlaufen. Oder Klienten berichten über schwierige Vorgesetzte oder auch die Mühsal, gute Mitarbeitende zu finden und zu halten.

In all diesen Themen scheint es mir eine Gemeinsamkeit zu geben, nämlich die Beziehung respektive die Beziehungsgestaltung zwischen den beteiligten Menschen. Die weitaus meisten schwierigen Situationen haben in irgendeiner Weise damit zu tun. Und oft ist es nicht «nur» die Beziehung, sondern auch die Kommunikation, die damit verbunden ist.
Ein Konzept von Richard Erskine (2002/2008) kann dabei hilfreich sein, über Beziehungen und die Gestaltung von Beziehungen nachzudenken: Die acht Beziehungsbedürfnisse. In diesem Artikel werde ich zunächst diese acht Bedürfnisse beschreiben, wie sie im Alltag, auch im Arbeitsalltag, wahrgenommen werden können und was hilfreich im Umgang mit diesen Bedürfnissen ist. Anhand eines konkreten Beispiels werde ich dann aufzeigen, wie ich in meinem Kontext damit arbeite.

Grundsätzlich sind Beziehungen für alle Menschen wichtig. Menschen brauchen Beziehung und Kontakt zu anderen, um sich wohlzufühlen und sich zu entwickeln.
Als Kinder machen wir Erfahrungen, wie unsere Eltern und Bezugspersonen mit unseren Bedürfnissen nach Beziehung und Kontakt umgehen. Dadurch lernen wir den Umgang damit. Auch als Erwachsene bestimmen die Bedürfnisse und der Umgang damit unser Leben, unseren Alltag. Dies zeigt sich sowohl in privaten Beziehungen, im Beruf und auch in Beratungssettings.

Werden die Beziehungsbedürfnisse über längere Zeit nicht oder ungenügend befriedigt, äussert sich dies als Druck, Leere oder auch in Frustration, Aggression oder Ärger.

Erskine unterscheidet acht Beziehungsbedürfnisse:
Erstes Beziehungsbedürfnis: Sicherheit
Damit ist gemeint, dass es ein Beziehungsumfeld gibt, das verlässlich ist. Diese Verlässlichkeit bewirkt, dass sich jemand geschützt fühlt und sich entwickeln kann. Diese Sicherheit, die auch als Schutz wahrgenommen werden kann, wird durch eine einzelne Person auch durch ein Umfeld oder Team repräsentiert. Insbesondere in unsicheren Situationen, wenn grosse Veränderungen stattfinden oder ungelöste Konflikte vorhanden sind, ist dieses Bedürfnis sehr ausgeprägt. Hier darf sich jemand zeigen wie er / sie ist, ohne Angst haben zu müssen, den Respekt oder die Zuneigung zu verlieren.
Zweites Beziehungsbedürfnis: Wertschätzung
Menschen möchten mit ihren Anliegen, Themen und Ansichten wahrgenommen werden. Wertschätzung entsteht hier zum Beispiel durch zuhören, ohne gleich zu bewerten oder zu analysieren. Mit dem Gegenüber im Kontakt zu sein, ist sehr bedeutsam und erzeugt das Gefühl wertgeschätzt zu werden.
Drittes Beziehungsbedürfnis: Schutz und Akzeptanz
In diesem Bedürfnis geht es um den Schutz durch eine Person, die «mächtig» ist. Entweder, weil sie mehr Wissen und Erfahrung hat oder aufgrund ihrer Position über Macht verfügt, zum Beispiel in der Führung. Diese Person kann nicht nur Schutz, sondern auch Orientierung geben. Wichtig ist, dass dieser Schutz zuverlässig und wohlwollend ist.
Viertes Beziehungsbedürfnis: Bestätigung
Darin geht es um persönliche Erfahrungen, die mit anderen geteilt werden, zum Beispiel durch Austausch. Wenn andere etwas nachvollziehen können, dann kann das Gefühl entstehen: «Der andere / die andere glaubt mir.» Das schafft eine gemeinsame, vertrauensvolle Basis. Diese Bestätigungen können wie durch wichtige Bezugspersonen, zum Beispiel durch Teammitglieder oder Führungspersonen gemacht werden.
Fünftes Beziehungsbedürfnis: Einzigartigkeit
Die Erfahrung der Einmaligkeit zu erleben, bedeutet, dass andere mit dem umgehen können, was eine Person einzigartig macht. Das kann auch heissen, dass es andere aushalten, mit jemanden umzugehen, auch wenn sie mit Meinungen oder Haltungen nicht einverstanden sind. Es geht auch um die Erfahrung der Akzeptanz als Person.
Sechstes Beziehungsbedürfnis: Einflussnahme
Hier geht es darum, dass die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen eingesetzt werden können, um damit Einfluss auf andere zu nehmen. Es soll etwas beim Gegenüber bewegt werden, entweder im Denken oder auf der emotionalen Ebene. Es kann auch dazu führen, dass die andere Person Fehler einräumt oder etwas bedauert.
Siebtes Beziehungsbedürfnis: Aktiviert werden
Wenn auch andere Personen Verantwortung übernehmen und aktiv werden, dann entsteht ein Gleichgewicht. Dies erzeugt das Gefühl: «Ich werde ernst genommen und muss nicht alles alleine machen, sondern kann Verantwortung teilen.»
Achtes Beziehungsbedürfnis: Liebe ausdrücken
Dies geschieht durch Fürsorge für andere, Dankbarkeit gegenüber anderen, Wertschätzung und aktives Gestalten von Beziehung. Oft sind dies kleine Gesten, die dem Gegenüber zeigen, dass er / sie wahrgenommen wird als Person oder für etwas, das er / sie getan hat.


Dazu ein Beispiel:
In einer E-Mail-Nachricht kam eine Anfrage von einer Führungsfrau (Frau Euler*) aus einer Organisation im Gesundheitswesen, mit der ich vor mehreren Jahren schon einmal gearbeitet hatte. Sie sei in einer schwierigen Situation. Im Team von 15 Mitarbeitenden, das sie führe, gebe es Unruhe und Konflikte. Dies habe dazu geführt, dass in kurzer Zeit drei Mitarbeiterinnen gekündigt hätten. Ausserdem seien alle an ihren Belastungsgrenzen. Aufgrund der angespannten Personalsituation mit vielen Krankheitsfällen und zu wenig Personal mussten alle über lange Zeit sehr viel arbeiten.
Sie wisse im Moment nicht mehr weiter. Es sei ihr allerdings sehr klar, dass sie in der Führungsrolle Verantwortung übernehmen müsse. Ausserdem seien in diesem Team gute, langjährige Mitarbeitende, denen sie Sorge tragen wolle.

Wir vereinbarten ein gemeinsames Gespräch mit ihrer Chefin (Frau Franz*), um die Situation zu analysieren und eine Strategie zu entwickeln, damit im Team wieder Stabilität und Ruhe einkehren kann. Im Rahmen dieses Dreier-Gesprächs hörte ich genau hin, um herauszufinden, welche Themen sowohl für die Führung als auch die Mitarbeitenden relevant sein könnten, insbesondere bezüglich der Beziehungsbedürfnisse.
Zunächst fiel mir vor allem auf, wie sehr die Chefin, Frau Franz, ihre Mitarbeiterin (Frau Euler) lobte und ihr den Rücken stärkte. Es sei ihr wichtig, dieses Gespräch zu dritt zu führen, um sicherzustellen, dass die Situation entschärft werde. Sie kenne Frau Euler schon lange und wisse, dass sie eine fähige Führungsperson sei. Und die Umstände seien sehr anspruchsvoll.

Ausserdem war es ihr offensichtlich sehr wichtig, mich kennenzulernen. Sie wollte herausfinden, ob ich die richtige Beraterin war, um Frau Euler und das Team in diesem Prozess zu begleiten. Frau Franz erfüllte damit sehr deutlich das Bedürfnis nach Wertschätzung. Ausserdem stellte sie sich in den Rücken ihrer Mitarbeiterin, hier zeigt sich Schutz und Akzeptanz.

Zunächst schilderten mir beide nochmals ausführlich die Situation. Ich holte ihre Erwartungen ab und liess mir erklären, was das Ziel der Begleitung sein sollte. Dann entwickelten wir gemeinsam Ideen für die nächsten Schritte. Bei beiden Führungspersonen wurde hier das Bedürfnis deutlich nicht alles alleine machen zu müssen, sondern auch auf andere zählen zu können. Es zeigt sich das Bedürfnis: Aktiviert werden.

Frau Euler stellte im Gespräch fest, dass sie wohl in der letzten Zeit aufgrund der hohen Arbeitsbelastung, wenig im Kontakt mit einigen ihrer Mitarbeiter/innen gewesen war. Das führte unter anderem dazu, dass sie Konfliktsituationen nicht oder zu wenig wahrgenommen hatte. Sie war sich nicht ganz sicher, wie die aktuelle Stimmung im Team war. Aus diesem Grund vereinbarten wir, dass sie in den nächsten Wochen mit allen Mitarbeitenden Gespräche führen würde. Wir stellten dazu einen Fragenkatalog zusammen. Auf dieser Grundlage wollte sie diese Gespräche durchführen.
Gleich nach Abschluss unseres Gesprächs informierte sie die Mitarbeitenden darüber und stellte ihnen die Fragen zur Verfügung. Mit diesen Schritten ging sie auf mehrere Bedürfnisse ihrer Mitarbeiterinnen ein: Sicherheit, zu wissen was die nächsten Schritte sind, Wertschätzung dadurch, sich für die Meinung jedes Einzelnen zu interessieren, das Bedürfnis nach Schutz und Akzeptanz, sowie das Bedürfnis, Liebe auszudrücken. Das Bedürfnis, Liebe auszudrücken, würde ich in diesem Zusammenhang auch beschreiben als aktiv auf die Mitarbeitenden zu zugehen und sich für die Meinungen von ihnen zu interessieren.

Nach diesen Gesprächen war vereinbart, dass ich mit Frau Euler zusammen die Auswertung der Gespräche machen würde und danach eine Teamentwicklung starten sollte, in der die entstandenen Themen aufgenommen und bearbeitet werden sollten. Hier ging es vor allem um das Bedürfnis nach Bestätigung, nochmals von mir zu hören, dass ihre Wahrnehmungen nachvollziehbar und glaubhaft sind. Ausserdem würde es möglich sein, dass sie die Erfahrung machen kann, als Führungsperson akzeptiert zu werden. Damit konnte sie das Bedürfnis nach Akzeptanz befriedigen.

Frau Franz war einverstanden mit diesem Vorgehen und zeigte sich sehr erleichtert, dass sie sich nun wieder zurückziehen konnte. Die nächsten Schritte sollten ohne sie stattfinden. Trotzdem erklärte sie sich bereit, jederzeit wieder aktiv zu werden, falls es notwendig sein sollte.

Während der Gespräche, die Frau Euler mit den Teammitgliedern führte, zeigten sich zwei Aspekte sehr deutlich: Zum einen wurde es von allen sehr geschätzt, dass sie sich die Zeit nahm, um mit ihnen die Thematik zu besprechen. Zum zweiten wurde sichtbar, dass die Konfliktsituation nicht ganz so gravierend war, wie sie zunächst befürchtet hatte. Die Kündigungen waren mehr Ausdruck von Überforderung und Frustration von einzelnen und hatten weniger mit der Teamsituation und der Unzufriedenheit mit der Führung zu tun. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es in der Kommunikation einiges an Verbesserungspotential gab, dies sowohl innerhalb des Teams als bei Frau Euler. Die Entspannung, die sich bereits hier anbahnte, machte deutlich, dass die oben erwähnten Beziehungsbedürfnisse der Mitarbeiterinnen so berücksichtigt werden konnten, dass gute Gespräche möglich waren.

Diese beiden oben erwähnten Themen definierte ich mit Frau Euler gemeinsam für die Teamentwicklung. Dort wollten wir im Team die Kommunikation untereinander zum Thema machen und ausserdem die Erwartungen des Teams bezüglich ihrer Führungsrolle und der Kommunikation klären.

Während des Teamprozesses wurde sehr schnell deutlich, dass von allen Mitarbeiter/innen grundsätzlich die Arbeit der Führung, insbesondere von Frau Euler, geschätzt wurde. Gleichzeitig konnten Erwartungen geklärt werden, die vor allem eine transparentere Information und mehr direkten Austausch beinhalteten. Dies konnte Frau Euler gut annehmen. Es gab dazu klare Vereinbarungen mit dem Team.

Mir fiel schon von Anfang an auf, wie grundsätzlich wertschätzend und kompetent alle auftraten. Die Kommunikationskultur war aus meiner Sicht schon gut entwickelt. Es gab Feedback- und Spielregeln für den Umgang miteinander. Einige davon wurden nochmals diskutiert und teilweise neu definiert. Vor allem aber wurde deutlich, dass es sehr wichtig war, diese Regeln wieder ins Bewusstsein zu holen und auch im Alltag bewusster zu leben. Daraus konnten die Mitarbeiter/innen für sich ableiten, worauf sie in nächster Zeit vermehrt achten wollten. Und sie definierten einige Aspekte, an denen sie auch weiterarbeiten wollten. Es gab einen runden Abschluss, in dem sie eine Vereinbarung trafen, dass alle gemeinsam in sechs Wochen nochmals eine Standortbestimmung machen wollten.
Die Auswertung mit Frau Euler einige Wochen später ergab, dass sich das Team insgesamt positiv entwickelt hatte und eigenverantwortlich die definierten Themen anging. Sie war sehr überrascht, dass es «so wenig gebraucht hat». Der eigentliche Schlüssel war wohl, dass sie als Führungsperson in die Verantwortung und mit allen in Kontakt und Beziehung ging. Das sei tatsächlich in der Vergangenheit zu kurz gekommen.

Abschliessend wurde deutlich, dass es wesentlich zur Entspannung und Entschärfung von möglichen tiefergehenden Konflikten geführt hatte, dass die Beziehungsbedürfnisse von allen Beteiligten in ausreichendem Mass erfüllt werden konnten. Dies schliesst die beiden Führungspersonen mit ein. Frau Franz konnte den Prozess Frau Euler überlassen, weil sie ihrerseits aktiv sein konnte und dadurch auch Wertschätzung und Liebe für ihre Mitarbeiterin ausdrücken konnte. Frau Euler fühlte sich im Prozess sicher und getragen. Sie konnte ihre Fähigkeiten einsetzen und Einfluss nehmen auf das Geschehen. Dies war ebenso möglich für alle Mitarbeitenden. Die daraus entstehende Vertrauensbasis war und ist wiederum die Grundlage, um weiteren Beziehungsbedürfnissen gerecht zu werden und die Beziehungen insgesamt zu festigen.

Anhand dieses konkreten Beispiels wird deutlich, dass der eigentliche Schlüssel in diesem Prozess war, immer wieder in Kontakt zu sein und Beziehung herzustellen. Draus lässt sich folgern: Je besser die Beziehungsbedürfnisse berücksichtigt werden können, desto freier ist die Kommunikation, desto grösser ist das Vertrauen, das wachsen kann. Dabei kann einmal das eine oder auch das andere Bedürfnis wichtiger sein. Aus meiner Sicht ist es auch nicht notwendig, dass alle gleichermassen im Fokus sind. Teilweise bedingen oder ergänzen sich die Bedürfnisse gegenseitig.
Diese Erkenntnisse können hilfreich sein sowohl für Berater/innen als auch Führungskräfte. Insbesondere in Veränderungsprozessen oder Konfliktsituationen gibt diese Betrachtungsweise wichtige Hinweise darauf, worauf im Prozess Beachtung geschenkt werden muss, um gemeinsame Entwicklung zu ermöglichen. Auch sonst im Alltag haben diese Aspekte Bedeutung. Mit sehr wenig Aufwand kann im Beziehungsgeschehen viel Positives bewirkt werden, wenn die verantwortlichen Personen bewusst auf die Beziehungsbedürfnisse achten, diese berücksichtigen und darauf eingehen.

* Die Namen sind anonymisiert.


Literaturverzeichnis
Erskine, Richard G. (2002). Relational Needs, EATA Newsletter Nr. 73
Erskine, Richard G. (2008). Beziehungsbedürfnisse, ZTA 4/2008, S.287 – 297)


Maya Bentele
dipl. Psychologin FH/SBAP, Lehrende und Supervidierende Transaktionsanalytikerin TSTA in den Bereichen Organisation und Beratung.

Dolderstrasse 24, CH-8032 Zürich
www.bentele.ch
maya@bentele.ch



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artikeljuni2023

Es ist Zeit…

// Autor: Jürg Schläpfer //
... unsichere Bindungsformen zu erkennen, damit sie frühzeitig vermieden oder gemildert werden können
© Pixabay, cocoparisienne
Ein beflügelndes Bild eines Knaben mit seinem fliegenden Drachen. Dieses Bild wurde von Isabelle Thoresen im Vorwort des TApublik Nr.3 2022/2023 entwickelt und sieht Parallelen zu den Begriffen Freiheit und Verbundenheit. Ich habe dann diese beiden Begriffe mit den Bindungsmustern (John Bowlby) verknüpft. Zwischen Knabe und Drachen besteht, solange die Schnur hält, eine Bindung – und zwar eine sichere.

John Bowlby (1907-1990) definierte das sichere Bindungsmuster als Befriedigung/Erfüllung des Bedürfnisses (des Kleinkindes) nach Schutz und Sicherheit. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, kann das Kind explorieren, das heisst, es kann die Umwelt entdecken. Innere Sicherheit (Bindung) und Exploration (Erkunden der Umwelt) sind dann im Einklang und wechseln sich gegenseitig, meist recht kurzfristig, ab.

Reisst die Schnur, so macht sich der Drachen selbständig und kann nicht mehr gesteuert werden. Die spielerische Balance (freies Kind) zwischen den beiden kann verloren gehen. Von «Drachen-Autonomie» zu sprechen, wäre bei den unsicheren Bindungsformen wohl vermessen, weil der Drachen einem sicheren Absturz nicht mehr ausweichen kann. Neben der sicheren Bindungsstruktur sprachen John Bowlby und Mary Ainsworth von drei unsicheren Bindungsformen: desorientiert, unsicher ambivalent und unsicher vermeidend. Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher und Psychotherapeut spricht in seinem Buch «Bindungsstörungen» gegenwärtig von vielen verschiedenen Bindungssystemen und diversen Mischformen. Brisch ist in der Zuordnung der einzelnen unsicheren Bindungsformen äusserst vorsichtig. Unsichere Bindung heisst in der Regel: Mit der Verbindungs-Schnur gibt’s Probleme. Und dies kann (z.B. bei unsicheren Bindungsstrukturen der Elternschaft) bereits vorgeburtlich passiert sein. Karl Heinz Brisch ergänzt1, dass die sichere Bindungsstruktur in der Kindheit nicht nur essentiell ist und Leitplanken setzt, sondern die eigentliche Voraussetzung für ein resilientes Leben bedeutet. Dann soll die Verbindungsschnur aber im Laufe der Jugendzeit zunehmend lockerer werden und irgendwann in luftiger Höhe sich sogar von der Mutter (oder Bezugsperson) lösen können. Es folgt ein selbstbestimmendes autonomes Weiterfliegen. Dieses Bild scheint mir höchst dynamisch und erinnert transaktionsanalytisch an das freie Kind (fK).
Erstes Beispiel: Desorientierte Bindung
Katharina Bracher beschreibt das Ende des Fox-News-Star Tucker Carlson in der NZZ vom 29. April 2023. Tucker begeisterte Abend für Abend Millionen von Zuschauern während 60 Minuten mit seinen Hasspredigten. Es gelang ihm, sie in seinen Bann zu ziehen bis er Ende April 2023 von einem Tag auf den anderen entlassen wurde, angeblich weil er wissentlich Unwahrheiten verbreitet hatte. Seine Abendsendungen waren in den USA äusserst beliebt und seine Hasstiraden wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.

Was war geschehen? Ich greife auf seine von mir vermutete Bindungsform zurück: Carlson berichtet in einem Interview2 über seine Kindheit: «Es ist schlimm, zu erfahren, dass dich deine Mutter nicht liebt.»
Als Carlson 6-jährig war zerbrach die Familie vollständig. Die Mutter verliess die Familie, nachdem sie bereits jahrelang mit den beiden Kindern überfordert war. Tucker Carlson kannte in seiner Kindheit keine Sicherheit, sondern weitgehende Desorientierung, was vermutlich auf die Drogensucht seiner Mutter zurückgeführt werden kann. Die desorientierte Bindungsform gibt grundsätzlich nirgendwo Halt. Psychische und physische Gewalt gehört dazu. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wut, die diese Kinder in jungen Jahren begleitet, irgendwie ein Bestandteil ihrer Persönlichkeit wird. Dieser negative emotionale Ballast macht es ihnen schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu regulieren. Das wiederum erhöht das Risiko, dass sie irgendwann selbst zu Gewalt greifen was sich auch verbal äussern kann. Und dies war bei Carlson wohl der Fall. Die NZZ schreibt:
«Carlson steigt in seinen Monologen immer ganz oben ein auf der Klaviatur der Wut. Er ist bereits nach den ersten Worten stocksauer und steigert sich immer weiter in seine Rage. Es gibt keinen Sprachwitz, kein Funken Ironie zieht sich durch seinen Sermon. Carlson lässt die Sätze springen wie Knallfrösche. Irgendwann ist alles an ihm nur noch Wut und je länger und tobsüchtiger Carlson’s Monolog – desto eher bleiben die Menschen am Bildschirm.»3

Carlson hatte also vor Millionen von Zuschauern Erfolg. Trotzdem wurden seine «Charakterschwächen» für ihn zum Bumerang. Karl Heinz Brisch spricht bei der desorientierten Bindungsstruktur von fünf hauptsächlichen Eigenschaften:

1. Verzerrte Selbstwahrnehmung und geringes Selbstwertgefühl.
2. Höhere Rate von Verhaltensauffälligkeiten.
3. Angst und Depression.
4. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration. (ADHS tritt gehäuft auf)
5. Veränderungen des Nervensystems.

Zudem:
Es gibt keine durchgängige Verhaltensstrategie.
Vorwiegend zeigt sich emotional widersprüchliches Verhalten.
Es kommt zu motorischen und stereotypischen Sequenzen.
„Freezing“, das heisst Innehalten im Verlauf der Bewegungen und kurzfristiges „Erstarren“.
Erhöhte Stresswerte, wie beim unsicher gebundenen Kind.


Welche dieser Eigenschaften auf Carlson wohl zutreffen, ist schwer zu sagen und ich möchte mich nicht auf Spekulationen einlassen. Was als sicher gelten kann, ist, dass seine ursprüngliche desorientierte Bindung Auswirkungen auf sein inneres Wut-System in seiner Rolle als Fox-News-Moderator hatte. Seiner ursprünglichen Wut auf die Mutter konnte Carlson wohl nicht freien Lauf lassen. Als späterer Moderator war er da freier und konnte seine innere Wut millionenfach «herausbrüllen». Psychotherapie für den Moderator?... das könnte man sich wohl fragen.

Um beim anfänglichen Drachen-Bild zu bleiben: Der Drachen von Carlson hatte schon in seiner Kindheit keinen Haltepunkt, er flog irgendwo herum geriet wohl häufig in Turbulenzen und stürzte – insbesondere nach seiner abrupten Entlassung - irgendwo ab. Und dieses Spektakel könnte sogar geeignet sein, Zuschauer – wie bei einem spanischen Stierkampf – zu elektrisieren. Ich unterstelle die Zuschauerbegeisterung bei Fox News durchaus dieser Tatsache. Fox News hat alle paar Minuten die Zahl der Zuschauer gemessen und stellte bei zunehmender Aggression von Carlson sofort höhere Zuschauerzahlen fest.

Eine desorientierte Bindung hat keine Konstanz. Es gibt ein ständiges Hin und Her, die Schnur des Drachens war gar nie vorhanden oder frühzeitig gerissen. Der Drachen fliegt, baumelt, stürzt je nach Wetterlage dann auch irgendwann ab.

Das folgende Schaubild könnte das gut illustrieren: Rundungen - und damit guter Rhythmus - fehlen, es geht zackig hin und her und nichts ist zum Voraus berechenbar.
Desorientiertes Bindungsmuster: Abrupte Wechsel, die nicht vorausgesagt werden können
Zweites Beispiel: Unsicher-ambivalente Bindung
In der NZZ vom 13.04.2023 findet sich von Christine Brinck unter dem Titel: «Die Angst beim Warten auf ein Bling» ein bemerkenswerter Artikel. Christine Brinck beschreibt die heutige Teenager-Generation, welche sie i-Gen-Generation nennt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Mädchen, welche nach 1995 geboren worden sind. Man hat in einer Studie (Dr. Jean Twenge) herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unglücklichsein der Heranwachsenden und dem sozialen Medienkonsum gibt. «Wir erleben seit zehn Jahren eine Epidemie mentaler Erkrankungen unter Teenagern wie nie zuvor» kommentierten amerikanische Kinderärzte und Psychiater die Ergebnisse der Studie. Verbitterung und Vereinzelung sei seit 2010 in erheblichem Masse gestiegen. Die entsprechenden Verwerfungen hätten präzise 2012 begonnen, als Facebook Instagram kaufte. So sei ein gewisser Anpassungsdruck (Aussehen, Leben, Denken, Abgrenzung von Eltern etc.) unter Teenagern zu beobachten gewesen. Stress, Minderwertigkeitsgefühle, Drogen, Alkohol können die negativen Gefühle verstärken. Dazu kommt eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz des Smartphones. In wenigen Jahren seien die Zufriedenheitsgewinne von zwei Jahrzehnten ausgelöscht worden. Von 2009 bis 2019 sei das Gefühl von Traurigkeit und Trostlosigkeit bei den Teenagern um 40 % gestiegen, unter den 10- bis 24-Jährigen sei zudem Suizid die dritthäufigste Todesursache. Laut der oben genannten Studie geben 60% der Mädchen an, im vergangenen Jahr dauernd Traurigkeit empfunden zu haben und 30% hatten ernsthaft an Suizid gedacht. Weshalb sind Mädchen gefährdeter als Knaben? Weil sie bis zu 6 Stunden täglich über die sozialen Medien ein Damoklesschwert über sich spüren, welches ihnen suggeriert, nicht gut genug zu sein. Sie vergleichen sich fast pausenlos mit anderen, setzen enorm hohe Massstäbe, welche nicht erreichbar seien. Sie halten sich für zu dick oder zu dünn, für zu gross oder zu klein und meinen irgendetwas zu verpassen.
Fazit: Teenager, die mehr reale Zeit miteinander verbringen sind glücklicher, weniger einsam, weniger depressiv als jene welche sich viel in den sozialen Medien tummeln. Elektronische Kommunikation ist kein Ersatz für eins-zu-eins-Begegnungen. Gespräche führen zu Auseinandersetzungen mit anderen Ideen und Meinungen. In der digitalen Welt wird die andere Meinung oft weggemobbt. Der Konformationsdruck steigt.

Bei den beschriebenen Teenagern handelt es sich ebenfalls um ein unsicheres Bindungs­muster. Es können Mischformen sein, vieles deutet auf unsicher-ambivalentes Verhalten hin. Insbesondere das ständige Vergleichen der jungen Mädchen ist auffallend. Man will gefallen, schöner als andere sein. Der Preis ist hoch: Traurigkeit und Trostlosigkeit! Diese Befindlichkeiten passen perfekt zur unsicher-ambivalenten Bindungsform, welche mit allen Mitteln Sicherheit anstrebt und geliebt werden möchte und genau diese Befindlichkeit meistens verpasst. In aller Regel ging es bereits bei den Bindungspersonen um fehlende Berechenbarkeit, was beim Kind zu Ärger und Widerstand führen kann. Das Kind scheint auf die Ambivalenzen der Bindungsperson einerseits mit Rückzug, anderseits mit Annäherung und Kontaktversuchen zu reagieren. Dabei können negative Gefühle kaum integriert werden. In der TA sprechen wir dann gerne von Ersatzgefühlen.
Ersatzgefühle:
Es gibt – gemäss transaktionsanalytischer Theorie - 4 Grundgefühle, nämlich Freude, Angst, Trauer und Wut. Diese Grundgefühle haben eine wichtige Funktion, wenn sie richtig eingesetzt werden. Freude führt zu Lebenslust. Angst schützt vor allfälligen Gefahren. Trauer ist notwendig, um einen Verlust zu verarbeiten. Wut ist sehr wichtig, um die innere Balance behalten zu können. Nicht ausgesprochene Wut, meist runtergeschluckt und ev. gar noch mit einem Lächeln maskiert, führt gerne zu (psychischen) Störungen/Belastungen. Das Lächeln (das der Freude zugeordnet werden kann) ist dann ein Ersatzgefühl. Mit diesem Ersatzgefühl (eigentliche Maske) kann die Wut als ursprüngliches funktionales Gefühl überdeckt werden. Das Ersatzgefühl ist dann dysfunktional - Probleme werden nicht gelöst, sondern lediglich beiseitegeschoben.
Das folgende Schaubild zeigt in der liegenden unsymmetrischen Acht die Verteilung der seelischen Energie bei der unsicher-ambivalenten Bindungsform. Bindung, Bindungssuche, dazwischen Abstürze, weil die Bindung nicht zufriedenstellend gelang, wechseln sich ab. Für das Explorieren bleibt fast keine Energie. Beziehungen stehen permanent im Mittelpunkt, alles dreht sich um Beziehungen, meist um Beziehungen, welche nicht so recht befriedigen, dafür aber vermehrten Gesprächsstoff liefern können.
Unsicher ambivalente Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Bindungsverhalten gesteckt, welches hier sehr viel Raum einnimmt
Das unsicher-ambivalente Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Solche Kinder sind stark auf die Bindungsperson fixiert, wodurch das Bindungssystem stark aktiviert ist.
Das führt auch bei Anwesenheit der Bindungsperson zu stark eingeschränktem Explorationsverhalten.
Kind betrachtet Bindungsperson als nicht berechenbar.
Die unvorhersagbaren Erfahrungen des Kindes führen zu Ärger und Widerstand beim Versuch das Kind zu trösten.
Einmal kann das Kind ärgerlich und aggressiv auf Bezugsperson reagieren, dann aber plötzlich sucht es Nähe und Kontakt.
Negative Gefühle können nicht integriert werden.


Im oben dargestellten NZZ-Artikel geht es vorwiegend um Mädchen. Dazu passt das unsicher-ambivalente Bindungsmuster, wird doch weitgehend beobachtet, dass Mädchen in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen ein Hauptthema bearbeiten: Liebe, Anerkennung und oft auch Neid und Eifersucht. Die äussere Erscheinung wird dann gerne überbewertet, weil diese eben auch viel Anerkennung bringen kann.
Drittes Beispiel: Unsicher-vermeidende Bindung
Unsichere Bindungen wurden unter anderem im dritten Reich «gezüchtet». Johanna Haarer schrieb 1934 das Buch «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind». Dieses Buch wurde ab 1934 allen jungen Müttern im dritten Reich zur Geburt geschenkt. Es sollte dazu dienen, die Kinder zu harten, möglichst gefühlslosen Menschen zu machen. Keinerlei positive Strokes waren erlaubt, stundenlanges weinen lassen wurde gefordert, Trost war verboten, alles musste nach vorgegebenem Fahrplan ausgeführt werden (insbesondere die Stillzeiten). Auch in den 1980er Jahren war das Buch in Deutschland noch weit verbreitet. Es gab sogar Neuerscheinungen mit nur kleinsten Änderungen.

Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt weitgehend vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich häufig durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann dann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt. Dieses Bindungsmuster wird eher bei Knaben festgestellt.

Das unsicher-vermeidende Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Bei Abwesenheit der Beziehungsperson zeigt Kind keine Anzeichen von Beunruhigung oder des Vermissens.
Es exploriert (spielt) scheinbar ohne Einschränkung weiter, zeigt wenig Bindungsverhalten und akzeptiert fremde Personen als Ersatz.
Innerlich ist das Kind aber aufgewühlt.
Die Unterdrückung des Bindungsverhaltens erzeugt hohe emotionale Belastung.
Kommt die Bindungsperson zurück, so wird sie in der Regel abgewiesen.
Die Bindungsperson selbst zeichnet sich meistens durch Aversion gegen Körperkontakt aus und auch durch häufigen Ärger. Riemann würde wohl von einer schizoiden Grundstruktur sprechen.
Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung aufbauen.


Ich komme nochmals auf das Bild des Drachens zurück. Diese drei unsicheren Bindungsformen könnten im «Drachenbild» folgendermassen beschrieben werden:

Bei der desorientierten Bindungsstruktur gab es nie eine Verbindung, der Drachen „geniesst volle Freiheit“. Eine Freiheit, sich auch ins Unglück oder in den Suizid zu stürzen.
Eine unsicher-ambivalente Struktur könnte heissen: Die Schnur besteht aus einem flexiblen Gummizug, kann sich also ausdehnen und verengen. Zudem ist die Schnur dicker geworden. Sie könnte mit einer recht dicken Wäscheleine verglichen werden – die Leichtigkeit (des Seins) ist damit eingeschränkt. In der TA sprechen wir hier gerne von Symbiose, auch von inverser Symbiose. Eine eigene Entwicklung dürfte massiv erschwert sein. Diese Verbindung gibt’s selbstverständlich nicht nur zwischen Kind und Bezugsperson. Wir finden solche Symbiosen auch häufig in jungen, oft auch in alten Partnerschaften.
Bei der unsicher-vermeidenden Struktur ist die Verbindungsschnur wegen emotionalen Enttäuschungen gerissen.
Unsicher-vermeidende Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Explorationsverhalten gesteckt
Erschaffen sicherer Bindungen
Die sichere Bindung ist beglückend. Gemäss Karl Heinz Brisch4 gibt’s in der Baby-Zeit eine klare Schnur-Verbindung, die dann mit der Zeit gelockert werden kann und schliesslich zur eigentlichen Autonomie führt. Dann ist die Verbindung weitgehend aufgelöst. Dies geschieht aber nicht im Streit, sondern ganz natürlich. Gute Gefühle bleiben.

Das folgende Bild soll diese gleichmässige rhythmische Lebensart aufzeigen:
Sichere Bindung5: Bindung und Exploration sind rhythmisch und ausgewogen geprägt
Diese rhythmische und gesunde Lebensform ist das Beste was einem Kind geboten werden kann. Eine starke (oft lebenslängliche) Resilienz ist die Folge. Bei Erwachsenen, welche zwecks Erreichung einer sicheren Bindung, eine Gesprächstherapie aufnehmen, schlage ich beispielsweise folgende zwei Therapie-Ansätze vor:
Yalom’sche Gesprächsmethode
Irvin Yalom hat mit verschiedenen Klienten ein sogenanntes Experiment durchgeführt. Anschliessend an eine Sitzung wurde über den abgelaufenen Prozess nachgedacht (nicht über den Inhalt der Sitzung). Dann, etwa einen Tag später, schrieb Yalom seine Erkenntnisse auf und sandte diese seinem Klienten. Genau zeitgleich lief es auch umgekehrt vom Klienten zum Therapeuten. Natürlich deckten sich die Beschreibungen oft nicht – das ergab dann in der nächsten Sitzung Diskussionsstoff und im besten Fall eine Klärung. Diese Methode lässt Hierarchien verschwinden, es entsteht Augenhöhe. Natürlich soll auch der Therapeut sich offenbaren und nicht lediglich als Zuhörer fungieren. Meiner Erfahrung nach hilft dies, eine sichere Bindung zwischen Therapeut und Klient herzustellen. Diese neue Erfahrung kann dann vom Klienten als Modell benützt werden und in die Praxis umgesetzt werden.
Symbiosen auflösen
Das Kleinkind lebt mit seiner Mutter normalerweise in einer gesunden Symbiose. Die Mutter ist fürsorglich und handelt weitgehend aus ihrem Erwachsenen-Ich. Das Kind hat diese beiden Ich-Zustände noch nicht zur Verfügung und benützt deshalb sein Kind-Ich. Beide zusammen benützen also drei Ich-Zustände. Später, wenn das Kind sich von der Mutter emanzipieren möchte oder auch bei symbiotischen Paarbeziehungen sollten alle drei Ich-Zustände bei beiden Personen funktionieren und eingesetzt werden können. Nicht aufgelöste Symbiosen bei Paaren zeichnen sich meist durch drei gemeinschaftliche Ich-Zustände aus: Eine Person bestimmt wo’s lang geht und leistet auch fast alle Denkprozesse. Die andere Person unterzieht sich meistens und gehorcht oder rebelliert innerlich. Daraus folgt Abhängigkeit, Autonomie ist für beide Teile letztlich nicht möglich. Zur Entwicklung menschlicher Reife und dem Erreichen einer sicheren Bindung gehört die Auflösung der Symbiose. Im Bild des anfänglich erwähnten fliegenden Drachens würde in einer Symbiose zwischen Drachen und Drachenführer keine Schnur eingesetzt, sondern eher ein dickes Wäscheseil, welches jegliches Vergnügen einschränken würde

Das Ziel jeder menschlichen Beziehung, sehe ich – wie John Bowlby und auch Karl Heinz Brisch dies postulieren – im gegenseitigen, ehrlichen Austausch. Dies entspricht dann einer transaktionsanalytischen ++ Grundposition oder auch dem wunderbaren anfangs erwähnten Drachen-Bild.
Literaturangaben
Karl Heinz Brisch, 2020: Bindungsstörungen, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2022: SAFE- Sichere Ausbildung für Eltern, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2023: Gestörte Bindungen im digitalen Zeitalter, Klett-Cotta, Stuttgart
Johanna Haarer, 1997: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, J. F. Lehmanns Verlag, München - Berlin 1941
NZZ vom 13. April 2023: Christine Brinck, Die Angst beim Warten auf ein Bling
NZZ vom 29. April 2023: Katharina Bracher, Er lässt die Sätze springen wie Knallfrösche: Fox-News-Star Tucker Carlson
Irvin D. Yalom, 2013. Die Liebe und ihr Henker, Verlag btb, München
Irvin D. Yalom, 2017. Wie man wird, was man ist, Verlag btb, München
Fussnoten
1 Telefonat vom 12. Mai 2023
2 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
3 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
4 Telefonat vom 12. Mai 2023
5 Diese Illustrationen entstanden spontan während eines «Bindungs»-Seminars an einem TA-Kongress durch mich angeregt und durch Beiträge der TN ergänzt. Jede einzelne Bindung wurde mittels Herumlaufen (aller TN) im Raum illustriert. Dabei galt es auf seine Gegenübertragung zu achten und dabei festzustellen, was eine angenehme oder störende Wirkung auslöste. Interessant war, dass nicht etwa die «sichere Bindung» (gegenseitiger Augenkontakt, kurze nonverbale Begrüssung, dann Exploration im Raum, dann wieder menschlichen Kurzkontakt usw.) innerliche Freudensprünge ausgelöst hatte. Es war die ursprüngliche Bindung, welche innerliche Verwandtschafts-Gefühle hochkommen liessen und den TN heimische Gefühle vermittelten. Wer in jungen Jahren Unsicherheit erleben musste, konnte mit der Übung «Sicherheit» kaum etwas anfangen. Bei der desorientierten Übung gab’s keine Kontinuitäten, alles sehr kurzfristig, hastig und nervös. Ein Beobachter hätte ADHS diagnostiziert. Bei den ambivalent-unsicheren Bindungsbegegnungen ging es nur um Menschliches, ums Berühren, ums Klammern etc.- Bei den unsicher-vermeidenden Begegnungen gab es keine Augenkontakte, Projektoren, Stühle und Tische wurden angefasst und untersucht.
Jürg Schläpfer TSTA/E


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