artikeloktober2023

Die Zeit ist reif ... für Regenerierung

// Valérie Perret //
© Pixabay
Einführung
Als ich die ersten Zeilen dieses Artikels schrieb, stand ich kurz vor meinem 50. Geburtstag. Diese Reflexion über die Zeit, die mir die Schweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse vorgeschlagen hat, kam gerade wie ein Geschenk, das es mir ermöglichte, über die vergehende Zeit, das Leben und insbesondere den Sinn des Lebens nachzudenken. Ich frage mich, wie ich die mir bleibende "Lebenszeit" nutzen kann, um einen echten Sinn zu finden.

In diesem Artikel möchte ich diese Frage anhand der Phasen der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson1 erörtern. Diese Theorie beschreibt detailliert und entwicklungsorientiert, wie der Mensch im Laufe seines Wachstums zu dem gelangt, was Berne Autonomie nennt; die Autonomie beinhaltet drei Eigenschaften, die für das reibungslose Funktionieren des Menschen wesentlich sind: klares Bewusstsein, Spontaneität und die Fähigkeit zur Intimität. Diese Theorie erklärt mit anderen Worten den Übergang von der Abhängigkeit zur gegenseitigen Abhängigkeit, den Nola Katherine Symor2 mit ihrem Konzept des Abhängigkeitszyklus beschreibt. Ich schlage Ihnen daher vor, Verbindungen zwischen der Transaktionsanalyse, unserem gemeinsamen Bezugsrahmen, und der Entwicklungspsychologie herzustellen.

Eriksons Stadien der psychosozialen Entwicklung beschreiben die Phasen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens aus psychologischer Sicht auf dem Weg zur Autonomie durchlaufen muss. Acht Stufen, von denen jede einen inneren Kampf widerspiegelt, bei dem die Person zwischen zwei gegensätzlichen Kräften wählen muss: existieren oder sich anpassen oder vielmehr irgendwo dazwischen ein Gleichgewicht finden. Ziel ist, das achte Stadium, das "Alter", mit einem Gefühl der Erfüllung zu erreichen.

Bei der Beschreibung dieser verschiedenen Lebensabschnitte werde ich mehr auf das 7. Stadium eingehen, das "Erwachsenenalter", in dem ich selbst mich derzeit befinde. Es ist das Stadium der Regenerierung, eine echte Chance, sich selbst wiederherzustellen, «zu reparieren». Ich werde meine Erfahrungen und persönlichen Überlegungen zu dieser Phase und ihrer Bedeutung für mich mit Ihnen teilen.
Die Stadien der psycho­sozialen Entwicklung
Während seines Wachstums will das Kind wie die anderen sein, dazugehören (Angepasstes Kind) und gleichzeitig möchte es sich selbst sein (Freies Kind). Es will in der Normalität leben UND seine Besonderheit ausleben. Das hat einen inneren Kampf zur Folge.

Ich schlage Ihnen vor, diese Lektüre mit einer Reise durch die Zeit fortzusetzen. Lassen Sie sich durch diese verschiedenen Etappen führen, indem Sie sich durch eine innere Erkundung an Ihre Kindheit erinnern. Stellen Sie sich vor ... stellen Sie sich das Baby vor, das Sie waren, dann das Kind, den Jugendlichen und schliesslich den Erwachsenen. Lassen Sie sich spüren, welche Schritte im Laufe Ihrer Geschichte gut verlaufen sind und welche schwieriger waren.


Stadium 1: (0 bis 18 Monate) Säuglingsalter
In diesem 1. Stadium durchläuft das Baby den folgenden Kampf: Vertrauen versus Misstrauen.

Wenn diese Phase gut verläuft, d. h. mit einer ausreichend guten Bemutterung, wie Donald Winnicott3 sagt, entwickelt das Baby ein solides Gefühl des Vertrauens, zunächst in den anderen und dann durch die Erkundung in sich selbst. Es entwickelt einen Sinn für die Hoffnung auf das Leben, und lernt, dass andere Menschen verlässlich und beständig sind. Wenn diese Beziehung scheitert, sieht das Baby die Welt mit Misstrauen. Es erlebt Angst, Hoffnungslosigkeit und Rückzug, da die anderen unzuverlässig und unbeständig sind. Die daraus resultierenden Szenario-Überzeugungen lauten: "Ich bin ganz allein, ich kann mich auf niemanden verlassen, ich bin nicht gut genug, dass man sich um mich kümmert ...".

Ergebnis eines zufriedenstellenden Gleichgewichts: Sicherheit, Hoffnung ins Leben.
Ergebnis eines unbefriedigenden Gleichgewichts: Verzweiflung.


Stadium 2: (18 Monate bis 3 Jahre) Kleinkindheit
In diesem 2. Stadium durchläuft das Kleinkind den folgenden Kampf: Autonomie versus Scham, Selbstzweifel.

Die Autonomie erscheint auf der Bildfläche. Das häufigste Wort ist NEIN. In diesem Alter baut das Kind seine Selbstdefinition auf. Es kämpft darum, sich selbst zu definieren. Wenn das Kind von seinen Elternfiguren in seiner Einzigartigkeit bestätigt wird, baut es in sich seinen Willen und einen kohärenten Sinn für seine Selbstdefinition auf. Wenn dieser Schritt misslingt, wenn die Elternfiguren zu viel und zu früh von ihm verlangen, es demütigen oder gleichgültig sind, entwickelt es ein Gefühl der Scham und der inneren Leere. Schlimmer noch: Wenn ein Elternteil auch nur unbewusst mit ihm konkurriert, wird es von tiefer Scham erfüllt, ohne dass es die Ursache dafür verstehen kann.
Diese Bestätigung oder Nichtbestätigung wird sich das ganze Leben des Kindes hindurch fortsetzen, insbesondere durch die Lehrer in der Schulzeit.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Wille, kohärenter Sinn für Selbstdefinition.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Scham, Selbstzweifel, Beginn von Zwängen und Obsessionen.
Stadium 3: (3 bis 6 Jahre) Periode der Initiative, Spielalter
In diesem dritten Stadium durchläuft das Kind den folgenden Kampf: Initiative versus Schuldgefühl.

Das Kind entwickelt seine Fähigkeit zu spielen, zu gestalten und zu erforschen. Es baut und kreiert Sachen. Es entwickelt seinen Sinn für Initiative. Wenn seine Initiativen nicht gut ankommen, fühlt es sich schuldig. Die Eltern sind in dieser Zeit wichtig, aber auch die anderen Kinder, die Cousins ... das Kind experimentiert mit ihnen. Papa ist in dieser Phase wichtiger als Mama, er ist das Spielobjekt.

Befriedigendes Gleichgewicht: Lebensziel, Gefühl, ein Ziel zu haben, Überzeugung.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Hemmung.
Das Kind pendelt zwischen den verschiedenen Etappen hin und her. Jede Stufe baut auf den vorherigen auf, und jedes Mal, wenn es eine Stufe durchläuft, arbeitet es wieder an den alten Stufen. Das Kind verwertet wieder, um weiterzukommen. Das Neue verstärkt oder beeinträchtigt Vorangegangenes.


Stadium 4: (6 bis 12 Jahre) Schulalter
In diesem vierten Stadium durchläuft das Kind den folgenden Kampf: Harte Arbeit versus Minderwertigkeitsgefühl.

Das Kind entwickelt seine Fähigkeiten. Lernschwierigkeiten zeigen sich. Die Schule entspricht bestimmten Lernstilen, anderen nicht. In dieser Phase sind für das Kind die Schule, die Lehrer, das Verhalten der Freunde und Nachbarn wichtig. Gleichaltrige und Lehrer haben einen grossen Einfluss. Konkurrenz- und Vergleichsprozesse (zwischen Kindern, durch Lehrer oder Eltern) können giftig sein. Sie können das Leben mancher Kinder so vergiften, dass sie aufgeben.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Gefühl von Kompetenz.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Trägheit, Isolation, Minderwertigkeitsgefühle.


Stadium 5: (12 bis 25 Jahre) Jugendalter
In diesem fünften Stadium durchläuft der Jugendliche den folgenden Kampf: Identität versus Verwirrung.

Diese Zeit ist dadurch gekennzeichnet, dass der Jugendliche seine Fähigkeiten, Überzeugungen und Werte in Frage stellt, mit dem Ziel, eine eigene Identität zu entwickeln.
Wer bin ich? Wohin gehe ich? Wenn es dem Jugendlichen gelingt, seiner Person einen Sinn zu geben, wird er eine starke Identität aufbauen, anstatt zu versuchen, etwas zu werden, was er nicht ist. In dieser Phase ist Zugehörigkeit wichtig. Er baut seine Identität auf seinem Fundament auf, das stabil sein muss. Dieser Moment ist wichtig für die Loyalität: Wem gegenüber werde ich loyal sein? Meinen Gleichaltrigen und/oder mir selbst?

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Loyalität, Identität.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Rollenverwirrung.


Stadium 6: (25 bis 35 Jahre) junges Erwachsenenalter
In diesem 6. Stadium erlebt der junge Erwachsene den folgenden Kampf: Intimität versus Isoliertheit.

Er entwickelt seine Fähigkeit, zu kooperieren, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er entwickelt auch seine Fähigkeit zu lieben. Er findet einen Partner und lässt sich auf eine Liebesbeziehung ein. Es gelingt ihm, die Unterschiede seines Partners zu schätzen. Er ist von engen Freunden umgeben. Gelingt es ihm, ein befriedigendes Arbeits- und Gefühlsleben aufzubauen? Gelingt es ihm, sich zu binden oder scheitert er? Ermöglicht ihm diese Zeit, mit anderen intim und solidarisch zu sein?

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Fähigkeit zu lieben und sich zu binden.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Einsamkeit und Isolation.


Stadium 7: (35-65 Jahre) Erwachsenenalter
In diesem 7. Stadium durchläuft der Erwachsene den folgenden Kampf: Fähigkeit etwas aufzubauen versus mit sich Selbst beschäftig sein.

Dies ist die Zeit der Regenerierung, die folgendermassen definiert ist: Die Fähigkeit eines Lebewesens, sich nach der Zerstörung eines Teils von sich selbst wiederherzustellen. Ich werde diesen Prozess weiter unten im Artikel näher beschreiben. Diese Zeit ist auch eine Zeit des Schaffens, d.h. der Fortpflanzung, der Fürsorge für die Familie, der sozialen Einbindung oder der Freude am Geben. Es ist auch die Zeit, um ein Gefühl des Stolzes auf die Arbeit zu entwickeln. Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist oder finanzielle Schwierigkeiten auftreten, können junge Erwachsene nicht in diese Phase eintreten und diese Phase wird verzögert.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Produktivität, Erfüllung.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Stillstand, Unzufriedenheit.


Stadium 8: (65 Jahre und älter) Alter
In diesem 8. Stadium durchläuft die Person den folgenden Kampf: Integrität versus Hoffnungs­losigkeit.

Dies ist das Stadium der Rückschau. Wer bin ich? Wer bin ich mit dem anderen, mit der Welt? Wie habe ich dazu beigetragen? Habe ich ein erfülltes Leben gelebt? Habe ich etwas in meinem Leben getan, auf das ich stolz bin? Die Art und Weise, wie die Person diese Fragen beantworten kann, lässt sie entweder Vertrauen, Autonomie, Erfüllung, Zufriedenheit, Beruhigung, oder aber Verbitterung, Wut und Einsamkeit empfinden.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Weisheit
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Verzweiflung, Verbitterung, Depression

Der Entwicklungsprozess ist keine gradlinige Entwicklung. In jeder Etappe wird das, was in den vorherigen Schritten nicht erfolgreich war, mit dem Ziel der Wiedergutmachung erneut durchgespielt.

Nachdem Sie diese verschiedenen Schritte gelesen haben, mobilisieren Sie weiter Ihre Vorstellungskraft ... Stellen Sie sich vor, Sie wären alt und lägen auf dem Sterbebett. Welche Befriedigung würden Sie in diesem Moment am Ende Ihres Lebens gerne empfinden? Welche Person würden Sie gerne sein? Was würden Sie auf keinen Fall bereuen? Was möchten Sie, dass man über Sie sagt? Es ist noch Zeit ...


Erkundung der siebten Entwicklungsstufe, dem "Erwachsenenalter", anhand meiner persönlichen Erfahrung
Als ich mit meiner Ausbildung in Transaktionsanalyse begann, war ich 33 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren. Ich arbeitete als medizinische Laborantin in einem Krankenhaus und hatte ein Haus auf dem Land. Ich hatte von aussen gesehen alles, was ich brauchte, um zufrieden zu sein. Dennoch langweilte ich mich in meinem Leben und fühlte mich schrecklich leer. Ich wünschte mir eine berufliche Neuorientierung, um der Langeweile zu entfliehen. Im Nachhinein betrachtet hatte ich eine sehr gute Intuition, als ich mich für diesen Weg entschied, getrieben von einem dringenden Wunsch nach Veränderung, ohne etwas über TA zu wissen. Ich stürzte mich ins Ungewisse. Ich wusste damals nicht, dass ich etwas erleben würde, das unendlich viel wichtiger und reicher war als eine berufliche Umschulung: Ich fand mich selbst, indem ich meine Ganzheit wieder aufbaute und so meinem Leben einen Sinn gab.

All die Zeit, die ich damit verbracht habe, mich intensiv weiterzubilden, in Therapie und Supervision zu gehen, intensive Gruppenprozesse zu erleben und mich anderen Strömungen zu öffnen, körperlichen, energetischen, neuro-emotionalen, sehe ich jetzt als einen Weg der Selbstfindung und dann der Öffnung für den anderen und die Welt. Ein Weg zur Autonomie. Mit 50 Jahren befinde ich mich in der siebten Entwicklungsstufe, dem "Erwachsenenalter". Diese Phase hat zwei Ziele: sich selbst zu regenerieren und die Fähigkeit etwas aufzubauen, zu entwickeln. Ohne sich selbst zu regenerieren, ist es meiner Meinung nach nicht möglich, die Fähigkeit, selbstständig zu schaffen, wirklich zu entwickeln.

So bin ich seit vielen Jahren auf dem Weg, um meine physische und psychische Integrität wiederherzustellen und die Teile von mir wiederzufinden, die auf dem Weg des Wachstums verloren gegangen oder verletzt worden sind. Dabei durchlaufe ich die Entwicklungsstufen meines Lebens erneut, um die inneren Kämpfe und die erlebten Beziehungen wiederzufinden. Das ist der Sinn meines derzeitigen Lebens, die Aufgabe, die ich vor dem Alter zu erfüllen habe, meine Verletzungen aus der Vergangenheit zu heilen, um meine Ganzheit und Kraft wiederzufinden. Das ist mein Antrieb, meine Lebensaufgabe, meine Leidenschaft.

Diese Regenerierung hat mir bereits geholfen, viele Qualen und zahlreiche Ressourcen in mir wiederzufinden, die beide eng miteinander verknüpft sind; Qualen, die ich verdrängt und durch starke szenische Abwehr maskiert hatte; Vitalität, die ich durch die Verdrängung ausgelöscht hatte. Durch die Auseinandersetzung mit diesem Thema konnte ich wieder eine gesunde, lebendige und bewusste Beziehung zu mir selbst, meinen Eltern, meinem Mann und meinen Kindern herstellen. Lebendig bedeutet nicht immer bequem!

Diese Regenerierung ermöglichte es mir auch, bestimmte transgenerationelle Traumata, deren Trägerin ich war, wiederzufinden. Dank tiefer therapeutischer Arbeit durch das Unbewusste habe ich meine Familiengeschichte kennengelernt, die Geschichte meiner Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern. Ich habe sowohl ihre Verletzungen als auch ihre Ressourcen entdeckt. Ich habe mich kognitiv, emotional und körperlich mit ihnen verbunden. Auf diese Weise konnte ich eine Verbindung zwischen Körperlichkeit und Psychologie herstellen.
Diese Arbeit ermöglicht es mir, die Stimmigkeit meines Familiensystems sowie meinen richtigen Platz in diesem System wiederzufinden. Sie hat auch eine Öffnung meines Bezugsrahmens, eine emotionale Beruhigung und eine Verringerung meiner körperlichen Spannungen zur Folge.

Da sie Teil des Systems sind, wurden auch meine Kinder durch meine therapeutische Arbeit von bestimmten Blockaden befreit (Befreiung von Symbiosen). So können sie sich individualisieren und ihre eigene Identität in der Andersartigkeit aufbauen. Jeder tut dies auf seine Weise, je nach seiner Persönlichkeit und der Intensität der bestehenden Symbiose.

Auch wenn wir die Traumata, die unsere Vorfahren erlitten haben, nicht kennen, tragen wir sie unbewusst in uns, in unserem Körper und in unserem Herzen, sie schränken uns ein, sie behindern uns, und wir halten die Hoffnung aufrecht, dass sie sich eines Tages auflösen. Sie sind sowohl die Ursache als auch die Lösung unserer Probleme, wenn wir uns für diesen unbewussten Raum in uns "der viel weiss"öffnen und versuchen, ihn bewusst zu machen. Wir sind alle Kinder einer Linie, und wenn wir unsere Zugehörigkeit zu dieser Linie, ihre Verletzungen wie auch ihre Ressourcen akzeptieren, können wir uns mit einem schlüssigen und lebendigen emotionalen System verbunden fühlen.

Laut Eric Erikson ermöglicht uns das Wiedererlangen unserer Ganzheit durch den Prozess der Regenerierung, zu erzeugen, d. h. zu produzieren, zur Welt beizutragen, anstatt in uns selbst versunken, isoliert oder deprimiert zu bleiben. Diese Phase ist die Zeit der Fürsorge, der Freude am Geben, der Zusammenarbeit, der Kooperation, der Weitergabe von Wissen, des Beitrags zur Gesellschaft und zur Welt. Sie entspricht der Phase der Interdependenz, von der Nola Katherine Symor in "Der Zyklus der Abhängigkeit" spricht.

Mit 50 Jahren trage ich durch meine Arbeit als psychosoziale Beraterin, meine TA-Schule, meine Artikel usw. zur Menschheit bei. Ich schätze es, Klienten und Schüler in ihrem Wachstum zu unterstützen, damit sie die Freude empfinden, sich selbst zu entdecken und den Sinn ihres Lebens zu erkennen; damit sie sich wieder mit ihren tiefsten Impulsen und Sehnsüchten, ihrer Selbstdefinition und ihrer Identität in Einklang bringen. Diese spannende Aufgabe erfüllt mich täglich mit Freude und Dankbarkeit und ist in keiner Weise belastend. Danke, Regenerierung! Ich lebe sie aus meinem Erwachsenen-Ich-Zustand heraus und nicht mehr mit dem Ziel, mich selbst zu heilen. Meine Motivation hat jedoch ihren Ursprung in meiner Geschichte: die defekten Bindungen der Familiensysteme durch Bewusstsein und Menschlichkeit zu heilen, um mehr Freude und Lebendigkeit zu erlangen.
Ich habe von der Verbindung zu mir selbst gesprochen, von der Beziehung zu anderen, und wie sieht es mit der Verbindung zur Welt und insbesondere zu unserem Planeten aus? Heute wächst mein Bewusstsein für den Planeten und für meinen aktiven Beitrag, um ihn zu beschützen. Früher hatte ich zu viel mit mir selbst zu tun und konzentrierte mich darauf, meine inneren Kämpfe aus der Vergangenheit zu lösen und eine authentischere Persönlichkeit aufzubauen. Meine Sensibilität für die Sorge um den Planeten nimmt im Zuge meiner Regenerierung zu. Ich ändere mit Freude und Engagement meine Art zu konsumieren und zu essen. Auch wenn diese Veränderung eine gewisse Energie erfordert, kostet sie mich wenig Anstrengung, da mein Handeln selbst und frei gewählt ist und dem Leben dient. Allerdings beobachte ich immer noch, dass trotz aller Regenerierung, die ich vollzogen habe, meine selbstbezogene Sichtweise manchmal die Oberhand über den Schutz des Planeten gewinnt.

Und die Zeit vergeht …

Je mehr ich mich regeneriere, je präsenter ich in meinem Körper bin, desto mehr stabilisiert sich mein Zeitgefühl. Die Zeit im Alltag vergeht weder schnell noch langsam, im Gegensatz zu dem, was ich früher erleben konnte. Ich renne ihr nicht mehr hinterher oder versuche, sie zu beschleunigen, sondern lebe sie einfach, von Tag zu Tag, und geniesse sie. Ich bin mir mehr bewusst, dass die Zeit vergeht, indem ich mich selbst spüre und mich selbst bewohne. Das ist es wahrscheinlich, was der Ausdruck "im Augenblick leben" bedeutet. Berne sprach vom klaren Bewusstsein.
Schlusswort
Meiner Erfahrung nach reicht der Wille nicht aus, um die verrinnende Zeit auszukosten, um sie mit Präsenz und Leidenschaft zu leben. Es reicht nicht aus, sich zu sagen: "Jetzt geniesse ich das Leben". Das ist das Ergebnis eines langen Entwicklungsweges und das Stadium der Regenerierung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin.

In diesem Artikel habe ich Ihnen einen Teil meiner Erfahrungen und Überlegungen zu den Themen "Zeit des Lebens" und "Sinn des Lebens" unterbreitet. Wenn Sie möchten, schlage ich Ihnen vor, die Überlegungen auf Ihrer Seite fortzusetzen, indem Sie sich folgende Fragen stellen:

Und ich, welche Bedeutung messe ich meiner "Lebenszeit" bei? Wo stehe ich in meinem persönlichen Regenerierungsprozess? Was möchte ich noch regenerieren und schaffen? Wo stehe ich auf meinem Weg zu Weisheit und Erfüllung, oder TA-mässig ausgedrückt, zu Autonomie? …

Viel Freude beim Nachdenken
Fussnoten
1 Erik Erikson ist ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe (1902 – 1994)
2 N. K. Symor, « Le Cycle de la dépendance » (Der Zyklus der Abhängigkeit), Actualités en Analyse Transactionnelle n°27, pp. 140 – 145, Les Classiques de l’Analyse Transactionnelle n° 3, pp. 241 – 246
3 D. W. Winnicott britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker (1896 – 1971)



Valérie Perret
Valérie Perret ist Ausbilderin und Supervisorin in Transaktionsanalyse (TSTA-C) und integrativer Psychotherapie (R. Erskine). Sie ist ausserdem in neuro-emotionaler Integration und gewaltfreier Kommunikation ausgebildet. Sie ist Beraterin im psycho­sozialen Bereich und Erwachsenenbildnerin. Sie empfängt Jugendliche und Erwachsene in Einzelsitzungen, in Gruppen und in Paartherapie. Zusammen mit ihrer Kollegin Maryline Authier hat sie eine Schule für Transaktions­analyse in den Bereichen Beratung und Erziehung gegründet. Sie berät, unterrichtet und supervidiert in Donneloye in der Nähe von Yverdon.

pv@bizzini.ch
www.ecoleanalysetransactionnelle.ch
079 405 30 21
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artikeljuni2023

Es ist Zeit…

// Autor: Jürg Schläpfer //
... unsichere Bindungsformen zu erkennen, damit sie frühzeitig vermieden oder gemildert werden können
© Pixabay, cocoparisienne
Ein beflügelndes Bild eines Knaben mit seinem fliegenden Drachen. Dieses Bild wurde von Isabelle Thoresen im Vorwort des TApublik Nr.3 2022/2023 entwickelt und sieht Parallelen zu den Begriffen Freiheit und Verbundenheit. Ich habe dann diese beiden Begriffe mit den Bindungsmustern (John Bowlby) verknüpft. Zwischen Knabe und Drachen besteht, solange die Schnur hält, eine Bindung – und zwar eine sichere.

John Bowlby (1907-1990) definierte das sichere Bindungsmuster als Befriedigung/Erfüllung des Bedürfnisses (des Kleinkindes) nach Schutz und Sicherheit. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, kann das Kind explorieren, das heisst, es kann die Umwelt entdecken. Innere Sicherheit (Bindung) und Exploration (Erkunden der Umwelt) sind dann im Einklang und wechseln sich gegenseitig, meist recht kurzfristig, ab.

Reisst die Schnur, so macht sich der Drachen selbständig und kann nicht mehr gesteuert werden. Die spielerische Balance (freies Kind) zwischen den beiden kann verloren gehen. Von «Drachen-Autonomie» zu sprechen, wäre bei den unsicheren Bindungsformen wohl vermessen, weil der Drachen einem sicheren Absturz nicht mehr ausweichen kann. Neben der sicheren Bindungsstruktur sprachen John Bowlby und Mary Ainsworth von drei unsicheren Bindungsformen: desorientiert, unsicher ambivalent und unsicher vermeidend. Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher und Psychotherapeut spricht in seinem Buch «Bindungsstörungen» gegenwärtig von vielen verschiedenen Bindungssystemen und diversen Mischformen. Brisch ist in der Zuordnung der einzelnen unsicheren Bindungsformen äusserst vorsichtig. Unsichere Bindung heisst in der Regel: Mit der Verbindungs-Schnur gibt’s Probleme. Und dies kann (z.B. bei unsicheren Bindungsstrukturen der Elternschaft) bereits vorgeburtlich passiert sein. Karl Heinz Brisch ergänzt1, dass die sichere Bindungsstruktur in der Kindheit nicht nur essentiell ist und Leitplanken setzt, sondern die eigentliche Voraussetzung für ein resilientes Leben bedeutet. Dann soll die Verbindungsschnur aber im Laufe der Jugendzeit zunehmend lockerer werden und irgendwann in luftiger Höhe sich sogar von der Mutter (oder Bezugsperson) lösen können. Es folgt ein selbstbestimmendes autonomes Weiterfliegen. Dieses Bild scheint mir höchst dynamisch und erinnert transaktionsanalytisch an das freie Kind (fK).
Erstes Beispiel: Desorientierte Bindung
Katharina Bracher beschreibt das Ende des Fox-News-Star Tucker Carlson in der NZZ vom 29. April 2023. Tucker begeisterte Abend für Abend Millionen von Zuschauern während 60 Minuten mit seinen Hasspredigten. Es gelang ihm, sie in seinen Bann zu ziehen bis er Ende April 2023 von einem Tag auf den anderen entlassen wurde, angeblich weil er wissentlich Unwahrheiten verbreitet hatte. Seine Abendsendungen waren in den USA äusserst beliebt und seine Hasstiraden wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.

Was war geschehen? Ich greife auf seine von mir vermutete Bindungsform zurück: Carlson berichtet in einem Interview2 über seine Kindheit: «Es ist schlimm, zu erfahren, dass dich deine Mutter nicht liebt.»
Als Carlson 6-jährig war zerbrach die Familie vollständig. Die Mutter verliess die Familie, nachdem sie bereits jahrelang mit den beiden Kindern überfordert war. Tucker Carlson kannte in seiner Kindheit keine Sicherheit, sondern weitgehende Desorientierung, was vermutlich auf die Drogensucht seiner Mutter zurückgeführt werden kann. Die desorientierte Bindungsform gibt grundsätzlich nirgendwo Halt. Psychische und physische Gewalt gehört dazu. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wut, die diese Kinder in jungen Jahren begleitet, irgendwie ein Bestandteil ihrer Persönlichkeit wird. Dieser negative emotionale Ballast macht es ihnen schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu regulieren. Das wiederum erhöht das Risiko, dass sie irgendwann selbst zu Gewalt greifen was sich auch verbal äussern kann. Und dies war bei Carlson wohl der Fall. Die NZZ schreibt:
«Carlson steigt in seinen Monologen immer ganz oben ein auf der Klaviatur der Wut. Er ist bereits nach den ersten Worten stocksauer und steigert sich immer weiter in seine Rage. Es gibt keinen Sprachwitz, kein Funken Ironie zieht sich durch seinen Sermon. Carlson lässt die Sätze springen wie Knallfrösche. Irgendwann ist alles an ihm nur noch Wut und je länger und tobsüchtiger Carlson’s Monolog – desto eher bleiben die Menschen am Bildschirm.»3

Carlson hatte also vor Millionen von Zuschauern Erfolg. Trotzdem wurden seine «Charakterschwächen» für ihn zum Bumerang. Karl Heinz Brisch spricht bei der desorientierten Bindungsstruktur von fünf hauptsächlichen Eigenschaften:

1. Verzerrte Selbstwahrnehmung und geringes Selbstwertgefühl.
2. Höhere Rate von Verhaltensauffälligkeiten.
3. Angst und Depression.
4. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration. (ADHS tritt gehäuft auf)
5. Veränderungen des Nervensystems.

Zudem:
Es gibt keine durchgängige Verhaltensstrategie.
Vorwiegend zeigt sich emotional widersprüchliches Verhalten.
Es kommt zu motorischen und stereotypischen Sequenzen.
„Freezing“, das heisst Innehalten im Verlauf der Bewegungen und kurzfristiges „Erstarren“.
Erhöhte Stresswerte, wie beim unsicher gebundenen Kind.


Welche dieser Eigenschaften auf Carlson wohl zutreffen, ist schwer zu sagen und ich möchte mich nicht auf Spekulationen einlassen. Was als sicher gelten kann, ist, dass seine ursprüngliche desorientierte Bindung Auswirkungen auf sein inneres Wut-System in seiner Rolle als Fox-News-Moderator hatte. Seiner ursprünglichen Wut auf die Mutter konnte Carlson wohl nicht freien Lauf lassen. Als späterer Moderator war er da freier und konnte seine innere Wut millionenfach «herausbrüllen». Psychotherapie für den Moderator?... das könnte man sich wohl fragen.

Um beim anfänglichen Drachen-Bild zu bleiben: Der Drachen von Carlson hatte schon in seiner Kindheit keinen Haltepunkt, er flog irgendwo herum geriet wohl häufig in Turbulenzen und stürzte – insbesondere nach seiner abrupten Entlassung - irgendwo ab. Und dieses Spektakel könnte sogar geeignet sein, Zuschauer – wie bei einem spanischen Stierkampf – zu elektrisieren. Ich unterstelle die Zuschauerbegeisterung bei Fox News durchaus dieser Tatsache. Fox News hat alle paar Minuten die Zahl der Zuschauer gemessen und stellte bei zunehmender Aggression von Carlson sofort höhere Zuschauerzahlen fest.

Eine desorientierte Bindung hat keine Konstanz. Es gibt ein ständiges Hin und Her, die Schnur des Drachens war gar nie vorhanden oder frühzeitig gerissen. Der Drachen fliegt, baumelt, stürzt je nach Wetterlage dann auch irgendwann ab.

Das folgende Schaubild könnte das gut illustrieren: Rundungen - und damit guter Rhythmus - fehlen, es geht zackig hin und her und nichts ist zum Voraus berechenbar.
Desorientiertes Bindungsmuster: Abrupte Wechsel, die nicht vorausgesagt werden können
Zweites Beispiel: Unsicher-ambivalente Bindung
In der NZZ vom 13.04.2023 findet sich von Christine Brinck unter dem Titel: «Die Angst beim Warten auf ein Bling» ein bemerkenswerter Artikel. Christine Brinck beschreibt die heutige Teenager-Generation, welche sie i-Gen-Generation nennt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Mädchen, welche nach 1995 geboren worden sind. Man hat in einer Studie (Dr. Jean Twenge) herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unglücklichsein der Heranwachsenden und dem sozialen Medienkonsum gibt. «Wir erleben seit zehn Jahren eine Epidemie mentaler Erkrankungen unter Teenagern wie nie zuvor» kommentierten amerikanische Kinderärzte und Psychiater die Ergebnisse der Studie. Verbitterung und Vereinzelung sei seit 2010 in erheblichem Masse gestiegen. Die entsprechenden Verwerfungen hätten präzise 2012 begonnen, als Facebook Instagram kaufte. So sei ein gewisser Anpassungsdruck (Aussehen, Leben, Denken, Abgrenzung von Eltern etc.) unter Teenagern zu beobachten gewesen. Stress, Minderwertigkeitsgefühle, Drogen, Alkohol können die negativen Gefühle verstärken. Dazu kommt eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz des Smartphones. In wenigen Jahren seien die Zufriedenheitsgewinne von zwei Jahrzehnten ausgelöscht worden. Von 2009 bis 2019 sei das Gefühl von Traurigkeit und Trostlosigkeit bei den Teenagern um 40 % gestiegen, unter den 10- bis 24-Jährigen sei zudem Suizid die dritthäufigste Todesursache. Laut der oben genannten Studie geben 60% der Mädchen an, im vergangenen Jahr dauernd Traurigkeit empfunden zu haben und 30% hatten ernsthaft an Suizid gedacht. Weshalb sind Mädchen gefährdeter als Knaben? Weil sie bis zu 6 Stunden täglich über die sozialen Medien ein Damoklesschwert über sich spüren, welches ihnen suggeriert, nicht gut genug zu sein. Sie vergleichen sich fast pausenlos mit anderen, setzen enorm hohe Massstäbe, welche nicht erreichbar seien. Sie halten sich für zu dick oder zu dünn, für zu gross oder zu klein und meinen irgendetwas zu verpassen.
Fazit: Teenager, die mehr reale Zeit miteinander verbringen sind glücklicher, weniger einsam, weniger depressiv als jene welche sich viel in den sozialen Medien tummeln. Elektronische Kommunikation ist kein Ersatz für eins-zu-eins-Begegnungen. Gespräche führen zu Auseinandersetzungen mit anderen Ideen und Meinungen. In der digitalen Welt wird die andere Meinung oft weggemobbt. Der Konformationsdruck steigt.

Bei den beschriebenen Teenagern handelt es sich ebenfalls um ein unsicheres Bindungs­muster. Es können Mischformen sein, vieles deutet auf unsicher-ambivalentes Verhalten hin. Insbesondere das ständige Vergleichen der jungen Mädchen ist auffallend. Man will gefallen, schöner als andere sein. Der Preis ist hoch: Traurigkeit und Trostlosigkeit! Diese Befindlichkeiten passen perfekt zur unsicher-ambivalenten Bindungsform, welche mit allen Mitteln Sicherheit anstrebt und geliebt werden möchte und genau diese Befindlichkeit meistens verpasst. In aller Regel ging es bereits bei den Bindungspersonen um fehlende Berechenbarkeit, was beim Kind zu Ärger und Widerstand führen kann. Das Kind scheint auf die Ambivalenzen der Bindungsperson einerseits mit Rückzug, anderseits mit Annäherung und Kontaktversuchen zu reagieren. Dabei können negative Gefühle kaum integriert werden. In der TA sprechen wir dann gerne von Ersatzgefühlen.
Ersatzgefühle:
Es gibt – gemäss transaktionsanalytischer Theorie - 4 Grundgefühle, nämlich Freude, Angst, Trauer und Wut. Diese Grundgefühle haben eine wichtige Funktion, wenn sie richtig eingesetzt werden. Freude führt zu Lebenslust. Angst schützt vor allfälligen Gefahren. Trauer ist notwendig, um einen Verlust zu verarbeiten. Wut ist sehr wichtig, um die innere Balance behalten zu können. Nicht ausgesprochene Wut, meist runtergeschluckt und ev. gar noch mit einem Lächeln maskiert, führt gerne zu (psychischen) Störungen/Belastungen. Das Lächeln (das der Freude zugeordnet werden kann) ist dann ein Ersatzgefühl. Mit diesem Ersatzgefühl (eigentliche Maske) kann die Wut als ursprüngliches funktionales Gefühl überdeckt werden. Das Ersatzgefühl ist dann dysfunktional - Probleme werden nicht gelöst, sondern lediglich beiseitegeschoben.
Das folgende Schaubild zeigt in der liegenden unsymmetrischen Acht die Verteilung der seelischen Energie bei der unsicher-ambivalenten Bindungsform. Bindung, Bindungssuche, dazwischen Abstürze, weil die Bindung nicht zufriedenstellend gelang, wechseln sich ab. Für das Explorieren bleibt fast keine Energie. Beziehungen stehen permanent im Mittelpunkt, alles dreht sich um Beziehungen, meist um Beziehungen, welche nicht so recht befriedigen, dafür aber vermehrten Gesprächsstoff liefern können.
Unsicher ambivalente Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Bindungsverhalten gesteckt, welches hier sehr viel Raum einnimmt
Das unsicher-ambivalente Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Solche Kinder sind stark auf die Bindungsperson fixiert, wodurch das Bindungssystem stark aktiviert ist.
Das führt auch bei Anwesenheit der Bindungsperson zu stark eingeschränktem Explorationsverhalten.
Kind betrachtet Bindungsperson als nicht berechenbar.
Die unvorhersagbaren Erfahrungen des Kindes führen zu Ärger und Widerstand beim Versuch das Kind zu trösten.
Einmal kann das Kind ärgerlich und aggressiv auf Bezugsperson reagieren, dann aber plötzlich sucht es Nähe und Kontakt.
Negative Gefühle können nicht integriert werden.


Im oben dargestellten NZZ-Artikel geht es vorwiegend um Mädchen. Dazu passt das unsicher-ambivalente Bindungsmuster, wird doch weitgehend beobachtet, dass Mädchen in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen ein Hauptthema bearbeiten: Liebe, Anerkennung und oft auch Neid und Eifersucht. Die äussere Erscheinung wird dann gerne überbewertet, weil diese eben auch viel Anerkennung bringen kann.
Drittes Beispiel: Unsicher-vermeidende Bindung
Unsichere Bindungen wurden unter anderem im dritten Reich «gezüchtet». Johanna Haarer schrieb 1934 das Buch «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind». Dieses Buch wurde ab 1934 allen jungen Müttern im dritten Reich zur Geburt geschenkt. Es sollte dazu dienen, die Kinder zu harten, möglichst gefühlslosen Menschen zu machen. Keinerlei positive Strokes waren erlaubt, stundenlanges weinen lassen wurde gefordert, Trost war verboten, alles musste nach vorgegebenem Fahrplan ausgeführt werden (insbesondere die Stillzeiten). Auch in den 1980er Jahren war das Buch in Deutschland noch weit verbreitet. Es gab sogar Neuerscheinungen mit nur kleinsten Änderungen.

Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt weitgehend vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich häufig durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann dann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt. Dieses Bindungsmuster wird eher bei Knaben festgestellt.

Das unsicher-vermeidende Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Bei Abwesenheit der Beziehungsperson zeigt Kind keine Anzeichen von Beunruhigung oder des Vermissens.
Es exploriert (spielt) scheinbar ohne Einschränkung weiter, zeigt wenig Bindungsverhalten und akzeptiert fremde Personen als Ersatz.
Innerlich ist das Kind aber aufgewühlt.
Die Unterdrückung des Bindungsverhaltens erzeugt hohe emotionale Belastung.
Kommt die Bindungsperson zurück, so wird sie in der Regel abgewiesen.
Die Bindungsperson selbst zeichnet sich meistens durch Aversion gegen Körperkontakt aus und auch durch häufigen Ärger. Riemann würde wohl von einer schizoiden Grundstruktur sprechen.
Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung aufbauen.


Ich komme nochmals auf das Bild des Drachens zurück. Diese drei unsicheren Bindungsformen könnten im «Drachenbild» folgendermassen beschrieben werden:

Bei der desorientierten Bindungsstruktur gab es nie eine Verbindung, der Drachen „geniesst volle Freiheit“. Eine Freiheit, sich auch ins Unglück oder in den Suizid zu stürzen.
Eine unsicher-ambivalente Struktur könnte heissen: Die Schnur besteht aus einem flexiblen Gummizug, kann sich also ausdehnen und verengen. Zudem ist die Schnur dicker geworden. Sie könnte mit einer recht dicken Wäscheleine verglichen werden – die Leichtigkeit (des Seins) ist damit eingeschränkt. In der TA sprechen wir hier gerne von Symbiose, auch von inverser Symbiose. Eine eigene Entwicklung dürfte massiv erschwert sein. Diese Verbindung gibt’s selbstverständlich nicht nur zwischen Kind und Bezugsperson. Wir finden solche Symbiosen auch häufig in jungen, oft auch in alten Partnerschaften.
Bei der unsicher-vermeidenden Struktur ist die Verbindungsschnur wegen emotionalen Enttäuschungen gerissen.
Unsicher-vermeidende Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Explorationsverhalten gesteckt
Erschaffen sicherer Bindungen
Die sichere Bindung ist beglückend. Gemäss Karl Heinz Brisch4 gibt’s in der Baby-Zeit eine klare Schnur-Verbindung, die dann mit der Zeit gelockert werden kann und schliesslich zur eigentlichen Autonomie führt. Dann ist die Verbindung weitgehend aufgelöst. Dies geschieht aber nicht im Streit, sondern ganz natürlich. Gute Gefühle bleiben.

Das folgende Bild soll diese gleichmässige rhythmische Lebensart aufzeigen:
Sichere Bindung5: Bindung und Exploration sind rhythmisch und ausgewogen geprägt
Diese rhythmische und gesunde Lebensform ist das Beste was einem Kind geboten werden kann. Eine starke (oft lebenslängliche) Resilienz ist die Folge. Bei Erwachsenen, welche zwecks Erreichung einer sicheren Bindung, eine Gesprächstherapie aufnehmen, schlage ich beispielsweise folgende zwei Therapie-Ansätze vor:
Yalom’sche Gesprächsmethode
Irvin Yalom hat mit verschiedenen Klienten ein sogenanntes Experiment durchgeführt. Anschliessend an eine Sitzung wurde über den abgelaufenen Prozess nachgedacht (nicht über den Inhalt der Sitzung). Dann, etwa einen Tag später, schrieb Yalom seine Erkenntnisse auf und sandte diese seinem Klienten. Genau zeitgleich lief es auch umgekehrt vom Klienten zum Therapeuten. Natürlich deckten sich die Beschreibungen oft nicht – das ergab dann in der nächsten Sitzung Diskussionsstoff und im besten Fall eine Klärung. Diese Methode lässt Hierarchien verschwinden, es entsteht Augenhöhe. Natürlich soll auch der Therapeut sich offenbaren und nicht lediglich als Zuhörer fungieren. Meiner Erfahrung nach hilft dies, eine sichere Bindung zwischen Therapeut und Klient herzustellen. Diese neue Erfahrung kann dann vom Klienten als Modell benützt werden und in die Praxis umgesetzt werden.
Symbiosen auflösen
Das Kleinkind lebt mit seiner Mutter normalerweise in einer gesunden Symbiose. Die Mutter ist fürsorglich und handelt weitgehend aus ihrem Erwachsenen-Ich. Das Kind hat diese beiden Ich-Zustände noch nicht zur Verfügung und benützt deshalb sein Kind-Ich. Beide zusammen benützen also drei Ich-Zustände. Später, wenn das Kind sich von der Mutter emanzipieren möchte oder auch bei symbiotischen Paarbeziehungen sollten alle drei Ich-Zustände bei beiden Personen funktionieren und eingesetzt werden können. Nicht aufgelöste Symbiosen bei Paaren zeichnen sich meist durch drei gemeinschaftliche Ich-Zustände aus: Eine Person bestimmt wo’s lang geht und leistet auch fast alle Denkprozesse. Die andere Person unterzieht sich meistens und gehorcht oder rebelliert innerlich. Daraus folgt Abhängigkeit, Autonomie ist für beide Teile letztlich nicht möglich. Zur Entwicklung menschlicher Reife und dem Erreichen einer sicheren Bindung gehört die Auflösung der Symbiose. Im Bild des anfänglich erwähnten fliegenden Drachens würde in einer Symbiose zwischen Drachen und Drachenführer keine Schnur eingesetzt, sondern eher ein dickes Wäscheseil, welches jegliches Vergnügen einschränken würde

Das Ziel jeder menschlichen Beziehung, sehe ich – wie John Bowlby und auch Karl Heinz Brisch dies postulieren – im gegenseitigen, ehrlichen Austausch. Dies entspricht dann einer transaktionsanalytischen ++ Grundposition oder auch dem wunderbaren anfangs erwähnten Drachen-Bild.
Literaturangaben
Karl Heinz Brisch, 2020: Bindungsstörungen, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2022: SAFE- Sichere Ausbildung für Eltern, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2023: Gestörte Bindungen im digitalen Zeitalter, Klett-Cotta, Stuttgart
Johanna Haarer, 1997: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, J. F. Lehmanns Verlag, München - Berlin 1941
NZZ vom 13. April 2023: Christine Brinck, Die Angst beim Warten auf ein Bling
NZZ vom 29. April 2023: Katharina Bracher, Er lässt die Sätze springen wie Knallfrösche: Fox-News-Star Tucker Carlson
Irvin D. Yalom, 2013. Die Liebe und ihr Henker, Verlag btb, München
Irvin D. Yalom, 2017. Wie man wird, was man ist, Verlag btb, München
Fussnoten
1 Telefonat vom 12. Mai 2023
2 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
3 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
4 Telefonat vom 12. Mai 2023
5 Diese Illustrationen entstanden spontan während eines «Bindungs»-Seminars an einem TA-Kongress durch mich angeregt und durch Beiträge der TN ergänzt. Jede einzelne Bindung wurde mittels Herumlaufen (aller TN) im Raum illustriert. Dabei galt es auf seine Gegenübertragung zu achten und dabei festzustellen, was eine angenehme oder störende Wirkung auslöste. Interessant war, dass nicht etwa die «sichere Bindung» (gegenseitiger Augenkontakt, kurze nonverbale Begrüssung, dann Exploration im Raum, dann wieder menschlichen Kurzkontakt usw.) innerliche Freudensprünge ausgelöst hatte. Es war die ursprüngliche Bindung, welche innerliche Verwandtschafts-Gefühle hochkommen liessen und den TN heimische Gefühle vermittelten. Wer in jungen Jahren Unsicherheit erleben musste, konnte mit der Übung «Sicherheit» kaum etwas anfangen. Bei der desorientierten Übung gab’s keine Kontinuitäten, alles sehr kurzfristig, hastig und nervös. Ein Beobachter hätte ADHS diagnostiziert. Bei den ambivalent-unsicheren Bindungsbegegnungen ging es nur um Menschliches, ums Berühren, ums Klammern etc.- Bei den unsicher-vermeidenden Begegnungen gab es keine Augenkontakte, Projektoren, Stühle und Tische wurden angefasst und untersucht.
Jürg Schläpfer TSTA/E


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