artikeloktober2022

Vom Aufhören-Können

// Autorin: Jacqueline Dossenbach-Schuler //
Während dem Lesen des Artikels „vom Anfangen-Können“ von Franz Liechti-Genge kam mir der Gedanke das Thema umzudrehen und mich zu dem, was mich schon länger beschäftigt zu äussern – nämlich – „vom Aufhören-Können“. Dieser Gedanke hängt mit meiner gegenwärtigen Lebenssituation zusammen, in der ich mich mehr und mehr mit dem „Aufhören-Können“ beschäftige.
Franz Liechti-Genge ging der Idee nach, die Menschen von ihrer Geburt her statt von ihrer Sterblichkeit her zu bestimmen. Ich drehe auch das um und setze mein Thema „Aufhören-Können“ wieder mit der Sterblichkeit in Zusammenhang.
Wir hören im Laufe unseres Lebens mit vielem auf. Zum Beispiel hören wir mit Rauchen auf, vielleicht unserer Gesundheit zuliebe. Oder wir hören mit gewählten Freizeit- oder Sportaktivitäten auf, weil wir keinen Spass mehr daran haben oder diese aus physischen Gründen nicht mehr ausführen können. Wir verändern unsere beruflichen Tätigkeiten, weil sich die Abläufe wiederholen und wir etwas Neues anfangen wollen. Das sind gängige „Aufhör-Abläufe“ im Fluss unseres Lebens. Wir hören mit etwas, das zur Genüge gelebt wurde, auf und setzen an dessen Stelle etwas Neues. Ich möchte mich mit diesem Artikel vom „Aufhören-Können“ mit Aufhören im Sinne von endgültigem Aufhören auseinander setzen. Etwas beenden, das wir nicht mit etwas Neuem ersetzen, sei es, weil wir das nicht mehr wollen oder nicht mehr können. An dessen Ende ja unsere Sterblichkeit steht.
Dieses Aufhören-Können braucht sowohl einen Grund als auch Vertrauen. Nicht in dieser heute gängigen Schweizer Redensweise „Es chunt scho guet“, sondern im Wissen, dass diese Form von Aufhören ein Abschiednehmen ist, das schmerzt und Trauer auslöst. Dazu brauche ich Vertrauen in mich selbst, damit ich mich dem Schmerz stellen und die Trauer zulassen kann.
Von Geburt an strebt das menschliche Wesen nach Individualisierung und nach Entwicklung zu einem autonomen Menschen. Eric Berne sagt in seiner Definition von Autonomie: Wer autonom ist und als „Erwachsenenperson“ ungetrübt urteilt, entscheidet und handelt, kann frei über seine Ich-Zustände verfügen und nimmt keine symbiotische Haltung ein. Auf dem Weg zur Autonomie enttrübe ich mich soweit wie möglich und befreie mich von alten, übernommenen Glaubenssätzen. Als autonomer Mensch übernehme ich aber auch Verantwortung für die Entscheidungen, die ich treffe.
Im Buch „Nachruf auf mich selbst – Die Kultur der Aufhörens“ von Harald Welzer lese ich, dass Aufhören das Erreichte sichert, während Weitermachen dieses banalisiert.
Ich konzentriere mich in der Folge auf das Aufhören-Können als Berufsfrau. Da ich freiberuflich tätig bin, habe ich ja den Vorteil, dass ich die Beendigung meiner beruflichen Tätigkeit selbst gestalten kann und nicht am Tag X von einem Arbeitgeber verabschiedet werde. Ich kann die Art und Weise wie ich mich langsam und für mich bekömmlich von meinen beruflichen Tätigkeiten zurückziehe selbst gestalten und den Zeitpunkt des endgültigen Aufhörens selbst festlegen. Das bedeutet aber auch, dass ich selbst verantwortlich bin. Die oben genannte Aussage von Harald Welzer macht für mich Sinn und heisst für mich gleichzeitig, dass ich als autonomer Mensch verantwortlich bin, mein Erreichtes zu sichern und es nicht durch Nicht-Aufhören-Können zu banalisieren. Ich bin verantwortlich für mich zu sorgen. Darauf zu achten, was ich mir physisch und psychisch noch zumuten kann und will. Dazu benötige ich Vertrauen in mich selbst und auch Vertrauen in die Anderen. Zum Beispiel dass sie mir ehrliche Rückmeldungen geben und mich auch konfrontieren, wenn ich dazu neige an Altem, das mittlerweile überholt ist, zu hängen. Bekanntlich neigt der Mensch ja dazu an alten Überzeugungen, an mal Angelerntem zu hängen, weil es ihm vertraut ist und Neues oft mit Angst verbunden ist.
Ich bin selbst verantwortlich, dass ich Rückmeldungen offen zuhöre, ohne mich oder die Anderen abzuwerten. Gleichzeitig tue ich auch gut daran, darauf zu achten, dass ich gut Aufhören kann. Das kann heissen Angefangenes zu Ende zu bringen, das kann aber auch heissen, an NachfolgerInnen zu übergeben was weiter gehen soll. Dazu brauche ich wiederum Vertrauen in mich und in alle meine Persönlichkeitsanteile. Dass ich mit meinem Erwachsenen-Ich realistisch abschätze wann es gut ist aufzuhören und auch dafür sorge etwas rund zu machen und gut abzuschliessen. Dass mein Eltern-Ich meiner Entscheidung vertraut und sie befürworten kann. Dass mein Kind-Ich, sich über meine Entscheidung freut und darauf vertraut, dass es die gewonnene freie Zeit geniessen kann, auch wenn es noch nicht genau weiss, wie.
Während diesen Prozessen ist es hilfreich die Konzepte der „Psychologischen Spiele“ präsent zu haben und die eigenen Spielanfälligkeiten zu kennen. Was als beendet erklärt wurde dabei zu belassen. Auch wenn es zahlreiche Gründe gäbe zu irgendwelchen Hintertürchen „wieder herein zu kommen“. Zum Beispiel mit Spielen mit sich selbst, ob „man nicht doch noch zum Rechten schauen muss“, oder auch verführerischen Strokes, wie „Ihre/deine Beratungen/Schulungen sind doch die Besten und ich kann mir keine andere Person an deiner Stelle vorstellen“ zu erliegen.
Vor allem, wenn wir unseren Beruf engagiert und mit Freude ausüben, identifizieren wir uns mit ihm, und beziehen auch viel Anerkennung und Zuwendung aus unserer Tätigkeit. Eric Berne schreibt, dass positive Zuwendung für jeden Menschen von der Geburt bis zum Tod ein Grundbedürfnis ist.
Wieder ist es in unserer eigenen Verantwortung darüber nachzudenken, wie wir nach dem „Aufhören“ mit ausbleibender Anerkennung und Zuwendung umgehen. Haben wir die „Strokes“, die wir während der Ausübung unseres Berufes bekamen, wirklich angenommen, uns einverleibt und uns damit gesättigt? Sind wir uns bewusst, dass wir auf die Strokes, die wir in beruflichen Zusammenhängen ernten durften in Zukunft verzichten müssen? Können wir dafür zu sorgen, dass wir keinen Mangel leiden?
Von meiner Kindheit und meinem jungen Erwachsenenalter her trage ich ein Bild von Menschen in mir, die pensioniert wurden. Dieses unterscheidet sich von heutigen AHV- und Rentenbezüger. In meiner Umgebung waren die Menschen damals der Arbeit überdrüssig und froh, dass sie sich den Erwartungen und Anforderungen nicht mehr stellen mussten. Sie freuten sich an ihren Enkeln, am Spazierengehen und wenn alles gut ging, erfüllten sie sich noch ein paar Reisewünsche. Diesen, meinen alten, Bezugsrahmen habe ich im Laufe meines Lebens weitgehend ersetzt und/oder ergänzt. Ich erlebte und erlebe immer mehr Menschen, die in der gleichen Situation, die klare Pläne und Projekte haben, die sie noch angehen wollen.

Ich komme darauf zurück, dass ich als frei Schaffende Stück für Stück von meinen beruflichen Verpflichtungen ab- oder weitergeben kann. Dadurch gewinne ich Zeit, die ich entschieden habe nicht mehr mit neuen beruflichen Verpflichtungen zu füllen. Ich habe die Möglichkeit mich mit Dingen zu beschäftigen, die äusserlich nicht mehr so sichtbar sind und mir, wie oben erwähnt, keine Strokes mehr einbringen. Ich kann mich vermehrt den „Fragen des Lebens“ und somit auch meiner Sterblichkeit zuwenden.
Das ist ja die Kunst des Aufhörens. Sich bewusst machen und es tatsächlich realisieren, akzeptieren, dass es vorbei ist. Das ist etwas, das meines Erachtens, Menschen oft sehr schwer fällt. Aufhören müssen wir, wie jede andere Fähigkeit, lernen. Aber nicht nur Aufhören müssen wir lernen, sondern auch die Fähigkeit, nicht jede verfügbare Zeiteinheit unter Nutzenkriterien zu betrachten. Ein Sternenhimmel oder die sich kräuselnden Wellen eines Sees sind ja auch sehr schön, auch wenn man nichts anderes damit machen kann als sie anzusehen und zu geniessen. Es ist durchaus möglich einen sorgsamen und freundlichen Umgang mit der Zeit einzuüben und sie und mich von den Zumutungen des Nützlichen zu befreien.
Die Künstlerin Annemarie von Matt, deren Lebenswerk ich sehr schätze, hat vor ihrem Ableben gesagt, sie sei lebenssatt. Diese Aussage gefällt mir, denn aus meiner Sicht geht es doch darum, auf das längere Stück des bereits gelebten Lebens zurück zu blicken. Zufrieden und dankbar auf das zu schauen, was gelungen ist und sich mit dem zu versöhnen, was nicht gelungen ist. Vielleicht weil wir an einer Wegkreuzung die falsche Abbiegung gewählt haben. Sich auch zuzugestehen, dass wir aus unserem damaligen Wissensstand und Lebenserfahrungen heraus entschieden haben. Vielleicht haben damals noch aktive Skriptglaubenssätze, Antreiber und Einschärfungen bei unserer Entscheidung mitgewirkt. Oder die Angst davor nicht oder nicht mehr geliebt zu werden. Wenn wir fähig sind das gelebte Leben aus diesen Gesichtspunkten anzuschauen, haben wir uns meines Erachtens in einem Gewinnerskript bewegt. Dies bedeutet nicht etwa, dass wir immer gewonnen haben, sondern uns – gemäss Eric Berne – bei unterlaufenen Fehlern damit auseinander gesetzt haben, was wir das nächste Mal anders machen können. Wenn wir, wie am Anfang dieses Absatzes beschrieben, auf unser gelebtes Leben zurückblicken, haben wir uns vermutlich mit Mut und Zuversicht realistische Ziele gesetzt und diese auch erreicht.
Um meinen Sinn des Lebens annehmen zu können, brauche ich Vertrauen und Autonomie. Um mir sagen zu können, „das ist mein Sinn des Lebens, so hat mein Leben Sinn gemacht“, muss meine Individuation stattgefunden haben. Das bedeutet, dass ich nicht länger meinen Antreibern nacheifere und darauf vertraue, dass ich genüge. Mich also mehrheitlich in einem realistischen Ok/ok, ich bin okay so wie ich bin und die anderen sind das auch, bewege. Und dies, auch wenn nicht alles, was ich oder was die anderen getan haben okay war.
Sich nach dem Aufhören der beruflichen Tätigkeiten zu fragen, „was will ich in meiner Lebenszeit noch anfangen, gibt es noch realistische Wünsche, die ich mir noch erfüllen will?“ Gleichzeitig gilt es Wünsche zu begraben, die ich mal gehegt habe. Sodass ich mein Leben abrunden und mich am Ende anstatt lebensmüde lebenssatt fühlen kann.
Zu diesem Artikel inspiriert hat mich auch das bereits erwähnte Buch von Harald Welzer „Nachruf auf mich selbst“. Während ich mich mit diesem befasste, habe ich mich auch wieder erinnert, dass Eric Berne einmal geschrieben hat, dass wir unsere Inschrift auf dem Grabstein schon früh selbst verfassen können. Harald Welzer ändert das ab und regt an, sich zu überlegen, was dereinst im Nachruf stehen soll. Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden, denn solange wir leben, haben wir die Chance unseren Nachruf zu beeinflussen.
Fazit: Feiern wir unser Leben, sodass wir dann mit unserem Tod umgehen können!
Literaturverzeichnis
Berne Eric (1967), Spiele der Erwachsenen, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg
Berne Eric (1975), Was sagen sie nachdem sie guten Tag gesagt haben, Kindler Verlag, München
Berne Eric (1991), Transaktionsanalyse der Intuition, Jungfermann Verlag, Paderborn
Kast Verena (2010), Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben, Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau
Rössler Beate (2017), Autonomie – Ein Versuch über das gelungene Leben, Suhrkamp Verlag, Berlin
Schlegel Leonhard (1988), Transaktionale Analyse, A. Francke Verlag, Tübingen
Schmid Wilhelm (2016), Das Leben verstehen, Suhrkamp Verlag, Berlin
Steiner Claude (1982), Wie man Lebenspläne verändert, Jungfermann Verlag, Paderborn
Von Matt Annemarie (2003), 1905-1967 Einblick in meine Unterwelt, Herausgeb. Baltensperger Marianne, Helbling Regine, Gerster Ulrich und Heini Gut, Benteli Verlag, Bern
Von Matt Annemarie (2008), Dunkelschwestern, Herausgeb. Kurzmeyer Roman und Perret Roger, Scheidegger und Spiess Verlag, Zürich
Welzer Harald (2021), Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens, S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main
Jacqueline Dossenbach-Schuler
Lehrende und Supervidierende
Transaktionsanalytikerin im Bereich Beratung
Mal- und Gestaltungstherapeutin IAC
www.transaktionsanalyse-ausbildung.ch
jacqueline@dossenbach.net
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artikelnovember2022

Vertrauen im Projektkontext aktiv gestalten

// Autorin: Susanne Alt //
Die Notwendigkeit von Vertrauen im Arbeitskontext
Sowohl im Arbeits- als auch im privaten Umfeld nehmen wir durch Digitalisierung, Globalisierung, Technologisierung des Lebens und diversen Krisen eine Zunahme an Unsicherheit und Komplexität wahr. Im Arbeitskontext wird darauf immer öfter mit der Form des agilen Arbeitens reagiert. Wobei es in der Wissenschaft und in den Unternehmen noch kein einheitliches Verständnis zum Begriff „Agilität“ gibt. Die Aspekte Schnelligkeit und Flexibilität stehen meist im Vordergrund. Die Einführung von „Agilität“ in Unternehmen und Projekten bleibt oft bei einer strukturellen Veränderung und der Anwendung von Methoden hängen. Damit ist jedoch noch nicht klar, wie die Zusammenarbeit unter den geänderten Bedingungen funktionieren kann.
Manche Unternehmen nehmen Hierarchieebenen raus und orientieren sich stärker an Teamarbeit als Gegenmodell von Abteilungen und dem damit verbundenen Silodenken. Die Art der Zusammenarbeit und die damit einhergehende Dynamik ändert sich dadurch grundlegend: Es braucht mehr persönliches Engagement, Übernahme von Verantwortlichkeit und eigenständiges Arbeiten von allen Beteiligten. Die Grenzen zwischen Tätigkeiten in einem Projekt und in einer Linienorganisation verschwinden zunehmend. Schnell zu kommunizieren und zu entscheiden, sich frei mit Kolleg:innen aus unterschiedlichen Bereichen austauschen zu können, Kreativität für neuartige Situationen zu nutzen und andere Aspekte von Teamwork sind im ganzen Unternehmen gefordert (1) und basieren zunehmend auf Vertrauen. (2)
Neben der individuellen Fähigkeit Vertrauen zu entwickeln, stellt sich die Frage, wie sich Vertrauen in der Zusammenarbeit beschreiben und erreichen lässt. Was brauchte es, um Vertrauen im Arbeitskontext zu initiieren und zu ermöglichen?
Zunächst werde ich ein Modell von Stephen M.R. Covey (3) erläutern, in welchem die Faktoren zur Gestaltung von Vertrauen gut nachvollziehbar beschrieben werden. Anschließend erläutere ich anhand eines Modells aus der Transaktionsanalyse, wie ich dieses unterstützend für das Gestalten von Vertrauen im Projekt nutze.

Vertrauen ist nicht nur ein Gefühl
Für die Arbeit in Teams und mit Organisationen finde ich das Verständnismodell zum Thema Vertrauen von Stephen M.R. Covey hilfreich. Vertrauen ist demnach nicht nur ein (zufälliges) Gefühl. Wenn wir jemandem vertrauen, dann glauben wir an die Verlässlichkeit und die Fähigkeit eines anderen. Vertrauen basiert damit auf den zwei Faktoren Charakter und Kompetenz (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Zwei Faktoren für Vertrauen und ihre Aspekte nach Covey
Der Charakter eines Menschen wird in diesem Modell anhand der beiden Aspekte Integrität und Absicht gegenüber anderen beurteilt. Die Integrität eines Menschen hat mit seinen persönlichen Werten und Idealen zu tun.
Ähnlich wie die Wurzel eines Baumes, geben diese Nährstoffe, Halt und Wachstum für unser Denken und Verhalten. Andere können die Integrität insbesondere an einer Übereinstimmung zwischen den Worten und dem Handeln einer Person erkennen. Die Absichten eines Menschen geben wie der Stamm eines Baumes auf Basis unserer Motive die grundlegende Richtung für unser Verhalten vor.
Die Kompetenz einer Person schätzen wir über die Aspekte Fähigkeiten einer Person und die erzielten Ergebnisse bzw. Erfolge ein. Unsere Fähigkeiten sind wie die starken Äste eines Baumes, aus denen die Früchte – also die Ergebnisse unserer Leistungen – erwachsen. Zu den Fähigkeiten gehören neben dem Können auch unser Wissen, die Talente und Einstellungen, welche dem Können zu Ergebnissen verhelfen. Dazu ein Beispiel: Im Projekt sind bisherige Erfolge und gezeigte Fähigkeiten Entscheidungskriterien um Mitarbeiter aus einer Abteilung in ein Projekt zu entsenden. Diese Aspekte von Kompetenz reichen jedoch für eine tragfähige, vertrauensvolle Zusammenarbeit im Projektteam nicht aus. Es muss erst geklärt werden, wie integer und mit welchen Absichten sich das Teammitglied einbringen wird. Werden Abteilungsinteressen (bei unternehmensinternen Projekten) bzw. Unternehmensinteressen (bei Projekten mit Externen) mit höherer Priorität vertreten als die Interessen des Projekts, wird das Vertrauen in der Zusammenarbeit eingeschränkt. Der Aufwand für Kontrolle, Nacharbeit, (Überredungs-) Diskussionen und Konfliktbearbeitung wird deutlich höher sein, als bei einem Team mit einer starken Vertrauensbasis. Meiner Erfahrung nach, leidet dann auch die Qualität der Ergebnisse darunter.

Vertrauen mit Modellen der TA gestalten
Vertrauensgrundlage: Verträge
(Projekt-) Organisationen sind Vertragsgemeinschaften. Verträge geben Richtung und Orientierung und halten alles zusammen. Es geht darum, die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass alle Beteiligten Verantwortung für sich selbst und für ihre Aufgaben übernehmen können. Fehlen Vereinbarungen, zeigt sich dies an spannungsgeladenen Situationen, unklaren Arbeitsverhältnissen, verdeckter und destruktiver Kommunikation. Fehlende Offenheit und Misstrauen, also das Gegenteil von Vertrauen, ist die Folge.
Unter Vertrag verstehen wir in der Transaktionsanalyse nicht nur den geschlossenen Vertrag auf einer rechtlichen und inhaltlichen Ebene. Er umfasst insbesondere auch die „inneren Verträge“, in denen es um Erwartungen, Hoffnungen, Ängste und Rollenzuschreibungen geht.(4) In diesem Sinne geht es um Vereinbarungen, die sowohl für die inhaltliche, als auch für die Beziehungsebene wesentlich sind. Beispielsweise werden in einem unternehmensinternen Projektauftrag Ziel und Rahmenbedingungen wie Zeitrahmen, Budget, Leistungskriterien und oft auch die Teamzusammensetzung geregelt. Manchmal findet man auch Beschreibungen zu den projektspezifischen Rollen. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie das Miteinander tatsächlich stattfinden kann. Wie soll sich ein Teammitglied verhalten, wenn es zwischen dem Projekt und der Organisationseinheit, von der es entsendet wurde, divergierende Interessen gibt? Wie soll mit der Situation umgegangen werden, wenn ein Teammitglied sieht, dass sich zeitlich nicht alle Arbeitsanforderungen unterbringen lassen? An wen soll es sich damit wenden? Dies sind einige Fragen, die sich bei einem vernetzten Beziehungsgefüge im Projektmanagement und in den Organisationen ergeben.
Da Transaktionsanalyse eine vertragsorientierte Methode ist, gibt es viele Konzepte zum Thema Verträge. Nachfolgend werde ich anhand des Vertragsmodells von Claude Steiner auf den Zusammenhang von Vertragsgestaltung und Vertrauen eingehen.
Grundvoraussetzungen für Verträge nach Claude Steiner
Worauf ist bei der Gestaltung einer Arbeitsvereinbarung, die für beide Seiten bindend ist, zu achten? Was braucht es, damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Vereinbarung hält, und die „Ausreden“ abnehmen? Claude Steiner (5) hat aus seiner Praxis des Vertragsschlusses mit Patienten neben den juristischen, kaufmännischen Aspekten, vier Voraussetzungen für einen „gesunden“, tragfähigen Vertragsabschluss herausgearbeitet. Jede dieser Voraussetzungen bedient auch Aspekte für einen Vertrauensaufbau gemäß dem Modell nach Covey:
1. Gegenseitige Übereinkunft
2. Leistung und Gegenleistung
3. Geschäftsfähigkeit
4. Legale und ethische Zielsetzung
1. Gegenseitige Übereinkunft
Ein Vertrag muss auf beiderseitigem Einverständnis beruhen. Heute wird im Arbeitskontext oft von „Commitment“ gesprochen. Neben den Vereinbarungen zu Zielen, Methoden und Ergebnissen der Arbeit, geht es dabei auch um die innere, emotionale (Selbst-)Verpflichtung, sich einer Aufgabe, einem Projekt voll und ganz zu widmen. Dies soll gegenseitig, ohne Zwang und Nötigung erfolgen. Sonst klappt es mit der „inneren“ Zustimmung nicht.
Es reicht nicht, dass jemand kommt und sagt: „Machen Sie bei diesem Projekt mit“. Wenn Bedenken hinsichtlich freier Personalkapazität von Führungskräften mit Aussagen wie: „Einer muss diese Arbeit machen.“ oder „Das kriegen Sie schon hin“ gekontert werden, trägt dies nicht zu einer nachhaltig wirksamen Vereinbarung bei. Ebenso ist es, wenn auf Bedenken zur Sinnhaftigkeit eines Projektes oder einer Aufgabe nicht eingegangen wird. Dann wird die Mitarbeiterin nicht wirklich ernst genommen und die Gegenseitigkeit fehlt. Es braucht eine Verhandlung darüber, wie diese Zusammenarbeit, dieses Teamwork funktionieren kann. Damit Loyalität nicht nur einseitig vom Mitarbeitenden zum Unternehmen, sondern auch vom Unternehmen zum Mitarbeitenden sichtbar wird.
2. Leistung und Gegenleistung
Beide Seiten müssen das Gefühl haben, es gibt einen adäquaten Austausch von Leistungen. Der Mitarbeiter stellt Zeit und Kompetenz und (emotionale) Selbstverpflichtung zur Verfügung. Die Organisation, vertreten durch die Führungskraft, bringt die Arbeitsbedingungen, Anerkennung, Entlohnung und anderes ein. Sobald sich eine Seite benachteiligt fühlt, besteht kein tragfähiger Vertrag, was zur Reduzierung von Vertrauen führen kann.
Wir denken beim Austausch von Leistungen eher an die inhaltlichen Aspekte. Dies würde im Modell von Covey den Vertrauensaspekt der Kompetenz abdecken. Diese aufgabenorientierte Sicht deckt jedoch das Thema „Leistungserbringung“ nur unvollständig ab. Menschen wollen sich einbringen und ihre Fähigkeiten zeigen. Sie wollen erfolgreich sein und auch im Arbeitskontext wertschätzende, offene, auf Gegenseitigkeit basierende Beziehungen leben. Sie brauchen vertrauensvolle Beziehungen, um ihre Leistung qualitativ und quantitativ in einer für sie gesunden Art und Weise erbringen zu können. Selbst Arbeitsplätze, welche als losgelöst von anderen Arbeitsplätzen wahrgenommen werden, existieren nicht in einem beziehungsleeren Raum. Tragfähige (Arbeits-) Beziehungen entstehen nicht einfach so. Dazu braucht es Beziehungsarbeit, die von allen Beteiligten gleichermaßen zu erbringen ist.
In einem Projekt kann sich dieses Ungleichgewicht beispielsweise durch wiederkehrende Diskussionen über Hol- und Bringschuld zeigen. An der Oberfläche geht es in der Diskussion um die Gestaltung des Austauschs von Informationen. Stellt sich die Frage immer wieder, dann könnte es unter der Oberfläche um die Frage gehen: Wer geht wann auf wen zu? Es ist eine Diskussion, bei der es um die Gestaltung der Arbeitsbeziehung geht. Wann empfinden wir das „aufeinander Zugehen“ als ausgewogen?
Ebenso kann ein Ungleichgewicht beim Austausch von Leistungen empfunden werden, wenn sich die Kommunikation und die Begegnung im Unternehmen oder in Projekten weitgehend auf den Austausch von Zahlen, Daten, Fakten mit dem Fokus auf Zielerreichung und Aufgabenerledigung beschränkt. Menschen spüren oft unbewusst, dass mit ihnen wie mit Maschinen umgegangen wird – wenn auch ungewollt. Wir Menschen brauchen echtes Interesse aneinander, wir wollen wahr- und ernstgenommen werden. Gerade wenn es um Teamwork geht, ist es wichtig regelmäßig inne zu halten und zu fragen: „Wie geht es uns miteinander? Was brauchen wir, um respektvoll miteinander umzugehen?“ Wer sagt: „Dazu haben wir keine Zeit“ bringt damit zum Ausdruck, dass er oder sie kein Interesse oder kein Verständnis für diese menschliche, beziehungsorientierte Seite hat. Damit wird ein vertrauensvolles Miteinander eingeschränkt. Das Motiv eines aufrichtigen Interesses an einer ausgewogenen Arbeitsbeziehung wird nicht sichtbar.
3. Geschäftsfähigkeit
Für einen gesunden Vertrag müssen die Beteiligten für den von ihnen übernommenen Leistungsteil qualifiziert sein. Bei dieser Voraussetzung für eine tragfähige Vereinbarung geht es um den Kompetenz-Aspekt bei der Gestaltung von Vertrauen.
Bei der Qualifikation der Beteiligten stehen die fachlich-inhaltlichen, die methodischen, die kommunikativen und die zwischenmenschlichen Fähigkeiten im Fokus. Diese müssen zur Aufgabenstellung und dem jeweiligen Kontext passen. Neben diesem Blick auf Wissen und Können geht es beim Thema der Fähigkeiten auch um die Einstellung, das Denken und den persönlichen Stil, welche zur Situation, zur Aufgabenstellung und zum organisatorischen Rahmen passen sollten. Dies hat unmittelbar Einfluss darauf, ob ich gute Ergebnisse erzielen kann. Ebenfalls ein vertrauensbildendes Element.
Ein Beispiel: Für ein Projekt wurden die besten Personen des Unternehmens zu einem Team zusammengeschlossen, jedoch will es mit den Ergebnissen nicht so richtig klappen. Sowohl von Seiten des (Projekt-)Auftraggebers, als auch innerhalb des Teams sinkt das Vertrauen in das Projektteam. Der Blick auf den Projektvertrag und das Controlling des Projektplans helfen nicht weiter. Jeder bringt sein Bestes, bringt sich mit viel Aufwand ein. Was dabei übersehen wird: Es fehlt die Erkenntnis, dass es hier um echtes Teamwork geht. Das sehr gute Nebeneinanderarbeiten zeigt im Laufe der Zeit seine Grenzen. Um das Projektziel zu erreichen wird es nun erforderlich, miteinander anstatt nebeneinander zu arbeiten. Aufgrund der fehlenden Erfahrung verstehen die Projektmitglieder nicht, was mit dem „Miteinander“ gemeint ist. Sie hatten in ihrer bisherigen Arbeit die Fähigkeit zu echtem Teamwork nicht gebraucht. Es wird erforderlich, die Vereinbarung zur Zusammenarbeit unter dem Aspekt „Zusammen“ neu zu gestalten. Da die Teammitglieder untereinander ein gutes Vertrauen im Hinblick auf ihre Motive und Absichten haben, ist es möglich, die fehlenden Kompetenzen der Beziehungsgestaltung ehrlich anzusprechen und sie damit zu erkennen.
4. Legale und ethische Zielsetzung
Unternehmen sind in aller Regel gut darin, Regeln, Normen und Prozesse zu formulieren, um insbesondere rechtlich alles richtig zu machen. Ziele, Ausführungen und Methoden entsprechen daher meist den verschiedenen rechtlichen Anforderungen.
Weitaus unübersichtlicher sind bei vertraglichen Vereinbarungen die ethischen Zielsetzungen. Dazu gehört beispielsweise, dass es keinen Vertrag zu Lasten Dritter gibt („Denen werden wir es schon zeigen, die werden auch noch mitmachen.“). Oder dass es keine unterschiedliche „Moral“ für Mitarbeiter:innen (dürfen nichts!) und Kund:innen (dürfen alles!) gibt. Bei einer Vertragsgestaltung unter ethischen Aspekten sind in aller Regel Werte betroffen, die sich situationsabhängig widersprechen können (6).
Projektmitarbeiter:innen sollen beispielsweise selbständig ihre Arbeitszeit zwischen Projektaufgaben und Aufgaben des Tagesgeschäftes einteilen. Nun entsteht eine Situation, in der die Führungskraft aus der Stammorganisation dringend etwas von dieser Mitarbeiterin benötigt. Was wird erwartet? Dass die Mitarbeiterin sofort zur Verfügung steht und die Projektarbeit kann warten? Ist es für die Mitarbeiterin opportun die Führungskraft darauf hinzuweisen, dass die individuelle Tagesplanung erst eine Unterstützung am nächsten Tag zulässt? Dies ist häufig ein Vereinbarungsaspekt, der nicht angesprochen wird, wenn es um die Entsendung in ein Projekt geht. Dies führt zu Vertrauensverlusten, da das Projektteam dem Teammitglied falsche Motive (Aspekt Charakter) oder die fehlende Kompetenz sich gut selbst zu organisieren, unterstellt. Ein Seminar zum Thema Zeitmanagement wird das nicht beseitigen. Es geht darum Situationen, die widersprüchliches Verhalten fordern, offen zu legen, anzusprechen und klären zu dürfen.
Solche „Schieflagen“, wie ich sie nenne, können jederzeit auftauchen. Werden diese divergierenden Anforderungen an einzelne Personen oder an gesamte Projekte nicht angesprochen und wertschätzend diskutiert, dann verliert die gemeinsame vertragliche Basis und damit das gegenseitige Vertrauen ihre Wirkung.
Fazit
Wie obige Beispiele zur Erklärung des Vertragsmodells nach Steiner zeigen, braucht eine vertrauensvolle Zusammenarbeit Verträge und Vereinbarungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Ebenso bilden die Verträge selbst eine wichtige Grundlage für den Aufbau von Vertrauen. Schon allein die Klärung der vier Aspekte nach Steiner führen zu einem Vertrauensaufbau, da sie neben dem Aspekt der Kompetenzen (Fähigkeiten und Ergebnisse) auch die Aspekte des Charakters (Motive, Absichten und Integrität) zum Thema machen und somit sichtbar werden.
Im Sinne des transaktionsanalytischen Vertragsverständnisses wird klar, dass eine Vereinbarung zu treffen keine einmalige, punktuelle Erscheinung zu Beginn einer Tätigkeit ist. Es genügt nicht, einen Projektauftrag zu vereinbaren und diesen in die Schublade zu legen. Gerade die beziehungsorientierten Aspekte der Zusammenarbeit sind immer wieder zu hinterfragen und zu klären. Damit wird das Verhandeln von Vereinbarungen zur Zusammenarbeit ein wiederkehrender Prozess unter Bedachtnahme der vier Voraussetzungen. Dies gilt nicht nur innerhalb eines Projektteams, sondern auch in Richtung der Führungskräfte, die Mitarbeiter entsenden, in Richtung der (internen und externen) Auftraggeber und anderen Projektbeteiligten.(7)


Literaturverzeichnis
Alt, Susanne (2022): Das A und O der Ethik in Unternehmen. aus Endruweit, J, Marx, Grit (Hrsg.): Wirtschaftsethik, soziale Verantwortung, zukunftsfähiges Wirtschaften: Ein transaktionsanalytischer Baukasten zur ethischen Orientierung für Organisationen. Weinheim: Beltz Juventa, 1. Edition, Seite 73-87.
Berne, Eric (2004): Was sagen Sie, nachdem Sie ‚Guten Tag’ gesagt haben?. Fischer Geist und Psyche, 19. Auflage.
Covey, Stephen M.R.(2018): Schnelligkeit durch Vertrauen. Gabal, 7.Auflage.
English, Fanita (1985): Der Dreiecksvertrag (The Three-Cornered Contact). Paderborn, Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 2, 1985, S. 106 – 108.
English, Fanita (2003): Transaktionsanalyse: Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen. Salzhausen: ISKO-Press, 7. Auflage, S 208 ff
Hofert, Svenja (2018): Agiler führen: Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität. Springer Gabler; 2. Auflage.
Kessler, H.; Hauser, H.-G.; Reuter, J. (1988): Transaktions-Analyse: Ein Weg zum besseren Verständnis von Verträgen in Organisationen. Paderborn, Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 4 1988, S. 149 – 167.
Lencioni, Patrick M. (2014): Die 5 Dysfunktionen eines Teams. Weinheim: Wiley-VCH.
Schaden, Brigitte (2022): „Agilität als Antwort auf unsichere Rahmenbedingungen. Blogartikel der Projektmanagement Austria (pma) vom 06.09.2022, Quelle:
www.pma.at/de/blog/agilitaet-als-antwort-auf-unsichere-rahmenbedingungen
Schmid, Bernd (1994): Wo ist der Wind, wenn er nicht weht: Professionalität und Transaktionsanalyse aus systemischer Sicht. Paderborn: Junfermann
Steiner, Claude (2005): Wie man Lebenspläne verändert. Paderborn:Junfermann, 11. Auflage.


Fussnoten
1. Siehe dazu auch ein Interview mit Schaden, Brigitte (2022)
2. Siehe dazu auch Lencioni (2014) und Hofer (2018)
3. Das gesamte Modell ist zu finden in: Covey, Stephen M.R.(2018): Schnelligkeit durch Vertrauen. Gabal, 7.Auflage.
4. English, Fanita (2003): Transaktionsanalyse: Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen. Salzhausen: ISKO-Press, 7. Auflage, S 208 ff
5. Steiner, Claude (2005): Wie man Lebenspläne verändert. Junfermann, 11. Auflage, Kapitel 20.
6. siehe ausführlicher Alt, Susanne (2022)
7. Der dreiseitige Vertrag nach Fanita English und deren Weiterführung zu einem mehrseitigen Gebilde können hier ebenfalls hilfreiche Orientierung über die Vielzahl der zu berücksichtigenden Vereinbarungen geben.


Susanne Alt
Lehrende und supervidierende
Transaktionsanalytikerin – TSTA-O
Begleitet Menschen, Teams und
Organisationen in Entwicklungs-
und Veränderungsprozessen
www.saltandmore.com
office@saltandmore.com
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