artikelseptember2020

Nicht perfekt ist perfekt genug

Autor: Jürg Bolliger
Es sind hundert!
1. Juli 2020, kurz vor 18 Uhr. In wenigen Minuten geht es los. Christin Nierlich und ich feiern heute mit einigen Hörerinnen und Hörern unsere hundertste Podcast(1)-Episode. Hundert. Wir haben in den letzten Jahren tatsächlich hundert Gespräche über Themen aus der Transaktionsanalyse aufgenommen und veröffentlicht. Ich lasse den emotionalen Cocktail, der durch diese Tatsache ausgelöst wird, wirken und wandere mit meinen Gedanken in die Vergangenheit.
Wie alles begann
Es war im November 2014. Wie in jedem Jahr trafen sich die TA-Lehrenden aus dem deutschsprachigen Raum in Rösrath. Im Laufe dieser Tage unterhielt ich mich mit einer Kollegin aus Deutschland über Dieses und Jenes. Ich kannte diese Kollegin bis dahin eher oberflächlich. Wir hatten gelegentlich ein paar Worte gewechselt. Und ich kannte ihren Namen: Christin Nierlich. Unser Gespräch landete irgendwann bei den Möglichkeiten, welche das Internet bietet, und wie diese von uns noch sehr wenig genutzt werden. Eine dieser ungenutzten Möglichkeiten sei das Podcasten, meinte Christin. Ich stimmte ihr bei. Es wäre tatsächlich toll, wenn es einen deutschsprachigen Podcast zu Transaktionsanalyse-Themen gäbe. «Wollen wir das anpacken?» Ich weiss nicht mehr, wer von uns beiden diese Frage stellte. Ich weiss jedoch, dass dies der Grundstein für mindestens hundert Episoden war.
Wir machten gleich einen Termin aus. So kam es, dass ich am 21. Januar 2015 den Zug nach Karlsruhe bestieg – im Gepäck ein geeignetes Mikrofon, den Laptop und ein paar TA-Bücher. Ein paar Stunden später sassen Christin und ich am Tisch, zwischen uns das Mikrofon und nahmen unsere ersten Podcast-Episoden auf. Am 1. Februar 2015 war die erste veröffentlicht. Hätte uns damals jemand gesagt, dass es einmal hundert sein werden, wir hätten es nicht geglaubt.
Weshalb gelang es uns, in so kurzer Zeit, etwas auf die Beine zu stellen und es kontinuierlich weiterzuverfolgen? Einer der Gründe ist wohl, dass wir nie den Anspruch hatten, perfekt zu sein.
Worum es in diesem Artikel geht
Nach dem kurzen Ausflug in die Vergangenheit unseres Podcasts, wende ich mich dem Thema Perfektion zu. Das Internet bietet heute unzählige Möglichkeiten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu präsentieren. Gerade in diesem Zusammenhang hat die Frage der Perfektion eine besondere Bedeutung. Darauf ist hier der Fokus gerichtet. Ich denke, dass das eine oder andere, das ich vorstelle auch in anderen Kontexten von Bedeutung sein kann.
Ich werde erläutern, was ich unter Erfolg verstehe und anschliessend die vier Phasen des Erfolgskreislaufs vorstellen. Darauf aufbauend werde ich die vier Gesichter der Perfektion beschreiben. Dann werde ich den Scheinwerfer noch einmal auf den Podcast richten und spekulieren, wie unsere Geschichte ausgegangen wäre, wären wir in den unterschiedlichen Phasen einem zu hohen Anspruch an Perfektion gefolgt. Mit der Frage, wie Perfektion überwunden werden kann, werde ich den Artikel abrunden und abschliessen.
Was ist Erfolg?
Jens Uwe Martens und Julius Kuhl bezeichnen das Erreichen von Zielen als Erfolg:
Wir wollen hier das Erreichen der selbst gesetzten Ziele Erfolg nennen, unabhängig davon, worauf sich diese Ziele richten(2).
Ich möchte hervorheben, dass es um selbst gesetzte Ziele geht. Arbeite ich an Zielen anderer und erreiche diese auch, dann ist das im Verständnis von Martens und Kuhl kein Erfolg. Ich ergänze diese Ansicht mit dem Hinweis, dass es auch möglich ist, Ziele von anderen zu eigenen zu machen. Geschieht dies bewusst und reflektiert, ist es als Erfolg zu betrachten, wenn das Ziel erreicht wird.
Erfolgskreislauf (Gysa Jaoui)
Der Erfolgskreislauf
Die französische Transaktionsanalytikerin Gysa Jaoui teilt den Weg zum Erfolg in vier Phasen auf(3):
1. Projekt / Idee (project)
2. Umsetzung (implementation)
3. Erfolg (success)
4. Zufriedenheit (satisfaction over success)
Wer die vierte Phase abgeschlossen hat, ist bereit für ein neues Projekt. Dadurch entsteht ein fortlaufender Kreislauf.
Geht es darum, sich im Internet zu präsentieren, beginnt das mit einer Idee, woraus sich ein konkretes Ziel ergibt. Das kann beispielsweise eine neue Webseite, das Sich-zeigen in Social-Media-Kanälen oder – wie in unserem Fall – ein neuer Podcast sein.
Dann geht es ums Umsetzen der Idee. Es stellt sich die Frage, was man selbst tun kann und in welchen Bereichen man Unterstützung von anderen benötigt. Ist das Ziel erreicht, die Idee umgesetzt, ist die Phase des Erfolgs erreicht. Nun heisst es erst einmal, sich freuen an dem, was man erreicht hat. Der Kreislauf beginnt von vorne, wenn man eine neue Idee hat, diese umsetzt usw.
Bleibt jemand in einer der vier Phasen stecken, ist laut Jaoui oft ein innerer Antreiber aktiv. Nach Manfred Gührs und Claus Nowak handelt es sich dabei um Verhaltensmuster, mit denen wir versuchen, uns aus Nicht-okay-Gefühlen zu retten(4). Jaoui ordnet vier der von Taibi Kahler beschriebenen Antreibern(5) den Phasen zu.

Phase 1 (Idee): Sei stark!
Bei diesem Antreiber geht es darum keine Schwäche zu zeigen und keine Hilfe anzunehmen. Setzt man eine Idee um, braucht man dafür unter Umständen punktuelle Unterstützung von anderen. Ausserdem besteht das Risiko des Scheiterns. Beides läuft dem Sei-stark-Antreiber zuwider. Darum bleibt man in der Phase 1 stecken, wenn er aktiv ist.

Phase 2 (Umsetzung): Streng dich an!
Folgt jemand diesem inneren Antreiber, dann muss das, was man macht, anstrengend sein. Alles, was nicht mit einem hohen Energieaufwand verbunden ist, ist verdächtig. Das Erreichen von Zielen ist dabei nicht erstrebenswert, weil man sich sonst nicht mehr anstrengen könnte. Daher liegt es auf der Hand, dass jemand, der diesem Antreiber folgt, nicht von der Phase der Umsetzung zum Erfolg gelangen wird. Sonst könnte er oder sie sich nicht mehr anstrengen.

Phase 3 (Erfolg): Sei perfekt!
Auch wenn man ein Ziel erreicht hat, kann man stecken bleiben. Konkret heisst das, jemand kann zwar sein Ziel erreichen, diesen Erfolg jedoch nicht geniessen. Das Ergebnis könnte noch verbessert, perfektioniert werden. Ist das der Fall, dann ist nach Gysa Jaoui der Sei-perfekt-Antreiber aktiv. Er verhindert den Übergang zur vierten Phase.

Phase 4 (Zufriedenheit): Mach es anderen recht!
Bei diesem Antreiber geht es darum, Bedürfnisse und Wünsche anderer zu erfüllen. Oft sind diese nicht ausgesprochen, sondern werden lediglich vermutet. Eigene Ideen haben keinen Platz, wenn es darum geht, es allen anderen recht zu machen. Hier kommt das Verständnis des Begriffes Erfolg von Martens und Kuhl wieder ins Spiel. Solange jemand Ziele anderer verfolgt, ohne diese zu eigenen zu machen, wird diese Person nicht in den Erfolgskreislauf einsteigen.
Die vier Gesichter des Perfektionismus
Folgt man den Erläuterungen von Gysa Jaoui, könnte man davon ausgehen, dass Perfektion erst in der dritten Phase ein Thema ist. Ist das so? Nein. Perfektion kann in allen Phasen zum Stolperstein werden. Je nach Phase und damit verbundenem Antreiber zeigt sie sich unterschiedlich.

Sei-stark-Perfektion
Das Streben nach Perfektion kann der Versuch sein, den Bedarf nach Unterstützung von anderen und das Scheitern des Projekts zu vermeiden. Beides wird als Schwäche interpretiert, wenn der Sei-stark-Antreiber aktiv ist. Jemand kann beispielsweise die Idee einer neuen Webseite so lange perfektionieren, dass es nie zur Umsetzung kommt. Somit entzieht sich diese Person dem Risiko, Schwäche zeigen zu müssen.

Streng-dich-an-Perfektion
Perfektion kann dazu dienen, ein gestecktes Ziel nicht zu erreichen. Dies wiederum liefert den Grund, sich weiter reinzuknien und sich mit viel Energieaufwand anzustrengen. Wer an einer neuen Webseite arbeitet und sich aufgrund des Antreibers richtig lange und intensiv anstrengen will, wird immer wieder Details finden, die er noch optimieren kann. Solange die Umsetzung der Idee noch nicht perfekt genug ist, gibt er sich dadurch die Berechtigung, sich weiter anzustrengen und so seinem Antreiber zu folgen.

Sei-perfekt-Perfektion
Im Gegensatz zu den anderen hier beschriebenen Arten der Perfektion, geht es nun tatsächlich um den Anspruch, perfekt zu sein. Die neue Webseite steht. Der Erfolg ist da. Wer dem Anspruch des Sei-perfekt-Antreibers folgt, wird immer wieder Kleinigkeiten finden, die noch optimiert werden können. Hier noch ein Pünktchen, da noch ein Komma. Solange ein erreichtes Ziel nicht als solches gewürdigt werden kann, auch wenn es vielleicht noch perfekter gegangen wäre, wird man diesen Erfolg nicht geniessen können.

Mach-es-anderen-recht-Perfektion
Eine weitere Wurzel für Perfektion ist die Erwartung anderer. Geht jemand davon aus, dass andere Perfektion erwarten – egal ob sie das tatsächlich tun oder nicht –, wird er alles daran setzen, diese Erwartung zu erfüllen, solange der Antreiber «Mach es anderen recht» wirksam ist. Entwickelt jemand eine Webseite, weil das alle so machen, wird es nicht zu einem Erfolg im Sinne von Martens und Kuhl führen.
Die vier Gesichter der Perfektion
Der fünfte Antreiber
Taibi Kahler hat einen weiteren Antreiber beschrieben: «Beeil dich!» Weshalb tritt dieser weder im Erfolgskreislauf von Gysa Jaoui, noch in den beschriebenen Gesichtern der Perfektion auf? Ich erachte diesen Antreiber als eine Art Gegenspieler der Perfektion. Meine Erfahrung ist, dass Menschen, welche dem Anspruch der Perfektion folgen, oft sehr viel Zeit für eine Tätigkeit benötigen. Umgekehrt beobachte ich immer wieder Personen, die dem Beeil-dich-Antreiber folgen und dadurch tendenziell den einen oder anderen Fehler mehr machen als andere.
Auf den Erfolgskreislauf bezogen bedeutet das, dass jemand, bei dem der Beeil-dich-Antreiber aktiv ist, die Phasen sehr schnell durchläuft. Die Folge davon können Unvollständigkeit oder Fehler sein.
Zurück zum Podcast
Im Zusammenhang mit dem Podcast gibt es verschiedene Ziele. Ein entscheidendes war sicher das Erscheinen einer ersten Episode. Das Erreichen von hundert Episoden ist ein Beispiel für ein grösseres Ziel.
Ich werde nun einen Ausflug in die Welt der Spekulation wagen. Wie wäre unsere Podcast-Geschichte verlaufen, wären wir einem zu hohen Perfektions-Anspruch gefolgt?

Phase 1: Idee
Christin und ich besprechen, wie ein Podcast sein müsste. Was sollte der Podcast beinhalten? Wer ist unser Zielpublikum? Woran müssen wir noch denken, um ein Scheitern zu verhindern? Die Zeit am Lehrendentreffen reicht nicht aus, um alles im Detail zu besprechen. Wir vereinbaren, uns in einem Jahr wieder darüber zu unterhalten und uns bis dann mit E-Mails über unsere Vorstellungen auszutauschen. Auch im Folgejahr gelingt es uns nicht, die Idee so zu perfektionieren, dass wir uns ans Umsetzen wagen können. Nach dem dritten Jahr verläuft die Idee im Sand.
Die Folge: Es wäre nie zur Umsetzung gekommen.

Phase 2: Umsetzung
Wir haben uns geeinigt: wir wollen einen TA-Podcast ins Leben rufen. Nun geht es darum, unsere Idee umzusetzen. Das ist jetzt mit viel Anstrengung verbunden. Da gibt es so viel zu berücksichtigen. Wir versuchen die perfekte technische Ausrüstung zusammenzustellen. Uff… da gibt es so viele Möglichkeiten, nur schon die richtigen Mikrofone. Und dann müssen wir auch noch ganz genau besprechen, wie wir die einzelnen Episoden gestalten wollen. Und welche Themen behandeln wir? Irgendwann haben wir die ersten Klippen mit viel Energieaufwand überwunden und nehmen die erste Episode auf. Hm,… das war nun aber nicht perfekt genug. Wir machen das nochmal. Und nochmal, und nochmal…
Die Folge: Wir wären heute noch am Diskutieren, welches das richtige Mikrofon ist. Oder wir wären zum x-ten Mal daran, zu versuchen, das Gespräch perfekt aufzunehmen.

Phase 3: Erfolg
Es ist uns gelungen, wir haben die erste Episode veröffentlicht. Richtig gut fühlen wir uns nicht. Es gibt zu viele «Ähms». Und wir haben ein paar Aspekte des Themas nicht erwähnt. Und überhaupt, die Episode war viel zu kurz. Wir hätten das besser machen können.
Die Folge: Es wäre bei einer Episode geblieben und wir würden uns bis heute nicht daran freuen können.

Phase 4: Zufriedenheit
Wow! Wir haben es geschafft. Die erste Episode ist veröffentlicht. Wir freuen uns riesig. Die Feedbacks von Hörerinnen und Hörern sind positiv. Und jetzt? Wie weiter? Was erwarten andere? Kolleginnen und Kollegen wollen wahrscheinlich, dass wir die Theorie möglichst präzise wiedergeben. Menschen, die sich in TA weiterbilden wollen vermutlich hören, wie sie die Theorie mit der Praxis verbinden können. Und Leute, welche die Transaktionsanalyse noch gar nicht kennen, wollen sicher die Modelle so erklärt bekommen, dass sie sie verstehen können.
Die Folge: Entweder hätte es keine zweite Episode gegeben, weil wir die vielen möglichen Erwartungen nicht unter einen Hut gekriegt hätten, oder wir hätten weitergemacht, es wäre jedoch nicht mehr «unser Ding» gewesen. Wir hätten uns an vermuteten Erwartungen orientiert und schon bald die Freude am Podcasten verloren.

Wie es wirklich war
Die obigen Beschreibungen sind extrem und absolut. Glücklicherweise trifft keines der Szenarien auf uns zu. Es ist nicht so, dass das Streben nach Perfektion bei uns kein Thema ist. Es gab durchaus auch Momente, in denen wir uns dadurch selbst blockierten. Glücklicherweise ist es uns jedoch immer gelungen, sie zu überwinden.
Perfektionismus überwinden
Die von mir beschriebenen Arten von Perfektionismus haben gemeinsam, dass innere Antreiber aktiv sind. Da mit dem Befolgen der Antreiber unbewusst versucht wird, das Nicht-okay-Empfinden zu überwinden, gilt es hier anzusetzen. Es geht also nicht darum, Strategien gegen den Perfektionismus zu entwickeln, sondern solche, die dazu beitragen, das Okay-Empfinden zu stärken. Es gibt dafür keinen 7-Punkte-Plan. So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so verschieden sind auch die hilfreichen Strategien. Im Sinne einer Anregung, nenne ich zwei Konzepte aus der Transaktionsanalyse, die diesbezüglich förderlich sind.

Wertschätzung (positiv-bedingungslose Zuwendung)
Die Wertschätzung anderer wirkt sich positiv auf das eigene Okay-Empfinden aus. Die Fragen, die es zu stellen gilt, lauten: Welche Menschen vermitteln mir dieses Gefühl? Wer akzeptiert mich, ohne dass ich dafür etwas leisten muss (auch ohne perfekt zu sein)? Dann lohnt es sich, Zeiten mit diesen Menschen immer wieder ganz bewusst zu geniessen, die Wertschätzung sozusagen tief einzuatmen.

Erlaubnis
Die inneren Erlaubnisse, eine Idee zu haben, diese umzusetzen, erfolgreich zu sein und diesen Erfolg zu geniessen, sind gute Voraussetzungen, um die Intensität der Antreiber zu reduzieren. Auch hier gibt es Fragen, die man sich stellen kann: Welche Erlaubnisse brauche ich ganz konkret? Welche Personen vermitteln mir diese Erlaubnisse? Wie gelingt es mir, diese Erlaubnisse zu verinnerlichen?
Als eine Art der Erlaubnis schliesse ich diesen Artikel mit der Skala der Perfektion ab. Sie erstreckt sich von mangelhaft bis perfekt. Egal ob es um einen Internetauftritt oder ein sonstiges Projekt geht, soll das Ergebnis gut sein. Absolute Perfektion ist jedoch ein zu hohes Ziel und wahrscheinlich nicht erreichbar. Die Perfekt-genug-Zone ist der Bereich, in welcher ein Ergebnis gut oder sehr gut ist.
Wer sich erlaubt, es als Erfolg zu sehen, in dieser Zone zu «landen» wird die Perfektionshürden leichter überwinden.
Skala der Perfektion
Fußnoten
1. transaktionsanalyse.online/podcast
2. Martens Jens-Uwe und Kuhl Julius (2014): Die Kunst der Selbstmotivierung
3. Jaoui Gysa (1988): Stages for Success. in: Transactional Analysis Journal, 18 - 3, S. 207 - 210
4. Gührs Manfred und Nowak Claus (2006): Das konstruktive Gespräch (6. Aufl.). Meezen: Limmer Verlag
5. Kahler Taibi und Capers Hedges (1974): The Miniscript.In: Transactional Analysis Journal, 4 - 1, S. 26 - 42
Jürg Bolliger
ist Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker, TSTA-E, leitet gemeinsam mit Dr. Maya Mäder und Titus Bürgisser das connecTArt - Atelier für Transaktionsanalyse in Olten und stellt zusammen mit Christin Nierlich verschiedene Angebote zur Online-Weiterbildung zur Verfügung - unter anderem den Podcast „Transaktionsanalyse für’s Ohr“

juerg-bolliger.com | connecTArt.ch | transaktionsanalyse.online | jb@juerg-bolliger.com
© Bilder und Grafiken von Jürg Bolliger

artikeloktober2020

Das perfekte Gefängnis

Autor: Dasa Szekely – Stell dir vor, du bist in einem Gefängnis. Stell dir vor, du weisst nicht, dass du in einem Gefängnis bist und das ist kein Wunder, denn du fühlst dich frei, du kannst gehen wohin immer du willst und tun, was immer du magst. So fühlt es sich jedenfalls an, deshalb hast du dich freiwillig in Gefangenschaft begeben. Dein persönliches Gefängnis rettet dich davor, dich klein, blöd, dick, nicht zugehörig, uninteressant, unliebenswert zu fühlen. Lieber gefangen sein, heisst die Devise, als Schmerz über die eigene Unzulänglichkeit fühlen! Also bringst du dich in Sicherheit. Und für einen Moment fühlt sich das saugut an. Für einen Moment.
Der Transaktionsanalytiker Taibi Kahler hat 1974 diesen Gefängnissen Namen gegeben. Er nannte sie »Driver«, zu deutsch »Antreiber«, weil sie uns in ein Verhalten treiben, ohne dass wir das bewusst wahrnehmen: Wir handeln dann ohne zu denken, ohne zu fühlen, als würden wir auf Autopilot fahren, immer die gleiche Straße lang, abbiegen unmöglich. Gefangen eben.
Taibi Kahler hat fünf Antreiber herausgestellt, die er am wichtigsten fand und noch heute beschränken sich die meisten Transaktionsanalytiker darauf:
Den Sei stark!-Antreiber
Den Streng dich an!-Antreiber
Den Mach’s recht!-Antreiber
Den Beeil dich!-Antreiber
Den Sei perfekt-Antreiber
Wie schafft man es, in eins dieser Antreiber-Verhalten reinzurutschen? Und wie kommt man da wieder raus?
Um darauf zu antworten, nehme ich euch mal mit auf meine persönliche Gefängnis-Tour. Überm Eingangstor steht »Sei stark! Sei perfekt!«, das sind meine beiden Lieblingsgefängnisse, flankiert von »Beeil dich!«
Von den beiden anderen erzähl ich euch im Anschluss.
Wenn ihr mögt, folgt mir in Gedanken und prüft, zu welchem Verhalten ihr in Stress-Situationen tendiert – auf welche der fünf Weisen ihr euch freiwillig eurer Freiheit beraubt.
Los geht’s!
Mein perfekt-Antreiber freut sich: Ich soll einen Artikel für die DSGTA schreiben, da wird er sicher gebraucht werden. In letzter Zeit hab ich ihn ein bisschen vernachlässigt, aber schreiben, das weiß er, das geht nicht ohne ihn!
Und so sitze ich hier an einem Sonntag Morgen auf meiner sonnigen Terrasse und beginne diesen Artikel, aufmerksam beobachtet von meinem altbekannten Gefängniswärter Mr. Perfect (ja, ein Mann, aber das ist eine andere Geschichte).
Noch ist alles okay. Anfänge sind total okay. Ich freu mich drauf!
Ich möchte darüber schreiben, wie mein Streben nach Vollkommenheit sowohl wunderbar als auch eine Bürde sein kann. Dabei möchte ich ganz locker bleiben und deshalb werde ich auf gar keinen Fall kritische Stimmen meiner Leser antizipieren, so etwas wie:
»Uninteressant!«
»Kaschiert ihr Unwissen mit
vermeintlich lustigem Geschwätz.«
»Weiß nicht viel und redet deshalb
nur über sich.«
»Und die ist Certified
Transactional Analyst??«
»Hätte mehr erwartet.«
»Die fragen wir nicht mehr an!«
Obwohl mir bewusst ist, dass diese Stimmen nur in meinem Kopf existieren, verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Mein Herz klopft, ich spüre Druck auf der Brust, atmen geht nicht mehr so gut. Ich kenne das Gefühl, dieses »Ich bin-nicht okay«-Gefühl.
Ich widerstehe meinem Fluchtimpuls (Wäsche abhängen, verdorrte Hibiskusblüten abzupfen, Mails checken usw.) und bleibe bei mir sitzen, beobachtend.
Warum haben diese Fantasie-Stimmen eine solche Macht über mich? Nun, sie haben eine direkte Leitung zu sehr, sehr alten verinnerlichten »Botschaften« über mich, die sehr schmerzhaft sind und mit Ängsten verbunden. Und obwohl sie so weh tun, kann ich für einen Moment nicht anders als ihnen folgen, sie ziehen mich in ihren Bann – in der TA nennen wir sie »Bannbotschaften«.
Gehöre! Nicht! Dazu!
Einer meiner größten Ängste ist, nicht dazuzugehören. Ich bin Flüchtlingskind, in den 60ern als ungarisch-italienische Mischung in einem schwarz-braunen kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen (da waren Ungarn noch Zigeuner und/oder Kommunistenschweine). Meine schwarzen Locken gingen bis zum Po und meine Klappe war so groß wie Afrika. Im Kindergarten belehrte man mich schnell einen Besseren, flocht mir strenge Zöpfe (old school Botox) und bedrohte und bestrafte mich so lange bis Afrika auf Liechtenstein-Größe schrumpfte.
Nein, kein Galgenhumor. Heute kann ich darüber traurig sein und mich gleichermaßen daran erfreuen, was ich aus meinem Leben gemacht habe – gerade deshalb, weil es so war.
Dennoch, manchmal ist sie wieder da, diese Angst. Besonders, wenn ich mich zeigen muss, wie jetzt, gegenüber der DSGTA und deren Leserschaft: Text ist schlecht, du bist eine schlechte TAlerin, keine von uns! Raus!!
Aber – Rettung naht: Wenn ich einen suuuuuuuper perfekten Text abliefere, finden mich andere toll und ich gehöre dazu!
Wäre mein perfekt-Antreiber ein Hund, würde er freudig mit dem Schwanz wedeln: Jetzt geht’s Gassi!
Gemeinsam drehen wir meine Worte auf links. Wir bürsten Sätze so lange bis sie glänzen und streichen dann alles wieder, weil’s einfach immer noch nicht richtig gut ist, nicht gut genug, nicht perfekt genug:
Die Gouldings … Mary und Robert Goulding … die beiden Transaktionsanalytiker Mary und … Das amerikanische Ehepaar Mary und Robert Goulding hat 19 …
Mist. Wann war das? 1973? Nee, das klingt falsch. 1975? Könnte sein … Das muss unbedingt rein, nicht dass man denkt, ich hätte keine Ahnung, ich muss nachschauen (peinlich!! hätte ich wissen müssen!). In welchem ihrer Aufsätze haben sie denn erstmals über Bannbotschaften geschrieben? Ich schau mal im Transactional Analysis Journal. Stopp - hießen die nicht auch mal »Hexenbotschaften«? Das sollte ich vielleicht erwähnen. Campos, Leonard Campos hieß der mit den Hexenbotschaften. Darauf basierend haben die Gouldings … nein, zu kompliziert. Stattdessen vielleicht noch kurz über die Kultur schreiben, aus der dieses Gedankengut kam. Ja, das wäre noch wichtig: ein kurzer Abriss über das Jahrzehnt von 1965 bis 1975.
Mein Herz rast. Das schaff ich nie!!!
Ich höre eine Stimme: »Reiß dich zusammen, Dasa! Das kriegst du hin! Wollen doch mal sehen, wie du es diesen hochwohlgeborenen Transaktionsanalytikern und überkritischen Lesern zeigst!
Ich bin sauer und wir sind jetzt zu dritt: Mein sei stark-Antreiber hat sich dazu gesellt. Ich fühle mich gleich besser: stark, gewappnet. Und dann – wäre doch gelacht! – schau ich mir das alles an, was ich da zusammen geschrieben habe, und mach das mal ordentlich, so wie ich’s von mir gewohnt bin. Ich schaff das, kein Problem. Hab doch alles in meinem Leben geschafft!
Würde ich so – mich immer wieder korrigierend - einen Vortrag halten hätte ich spätestens jetzt alle Zuhörer verloren und würde das im Nachhinein auf die Tatsache zurückführen, dass ich eben nicht perfekt genug vorbereitet war. Das stimmt aber nicht, der eigentliche Grund für mein Verheddern liegt eine Etage tiefer: Bei meinen verinnerlichten Bannbotschaften – die haben mich gestresst.
Das Ehepaar Mary und Robert Goulding hat in den 70er Jahren folgende Bannbotschaften als die relevantesten herausgestellt:
Sei nicht!
Sei nicht du! (Sei kein Junge/Mädchen!)
Sei nicht wichtig!
Sei nicht nahe! (Traue keinem!)
Gehöre nicht dazu!
Sei kein Kind!
Werde nicht erwachsen!
Fühle nicht!
Zeige keine Gefühle!
Denke nicht!
Schaffe es nicht!
Sei nicht gesund!
Sei nicht normal!
Sei nicht glücklich!

»Sind das wirklich die richtigen Bannbotschaften?«, fragt Mr. Perfect, »Es gibt doch noch andere«, sagt er, »solltest du alle auflisten.«
Okay. Ich gehe zum Buchregal. Ich schaue, ich lese. Ich schaue auf meinem Computer nach, widerstehe dem Impuls, den kompletten Originaltext aus dem TA Journal von 1975 zu lesen. Keine Zeit! Das muss ich jetzt schnell hinkriegen. Zackzack! Chopchop! Noch so viel zu tun und so wenig Zeit!
Ah - mein »Beeil dich!!!«-Antreiber ist nun auch dabei. Wir sind jetzt zu viert, ich und meine drei Antreiber kopflos im Gefängnishof. Wir sehen nicht, dass die Sonne scheint. Wir fühlen nicht die angenehme Wärme auf unserer Haut. Wir fühlen nichts mehr, wir rennen um mein Leben.
Kennst du dieses Gefühl? Kennst du dieses Antreiber-Verhalten von dir?
Ich hab mich durchs Beschreiben meiner Situation beruhigt (oder Mr. Perfect holt sich nur schnell was zu trinken) und komme nochmal zurück zu den Bannbotschaften: Was ist das?
Bannbotschaften im transaktionsanalytischen Sinne sind in uns abgespeicherte »Verbote«, die uns daran hindern ein erfülltes Leben zu führen. Wir entwickeln sie selbst von Geburt an in Resonanz auf die Menschen in unserem Umfeld, in der Regel zunächst Eltern und Großeltern. Für welche Botschaften wir uns unbewusst entscheiden ist abhängig von der Art und Weise wie andere uns anschauen, berühren, halten, mit uns sprechen …
Schon als sehr kleine Wesen erfühlen wir, ob wir in ihrer Welt willkommen sind, ob wir als Junge oder Mädchen erwünscht sind, ob wir mehr Liebe bekommen, wenn wir schon sehr früh sehr vernünftig sind, ob wir unseres Lebens froh, erfolgreich sein dürfen …
Noch bevor wir richtig denken und sprechen können entwickeln wir bereits eine Haltung zu uns selbst, anderen und dem Leben gegenüber, die uns unbewusst begleitet bis ins Erwachsenenleben – so lange bis wir sie uns bewusst machen.
Unsere Bannbotschaften stellen das eigentliche Gefängnis dar und mit den Antreibern versuchen wir, deren Bann zu entgehen. Die Antreiber geben uns ein vorübergehendes Gefühl, okay zu sein.
Während unsere Bannbotschaften uns nach unten in die Tiefe ziehen, holen uns unsere Antreiber nach oben.
Drowning Woman

Die Transaktionsanalytikerin Adrienne Lee hat diese Verbindung sehr nachvollziehbar visualisiert und ich hab‘s nachgezeichnet (Zeichnen ist eines meiner bewährten Hausmittel gegen akute Bannbotschafteritis).
Ich hoffe, ich konnte euch deutlich machen, dass es einem als drowning (wo)man nicht gut geht. Die Ballons sind nur besser lebbar, weil sie uns für einen Moment vorgaukeln, wir müssten einfach nur perfekt, stark, sauschnell etc. sein um okay zu sein und von anderen Wertschätzung zu erfahren.
Was kann man tun, fragst du dich vielleicht, um diesen Moment zu verlängern, so etwa bis zum Lebensende? Dazu komm ich gleich – Mr. Perfekt möchte unbedingt noch etwas ergänzen:
Sowohl unsere Bannbotschaften als auch unsere Strategien, ihnen zu entgehen sind wichtige Kapitel in unserem »Lebensdrehbuch« oder »Lebensskript«. Das ist ein Konzept von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, und er bezeichnet damit einen Lebensplan, dem wir von Geburt an unbewusst folgen. Daher ist das Ziel der transaktionsanalytischen Beratung oder Therapie die »Skriptfreiheit«, die »Autonomie«.
Nun folgt eine Teilantwort auf meine obige Frage, was man tun kann.
Ein erster Schritt in Richtung Autonomie ist überhaupt anzuerkennen, dass man sich in einem Gefängnis befindet.
Miniskript – Maxifrust
Mein Antreiber-Prozess, den ich euch gerade beschrieben habe, ist eine Mini-Variante meines großen »Lebensskriptes« - meinem »Miniskript«. Das lässt sich beschreiben als ein Verhaltensmuster, das einem bestimmtem Ablauf folgt. Innerhalb weniger Minuten kann - unbewusst – folgendes passieren:

0 Ich stehe unter Stress, mein Selbstwertgefühl ist »angeknabbert«. Wie könnte ich mich wieder stabilisieren? Was kann ich tun, um mich wieder gut zu fühlen?
1 Als vermeintliche Rettung gehe ich in mein Antreiber-Verhalten. In diesem Zustand spüre ich mich wenig, habe kaum Kontakt zu mir und meinen echten Bedürfnissen. Aber ich erlebe mich handlungsfähig. Ich kann was dagegen tun!
2 Da man nie stark, schnell, perfekt etc. genug sein kann, wenn man im Antreiber-Gefängnis sitzt, geht die Aktion schief. Ich fühle mich schlecht, verletzt, schuldig, besorgt, leer, verwirrt oder verlegen.
3 In einem Aufbäumen versuche ich, der Verzweiflung über mein schlechtes Gefühl zu entkommen, indem ich andere dafür verantwortlich mache. Hier fühle ich mich möglicherweise vorwurfsvoll, triumphierend, euphorisch, gehässig, wütend.
4 Aber es hilft nichts: Letztlich bringt der Angriff auf andere keine Entlastung und Selbstvorwürfe und Lebensskriptüberzeugungen sowie die dazugehörigen Gefühle breiten sich aus. Hier fühle ich mich möglicherweise wertlos, unerwünscht, hoffnungslos, in der Klemme, ungeliebt, aussichtslos – total frustriert.
Diesen Ablauf kenne ich bei mir mittlerweile recht gut, deshalb hat’s bei mir nicht so lange gedauert bis ich bemerkt habe, dass ich »drin« bin in meinem Gefängnis. Als ich mir dabei zuschaute und euch beschreiben habe, was ich gerade erlebe – da war ich mit einem Bein schon draußen.
Jetzt hol ich mir noch das andere Bein und beschreibe euch wie versprochen die beiden noch fehlenden Antreiber-Verhalten »Mach’s (anderen) recht!« und »Streng dich an!« Vielleicht erkennst du dich in diesen Beschreibungen wieder? Dann bist du auch schon mit einem Bein draußen. Was das andere Bein angeht – da brauchst du womöglich Unterstützung von einem Berater oder Therapeuten.
Der »Mach’s recht«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich es anderen recht mache.
Hier zeigen sich Menschen stets bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen. Sie haben immer alle im Blick und versuchen, es ihnen recht zu machen: »Kann ich was tun, brauchst du was?« Oft agieren sie schon im Vorfeld, ohne Aufforderung. Sie können sich gut in andere einfühlen und wissen daher oft schon, was andere brauchen.
Meine Klienten mit diesem Antreiber bezeichnen sich häufig als »harmoniebedürftig«. Sie halten Konflikte nicht gut aus, können schlecht nein sagen und verzichten auf ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der anderen: »Mir egal, wo wir hingehen!«
Das ist nicht zu verwechseln mit bewusster Rücksichtnahme auf andere. Bei einer bewussten Entscheidung würde man wohl eher mal so-mal so entscheiden.
Andere erleben dieses Verhalten oft als konturenlos: »Jetzt sag doch mal, was DU willst!!« Tja, das fällt unter diesem Antreiber schwer …
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen: Sie sind einfühlsame Zuhörer, sie geben anderen viel Raum und schaffen häufig eine angenehme Atmosphäre für alle.
Der »Streng dich an«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich mich total anstrenge.
Menschen, die dieses Antreiber-Verhalten zeigen spüren einen permanenten Leistungsdruck und zweifeln an ihrer Leistungsfähigkeit. Alles fühlt sich dann schwer und unerreichbar an. Sie haben Angst, es nicht zu schaffen – und meistens schaffen sie es dann auch nicht, eben weil sie sich so anstrengen. Sie misstrauen »leichten Erfolgen«: Wenn es zu leicht geht, ist es nichts wert – sind sie nichts wert, nicht okay. Die Mühe, die sie sich mit allem geben steht im Vordergrund, nicht das zu erreichende Ziel.
Andere erleben dieses Verhalten oft als lähmend, erdrückend. Manchmal lassen sie sich vielleicht in die Schwere einladen oder sie machen Hilfsangebote à la »Mach’s dir doch nicht so schwer!«, die dann brüsk abgelehnt werden: »Ja, du machst es dir einfach!!«
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen:
Sie haben einen langen Atem, sind ausdauernd, beharrlich, geben nicht gleich auf. Sie scheuen keine Mühen und haben oft auch Freude daran, sich in etwas so richtig reinzuknien.
Wohlgemerkt: Wir sind nicht immer im Antreiber-Verhalten! Dieses Verhalten aktivieren wir unbewusst in Situationen, in denen wir uns gestresst fühlen.
Wir »haben« auch nicht nur einen Antreiber, sondern meistens eine Kombination, wobei einer oft am stärksten ist. Meine Erfahrung ist, dass sich das je nach Situation verändern kann: Mal führt der eine, mal der andere Antreiber.


So. Und wie kommt man da raus oder erst gar nicht rein?
Der erste Schritt ist wie gesagt, sich dessen bewusst zu werden, dass man »drin« ist.
Sich mit einem liebevollen Blick (also nicht wertend) beobachten hilft schon ungemein:
Innehalten, Atmen, spazierengehen, zeichnen … was immer dir hilft, um wieder in Kontakt zu dir zu kommen.

Der zweite Schritt ist komplexer:

Superkalifragilistigexpialigetische Bannbrecher


Ich sagte oben, dass unsere Bannbotschaften das eigentliche Gefängnis darstellen. Nun, Bannbotschaften sind unbewusst verinnerlichte Verbote und die lassen sich mit Erlaubnissen entkräften. Diese Idee ist sensationell (und einer der Gründe, warum ich TA liebe), aber das ist natürlich nicht so einfach wie das klingt.
Um seinen Bannbotschaften auf die Spur zu kommen und sie zu entkräften braucht es professionelle Hilfe. Es braucht eine gelingende Beziehung zu einem Menschen, der einem genau das gibt, was man als Kind nicht bekommen hat. Es braucht Zeit, um sich genau so okay zu fühlen wie man ist. Das vielerorts in den sozialen Medien grassierende »Love yourself« ist alleine nicht zu bewerkstelligen, denn der Grund, warum uns das so schwer fällt, liegt in unseren ersten Beziehungen.
Meinen Prozess habe ich als bisweilen schwer und gleichermaßen erfüllend und bereichernd erlebt. Oft hat es auch Spaß gemacht und ich hab’s genossen.
Ich bin noch dabei – ich glaube, wir sind immer dabei – und ich erfreue mich daran, mich immer besser kennenzulernen, immer mehr zu mir zu kommen. Ich teile meine Erfahrungen gerne, weil ich andere dazu ermutigen möchte, auch diesen Weg zu gehen: Den einzigen Weg in die Freiheit.
Freiheit für mich bedeutet zum Beispiel: Ich bin okay, wenn ich einen Artikel schreibe, der nicht superkalifragilistigexpialigetisch ist. Ich hoffe, er gefällt euch und ich kann es aushalten, wenn jemand von euch enttäuscht ist.
Ich mag meinen Hang zu Vollkommenheit, meine Stärke und meine Schnelligkeit. So lange ich nicht im Gefängnis sitze sind das wunderbare Werkzeuge.
Den Schlüssel zu meiner Gefängniszelle halte ich in der Hand – und wenn ich ihn mal nicht finde, weiß ich, wer mir beim Suchen helfen kann.

QUELLEN


Zu allen in diesem Artikel genannten Konzepten gibt es Originalliteratur (Eric Berne, Taibi Kahler) und zahlreiche Sekundärliteratur. Hier einige ausgewählte Quellen (Themen alfabetisch geordnet):

Antreiber (Drivers) -> Taibi Kahler (1975)

journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/036215377500500318

Bannbotschaften -> Mary und Robert Goulding Buch »Neuentscheidung. Ein Modell der Psychotherapie.« (1999) – Mr. Perfect ergänzt: Leonard Campos (1970) Hexenbotschaften. M. u. R. Goulding haben diese Botschaften nach Campos aufgegriffen und zusätzliche beigefügt (R. Goulding 1972a; R. u. M. Goulding 1976; M.u.R. Goulding 1979, p. 34-42/S. 51-60).


Drowning Person Diagram -> Adrienne Lee YouTube:

www.youtube.com/watch?v=OuxCl5A98gE

Lebensskript -> Eric Berne Buch »Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben?« (1972)


Miniskript -> Taibi Kahler, Hedges Capers (1974)

journals.sagepub.com/doi/10.1177/036215377400400110

Dasa Szekely
Transaktionsanalytikerin (CTA-C), Coach, Autorin, Cartoonistin, Lebensgestalterin, Ausbilderin, Mutter, Freundin, Brotbäckerin, Ungarin, Italienerin u.v.a., nicht immer in dieser Reihenfolge.

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