artikeljuni2023
Es ist Zeit…
// Autor: Jürg Schläpfer //
... unsichere Bindungsformen zu erkennen, damit sie frühzeitig vermieden oder gemildert werden können
© Pixabay, cocoparisienne
Ein beflügelndes Bild eines Knaben mit seinem fliegenden Drachen. Dieses Bild wurde von Isabelle Thoresen im Vorwort des TApublik Nr.3 2022/2023 entwickelt und sieht Parallelen zu den Begriffen Freiheit und Verbundenheit. Ich habe dann diese beiden Begriffe mit den Bindungsmustern (John Bowlby) verknüpft. Zwischen Knabe und Drachen besteht, solange die Schnur hält, eine Bindung – und zwar eine sichere.
John Bowlby (1907-1990) definierte das sichere Bindungsmuster als Befriedigung/Erfüllung des Bedürfnisses (des Kleinkindes) nach Schutz und Sicherheit. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, kann das Kind explorieren, das heisst, es kann die Umwelt entdecken. Innere Sicherheit (Bindung) und Exploration (Erkunden der Umwelt) sind dann im Einklang und wechseln sich gegenseitig, meist recht kurzfristig, ab.
Reisst die Schnur, so macht sich der Drachen selbständig und kann nicht mehr gesteuert werden. Die spielerische Balance (freies Kind) zwischen den beiden kann verloren gehen. Von «Drachen-Autonomie» zu sprechen, wäre bei den unsicheren Bindungsformen wohl vermessen, weil der Drachen einem sicheren Absturz nicht mehr ausweichen kann. Neben der sicheren Bindungsstruktur sprachen John Bowlby und Mary Ainsworth von drei unsicheren Bindungsformen: desorientiert, unsicher ambivalent und unsicher vermeidend. Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher und Psychotherapeut spricht in seinem Buch «Bindungsstörungen» gegenwärtig von vielen verschiedenen Bindungssystemen und diversen Mischformen. Brisch ist in der Zuordnung der einzelnen unsicheren Bindungsformen äusserst vorsichtig. Unsichere Bindung heisst in der Regel: Mit der Verbindungs-Schnur gibt’s Probleme. Und dies kann (z.B. bei unsicheren Bindungsstrukturen der Elternschaft) bereits vorgeburtlich passiert sein. Karl Heinz Brisch ergänzt1, dass die sichere Bindungsstruktur in der Kindheit nicht nur essentiell ist und Leitplanken setzt, sondern die eigentliche Voraussetzung für ein resilientes Leben bedeutet. Dann soll die Verbindungsschnur aber im Laufe der Jugendzeit zunehmend lockerer werden und irgendwann in luftiger Höhe sich sogar von der Mutter (oder Bezugsperson) lösen können. Es folgt ein selbstbestimmendes autonomes Weiterfliegen. Dieses Bild scheint mir höchst dynamisch und erinnert transaktionsanalytisch an das freie Kind (fK).
John Bowlby (1907-1990) definierte das sichere Bindungsmuster als Befriedigung/Erfüllung des Bedürfnisses (des Kleinkindes) nach Schutz und Sicherheit. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, kann das Kind explorieren, das heisst, es kann die Umwelt entdecken. Innere Sicherheit (Bindung) und Exploration (Erkunden der Umwelt) sind dann im Einklang und wechseln sich gegenseitig, meist recht kurzfristig, ab.
Reisst die Schnur, so macht sich der Drachen selbständig und kann nicht mehr gesteuert werden. Die spielerische Balance (freies Kind) zwischen den beiden kann verloren gehen. Von «Drachen-Autonomie» zu sprechen, wäre bei den unsicheren Bindungsformen wohl vermessen, weil der Drachen einem sicheren Absturz nicht mehr ausweichen kann. Neben der sicheren Bindungsstruktur sprachen John Bowlby und Mary Ainsworth von drei unsicheren Bindungsformen: desorientiert, unsicher ambivalent und unsicher vermeidend. Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher und Psychotherapeut spricht in seinem Buch «Bindungsstörungen» gegenwärtig von vielen verschiedenen Bindungssystemen und diversen Mischformen. Brisch ist in der Zuordnung der einzelnen unsicheren Bindungsformen äusserst vorsichtig. Unsichere Bindung heisst in der Regel: Mit der Verbindungs-Schnur gibt’s Probleme. Und dies kann (z.B. bei unsicheren Bindungsstrukturen der Elternschaft) bereits vorgeburtlich passiert sein. Karl Heinz Brisch ergänzt1, dass die sichere Bindungsstruktur in der Kindheit nicht nur essentiell ist und Leitplanken setzt, sondern die eigentliche Voraussetzung für ein resilientes Leben bedeutet. Dann soll die Verbindungsschnur aber im Laufe der Jugendzeit zunehmend lockerer werden und irgendwann in luftiger Höhe sich sogar von der Mutter (oder Bezugsperson) lösen können. Es folgt ein selbstbestimmendes autonomes Weiterfliegen. Dieses Bild scheint mir höchst dynamisch und erinnert transaktionsanalytisch an das freie Kind (fK).
Erstes Beispiel: Desorientierte Bindung
Katharina Bracher beschreibt das Ende des Fox-News-Star Tucker Carlson in der NZZ vom 29. April 2023. Tucker begeisterte Abend für Abend Millionen von Zuschauern während 60 Minuten mit seinen Hasspredigten. Es gelang ihm, sie in seinen Bann zu ziehen bis er Ende April 2023 von einem Tag auf den anderen entlassen wurde, angeblich weil er wissentlich Unwahrheiten verbreitet hatte. Seine Abendsendungen waren in den USA äusserst beliebt und seine Hasstiraden wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.
Was war geschehen? Ich greife auf seine von mir vermutete Bindungsform zurück: Carlson berichtet in einem Interview2 über seine Kindheit: «Es ist schlimm, zu erfahren, dass dich deine Mutter nicht liebt.»
Als Carlson 6-jährig war zerbrach die Familie vollständig. Die Mutter verliess die Familie, nachdem sie bereits jahrelang mit den beiden Kindern überfordert war. Tucker Carlson kannte in seiner Kindheit keine Sicherheit, sondern weitgehende Desorientierung, was vermutlich auf die Drogensucht seiner Mutter zurückgeführt werden kann. Die desorientierte Bindungsform gibt grundsätzlich nirgendwo Halt. Psychische und physische Gewalt gehört dazu. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wut, die diese Kinder in jungen Jahren begleitet, irgendwie ein Bestandteil ihrer Persönlichkeit wird. Dieser negative emotionale Ballast macht es ihnen schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu regulieren. Das wiederum erhöht das Risiko, dass sie irgendwann selbst zu Gewalt greifen was sich auch verbal äussern kann. Und dies war bei Carlson wohl der Fall. Die NZZ schreibt:
Was war geschehen? Ich greife auf seine von mir vermutete Bindungsform zurück: Carlson berichtet in einem Interview2 über seine Kindheit: «Es ist schlimm, zu erfahren, dass dich deine Mutter nicht liebt.»
Als Carlson 6-jährig war zerbrach die Familie vollständig. Die Mutter verliess die Familie, nachdem sie bereits jahrelang mit den beiden Kindern überfordert war. Tucker Carlson kannte in seiner Kindheit keine Sicherheit, sondern weitgehende Desorientierung, was vermutlich auf die Drogensucht seiner Mutter zurückgeführt werden kann. Die desorientierte Bindungsform gibt grundsätzlich nirgendwo Halt. Psychische und physische Gewalt gehört dazu. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wut, die diese Kinder in jungen Jahren begleitet, irgendwie ein Bestandteil ihrer Persönlichkeit wird. Dieser negative emotionale Ballast macht es ihnen schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu regulieren. Das wiederum erhöht das Risiko, dass sie irgendwann selbst zu Gewalt greifen was sich auch verbal äussern kann. Und dies war bei Carlson wohl der Fall. Die NZZ schreibt:
«Carlson steigt in seinen Monologen immer ganz oben ein auf der Klaviatur der Wut. Er ist bereits nach den ersten Worten stocksauer und steigert sich immer weiter in seine Rage. Es gibt keinen Sprachwitz, kein Funken Ironie zieht sich durch seinen Sermon. Carlson lässt die Sätze springen wie Knallfrösche. Irgendwann ist alles an ihm nur noch Wut und je länger und tobsüchtiger Carlson’s Monolog – desto eher bleiben die Menschen am Bildschirm.»3
Carlson hatte also vor Millionen von Zuschauern Erfolg. Trotzdem wurden seine «Charakterschwächen» für ihn zum Bumerang. Karl Heinz Brisch spricht bei der desorientierten Bindungsstruktur von fünf hauptsächlichen Eigenschaften:
1. Verzerrte Selbstwahrnehmung und geringes Selbstwertgefühl.
2. Höhere Rate von Verhaltensauffälligkeiten.
3. Angst und Depression.
4. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration. (ADHS tritt gehäuft auf)
5. Veränderungen des Nervensystems.
Zudem:
Welche dieser Eigenschaften auf Carlson wohl zutreffen, ist schwer zu sagen und ich möchte mich nicht auf Spekulationen einlassen. Was als sicher gelten kann, ist, dass seine ursprüngliche desorientierte Bindung Auswirkungen auf sein inneres Wut-System in seiner Rolle als Fox-News-Moderator hatte. Seiner ursprünglichen Wut auf die Mutter konnte Carlson wohl nicht freien Lauf lassen. Als späterer Moderator war er da freier und konnte seine innere Wut millionenfach «herausbrüllen». Psychotherapie für den Moderator?... das könnte man sich wohl fragen.
Um beim anfänglichen Drachen-Bild zu bleiben: Der Drachen von Carlson hatte schon in seiner Kindheit keinen Haltepunkt, er flog irgendwo herum geriet wohl häufig in Turbulenzen und stürzte – insbesondere nach seiner abrupten Entlassung - irgendwo ab. Und dieses Spektakel könnte sogar geeignet sein, Zuschauer – wie bei einem spanischen Stierkampf – zu elektrisieren. Ich unterstelle die Zuschauerbegeisterung bei Fox News durchaus dieser Tatsache. Fox News hat alle paar Minuten die Zahl der Zuschauer gemessen und stellte bei zunehmender Aggression von Carlson sofort höhere Zuschauerzahlen fest.
Eine desorientierte Bindung hat keine Konstanz. Es gibt ein ständiges Hin und Her, die Schnur des Drachens war gar nie vorhanden oder frühzeitig gerissen. Der Drachen fliegt, baumelt, stürzt je nach Wetterlage dann auch irgendwann ab.
Das folgende Schaubild könnte das gut illustrieren: Rundungen - und damit guter Rhythmus - fehlen, es geht zackig hin und her und nichts ist zum Voraus berechenbar.
Carlson hatte also vor Millionen von Zuschauern Erfolg. Trotzdem wurden seine «Charakterschwächen» für ihn zum Bumerang. Karl Heinz Brisch spricht bei der desorientierten Bindungsstruktur von fünf hauptsächlichen Eigenschaften:
1. Verzerrte Selbstwahrnehmung und geringes Selbstwertgefühl.
2. Höhere Rate von Verhaltensauffälligkeiten.
3. Angst und Depression.
4. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration. (ADHS tritt gehäuft auf)
5. Veränderungen des Nervensystems.
Zudem:
Es gibt keine durchgängige Verhaltensstrategie.
Vorwiegend zeigt sich emotional widersprüchliches Verhalten.
Es kommt zu motorischen und stereotypischen Sequenzen.
„Freezing“, das heisst Innehalten im Verlauf der Bewegungen und kurzfristiges „Erstarren“.
Erhöhte Stresswerte, wie beim unsicher gebundenen Kind.
Welche dieser Eigenschaften auf Carlson wohl zutreffen, ist schwer zu sagen und ich möchte mich nicht auf Spekulationen einlassen. Was als sicher gelten kann, ist, dass seine ursprüngliche desorientierte Bindung Auswirkungen auf sein inneres Wut-System in seiner Rolle als Fox-News-Moderator hatte. Seiner ursprünglichen Wut auf die Mutter konnte Carlson wohl nicht freien Lauf lassen. Als späterer Moderator war er da freier und konnte seine innere Wut millionenfach «herausbrüllen». Psychotherapie für den Moderator?... das könnte man sich wohl fragen.
Um beim anfänglichen Drachen-Bild zu bleiben: Der Drachen von Carlson hatte schon in seiner Kindheit keinen Haltepunkt, er flog irgendwo herum geriet wohl häufig in Turbulenzen und stürzte – insbesondere nach seiner abrupten Entlassung - irgendwo ab. Und dieses Spektakel könnte sogar geeignet sein, Zuschauer – wie bei einem spanischen Stierkampf – zu elektrisieren. Ich unterstelle die Zuschauerbegeisterung bei Fox News durchaus dieser Tatsache. Fox News hat alle paar Minuten die Zahl der Zuschauer gemessen und stellte bei zunehmender Aggression von Carlson sofort höhere Zuschauerzahlen fest.
Eine desorientierte Bindung hat keine Konstanz. Es gibt ein ständiges Hin und Her, die Schnur des Drachens war gar nie vorhanden oder frühzeitig gerissen. Der Drachen fliegt, baumelt, stürzt je nach Wetterlage dann auch irgendwann ab.
Das folgende Schaubild könnte das gut illustrieren: Rundungen - und damit guter Rhythmus - fehlen, es geht zackig hin und her und nichts ist zum Voraus berechenbar.
Desorientiertes Bindungsmuster: Abrupte Wechsel, die nicht vorausgesagt werden können
Zweites Beispiel: Unsicher-ambivalente Bindung
In der NZZ vom 13.04.2023 findet sich von Christine Brinck unter dem Titel: «Die Angst beim Warten auf ein Bling» ein bemerkenswerter Artikel. Christine Brinck beschreibt die heutige Teenager-Generation, welche sie i-Gen-Generation nennt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Mädchen, welche nach 1995 geboren worden sind. Man hat in einer Studie (Dr. Jean Twenge) herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unglücklichsein der Heranwachsenden und dem sozialen Medienkonsum gibt. «Wir erleben seit zehn Jahren eine Epidemie mentaler Erkrankungen unter Teenagern wie nie zuvor» kommentierten amerikanische Kinderärzte und Psychiater die Ergebnisse der Studie. Verbitterung und Vereinzelung sei seit 2010 in erheblichem Masse gestiegen. Die entsprechenden Verwerfungen hätten präzise 2012 begonnen, als Facebook Instagram kaufte. So sei ein gewisser Anpassungsdruck (Aussehen, Leben, Denken, Abgrenzung von Eltern etc.) unter Teenagern zu beobachten gewesen. Stress, Minderwertigkeitsgefühle, Drogen, Alkohol können die negativen Gefühle verstärken. Dazu kommt eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz des Smartphones. In wenigen Jahren seien die Zufriedenheitsgewinne von zwei Jahrzehnten ausgelöscht worden. Von 2009 bis 2019 sei das Gefühl von Traurigkeit und Trostlosigkeit bei den Teenagern um 40 % gestiegen, unter den 10- bis 24-Jährigen sei zudem Suizid die dritthäufigste Todesursache. Laut der oben genannten Studie geben 60% der Mädchen an, im vergangenen Jahr dauernd Traurigkeit empfunden zu haben und 30% hatten ernsthaft an Suizid gedacht. Weshalb sind Mädchen gefährdeter als Knaben? Weil sie bis zu 6 Stunden täglich über die sozialen Medien ein Damoklesschwert über sich spüren, welches ihnen suggeriert, nicht gut genug zu sein. Sie vergleichen sich fast pausenlos mit anderen, setzen enorm hohe Massstäbe, welche nicht erreichbar seien. Sie halten sich für zu dick oder zu dünn, für zu gross oder zu klein und meinen irgendetwas zu verpassen.
Fazit: Teenager, die mehr reale Zeit miteinander verbringen sind glücklicher, weniger einsam, weniger depressiv als jene welche sich viel in den sozialen Medien tummeln. Elektronische Kommunikation ist kein Ersatz für eins-zu-eins-Begegnungen. Gespräche führen zu Auseinandersetzungen mit anderen Ideen und Meinungen. In der digitalen Welt wird die andere Meinung oft weggemobbt. Der Konformationsdruck steigt.
Bei den beschriebenen Teenagern handelt es sich ebenfalls um ein unsicheres Bindungsmuster. Es können Mischformen sein, vieles deutet auf unsicher-ambivalentes Verhalten hin. Insbesondere das ständige Vergleichen der jungen Mädchen ist auffallend. Man will gefallen, schöner als andere sein. Der Preis ist hoch: Traurigkeit und Trostlosigkeit! Diese Befindlichkeiten passen perfekt zur unsicher-ambivalenten Bindungsform, welche mit allen Mitteln Sicherheit anstrebt und geliebt werden möchte und genau diese Befindlichkeit meistens verpasst. In aller Regel ging es bereits bei den Bindungspersonen um fehlende Berechenbarkeit, was beim Kind zu Ärger und Widerstand führen kann. Das Kind scheint auf die Ambivalenzen der Bindungsperson einerseits mit Rückzug, anderseits mit Annäherung und Kontaktversuchen zu reagieren. Dabei können negative Gefühle kaum integriert werden. In der TA sprechen wir dann gerne von Ersatzgefühlen.
Fazit: Teenager, die mehr reale Zeit miteinander verbringen sind glücklicher, weniger einsam, weniger depressiv als jene welche sich viel in den sozialen Medien tummeln. Elektronische Kommunikation ist kein Ersatz für eins-zu-eins-Begegnungen. Gespräche führen zu Auseinandersetzungen mit anderen Ideen und Meinungen. In der digitalen Welt wird die andere Meinung oft weggemobbt. Der Konformationsdruck steigt.
Bei den beschriebenen Teenagern handelt es sich ebenfalls um ein unsicheres Bindungsmuster. Es können Mischformen sein, vieles deutet auf unsicher-ambivalentes Verhalten hin. Insbesondere das ständige Vergleichen der jungen Mädchen ist auffallend. Man will gefallen, schöner als andere sein. Der Preis ist hoch: Traurigkeit und Trostlosigkeit! Diese Befindlichkeiten passen perfekt zur unsicher-ambivalenten Bindungsform, welche mit allen Mitteln Sicherheit anstrebt und geliebt werden möchte und genau diese Befindlichkeit meistens verpasst. In aller Regel ging es bereits bei den Bindungspersonen um fehlende Berechenbarkeit, was beim Kind zu Ärger und Widerstand führen kann. Das Kind scheint auf die Ambivalenzen der Bindungsperson einerseits mit Rückzug, anderseits mit Annäherung und Kontaktversuchen zu reagieren. Dabei können negative Gefühle kaum integriert werden. In der TA sprechen wir dann gerne von Ersatzgefühlen.
Ersatzgefühle:
Es gibt – gemäss transaktionsanalytischer Theorie - 4 Grundgefühle, nämlich Freude, Angst, Trauer und Wut. Diese Grundgefühle haben eine wichtige Funktion, wenn sie richtig eingesetzt werden. Freude führt zu Lebenslust. Angst schützt vor allfälligen Gefahren. Trauer ist notwendig, um einen Verlust zu verarbeiten. Wut ist sehr wichtig, um die innere Balance behalten zu können. Nicht ausgesprochene Wut, meist runtergeschluckt und ev. gar noch mit einem Lächeln maskiert, führt gerne zu (psychischen) Störungen/Belastungen. Das Lächeln (das der Freude zugeordnet werden kann) ist dann ein Ersatzgefühl. Mit diesem Ersatzgefühl (eigentliche Maske) kann die Wut als ursprüngliches funktionales Gefühl überdeckt werden. Das Ersatzgefühl ist dann dysfunktional - Probleme werden nicht gelöst, sondern lediglich beiseitegeschoben.
Das folgende Schaubild zeigt in der liegenden unsymmetrischen Acht die Verteilung der seelischen Energie bei der unsicher-ambivalenten Bindungsform. Bindung, Bindungssuche, dazwischen Abstürze, weil die Bindung nicht zufriedenstellend gelang, wechseln sich ab. Für das Explorieren bleibt fast keine Energie. Beziehungen stehen permanent im Mittelpunkt, alles dreht sich um Beziehungen, meist um Beziehungen, welche nicht so recht befriedigen, dafür aber vermehrten Gesprächsstoff liefern können.
Unsicher ambivalente Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Bindungsverhalten gesteckt, welches hier sehr viel Raum einnimmt
Das unsicher-ambivalente Muster kann sich folgendermassen zeigen:
Im oben dargestellten NZZ-Artikel geht es vorwiegend um Mädchen. Dazu passt das unsicher-ambivalente Bindungsmuster, wird doch weitgehend beobachtet, dass Mädchen in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen ein Hauptthema bearbeiten: Liebe, Anerkennung und oft auch Neid und Eifersucht. Die äussere Erscheinung wird dann gerne überbewertet, weil diese eben auch viel Anerkennung bringen kann.
Solche Kinder sind stark auf die Bindungsperson fixiert, wodurch das Bindungssystem stark aktiviert ist.
Das führt auch bei Anwesenheit der Bindungsperson zu stark eingeschränktem Explorationsverhalten.
Kind betrachtet Bindungsperson als nicht berechenbar.
Die unvorhersagbaren Erfahrungen des Kindes führen zu Ärger und Widerstand beim Versuch das Kind zu trösten.
Einmal kann das Kind ärgerlich und aggressiv auf Bezugsperson reagieren, dann aber plötzlich sucht es Nähe und Kontakt.
Negative Gefühle können nicht integriert werden.
Im oben dargestellten NZZ-Artikel geht es vorwiegend um Mädchen. Dazu passt das unsicher-ambivalente Bindungsmuster, wird doch weitgehend beobachtet, dass Mädchen in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen ein Hauptthema bearbeiten: Liebe, Anerkennung und oft auch Neid und Eifersucht. Die äussere Erscheinung wird dann gerne überbewertet, weil diese eben auch viel Anerkennung bringen kann.
Drittes Beispiel: Unsicher-vermeidende Bindung
Unsichere Bindungen wurden unter anderem im dritten Reich «gezüchtet». Johanna Haarer schrieb 1934 das Buch «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind». Dieses Buch wurde ab 1934 allen jungen Müttern im dritten Reich zur Geburt geschenkt. Es sollte dazu dienen, die Kinder zu harten, möglichst gefühlslosen Menschen zu machen. Keinerlei positive Strokes waren erlaubt, stundenlanges weinen lassen wurde gefordert, Trost war verboten, alles musste nach vorgegebenem Fahrplan ausgeführt werden (insbesondere die Stillzeiten). Auch in den 1980er Jahren war das Buch in Deutschland noch weit verbreitet. Es gab sogar Neuerscheinungen mit nur kleinsten Änderungen.
Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt weitgehend vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich häufig durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann dann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt. Dieses Bindungsmuster wird eher bei Knaben festgestellt.
Das unsicher-vermeidende Muster kann sich folgendermassen zeigen:
Ich komme nochmals auf das Bild des Drachens zurück. Diese drei unsicheren Bindungsformen könnten im «Drachenbild» folgendermassen beschrieben werden:
Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt weitgehend vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich häufig durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann dann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt. Dieses Bindungsmuster wird eher bei Knaben festgestellt.
Das unsicher-vermeidende Muster kann sich folgendermassen zeigen:
Bei Abwesenheit der Beziehungsperson zeigt Kind keine Anzeichen von Beunruhigung oder des Vermissens.
Es exploriert (spielt) scheinbar ohne Einschränkung weiter, zeigt wenig Bindungsverhalten und akzeptiert fremde Personen als Ersatz.
Innerlich ist das Kind aber aufgewühlt.
Die Unterdrückung des Bindungsverhaltens erzeugt hohe emotionale Belastung.
Kommt die Bindungsperson zurück, so wird sie in der Regel abgewiesen.
Die Bindungsperson selbst zeichnet sich meistens durch Aversion gegen Körperkontakt aus und auch durch häufigen Ärger. Riemann würde wohl von einer schizoiden Grundstruktur sprechen.
Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung aufbauen.
Ich komme nochmals auf das Bild des Drachens zurück. Diese drei unsicheren Bindungsformen könnten im «Drachenbild» folgendermassen beschrieben werden:
Bei der desorientierten Bindungsstruktur gab es nie eine Verbindung, der Drachen „geniesst volle Freiheit“. Eine Freiheit, sich auch ins Unglück oder in den Suizid zu stürzen.
Eine unsicher-ambivalente Struktur könnte heissen: Die Schnur besteht aus einem flexiblen Gummizug, kann sich also ausdehnen und verengen. Zudem ist die Schnur dicker geworden. Sie könnte mit einer recht dicken Wäscheleine verglichen werden – die Leichtigkeit (des Seins) ist damit eingeschränkt. In der TA sprechen wir hier gerne von Symbiose, auch von inverser Symbiose. Eine eigene Entwicklung dürfte massiv erschwert sein. Diese Verbindung gibt’s selbstverständlich nicht nur zwischen Kind und Bezugsperson. Wir finden solche Symbiosen auch häufig in jungen, oft auch in alten Partnerschaften.
Bei der unsicher-vermeidenden Struktur ist die Verbindungsschnur wegen emotionalen Enttäuschungen gerissen.
Unsicher-vermeidende Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Explorationsverhalten gesteckt
Erschaffen sicherer Bindungen
Die sichere Bindung ist beglückend. Gemäss Karl Heinz Brisch4 gibt’s in der Baby-Zeit eine klare Schnur-Verbindung, die dann mit der Zeit gelockert werden kann und schliesslich zur eigentlichen Autonomie führt. Dann ist die Verbindung weitgehend aufgelöst. Dies geschieht aber nicht im Streit, sondern ganz natürlich. Gute Gefühle bleiben.
Das folgende Bild soll diese gleichmässige rhythmische Lebensart aufzeigen:
Das folgende Bild soll diese gleichmässige rhythmische Lebensart aufzeigen:
Sichere Bindung5: Bindung und Exploration sind rhythmisch und ausgewogen geprägt
Diese rhythmische und gesunde Lebensform ist das Beste was einem Kind geboten werden kann. Eine starke (oft lebenslängliche) Resilienz ist die Folge. Bei Erwachsenen, welche zwecks Erreichung einer sicheren Bindung, eine Gesprächstherapie aufnehmen, schlage ich beispielsweise folgende zwei Therapie-Ansätze vor:
Yalom’sche Gesprächsmethode
Irvin Yalom hat mit verschiedenen Klienten ein sogenanntes Experiment durchgeführt. Anschliessend an eine Sitzung wurde über den abgelaufenen Prozess nachgedacht (nicht über den Inhalt der Sitzung). Dann, etwa einen Tag später, schrieb Yalom seine Erkenntnisse auf und sandte diese seinem Klienten. Genau zeitgleich lief es auch umgekehrt vom Klienten zum Therapeuten. Natürlich deckten sich die Beschreibungen oft nicht – das ergab dann in der nächsten Sitzung Diskussionsstoff und im besten Fall eine Klärung. Diese Methode lässt Hierarchien verschwinden, es entsteht Augenhöhe. Natürlich soll auch der Therapeut sich offenbaren und nicht lediglich als Zuhörer fungieren. Meiner Erfahrung nach hilft dies, eine sichere Bindung zwischen Therapeut und Klient herzustellen. Diese neue Erfahrung kann dann vom Klienten als Modell benützt werden und in die Praxis umgesetzt werden.
Symbiosen auflösen
Das Kleinkind lebt mit seiner Mutter normalerweise in einer gesunden Symbiose. Die Mutter ist fürsorglich und handelt weitgehend aus ihrem Erwachsenen-Ich. Das Kind hat diese beiden Ich-Zustände noch nicht zur Verfügung und benützt deshalb sein Kind-Ich. Beide zusammen benützen also drei Ich-Zustände. Später, wenn das Kind sich von der Mutter emanzipieren möchte oder auch bei symbiotischen Paarbeziehungen sollten alle drei Ich-Zustände bei beiden Personen funktionieren und eingesetzt werden können. Nicht aufgelöste Symbiosen bei Paaren zeichnen sich meist durch drei gemeinschaftliche Ich-Zustände aus: Eine Person bestimmt wo’s lang geht und leistet auch fast alle Denkprozesse. Die andere Person unterzieht sich meistens und gehorcht oder rebelliert innerlich. Daraus folgt Abhängigkeit, Autonomie ist für beide Teile letztlich nicht möglich. Zur Entwicklung menschlicher Reife und dem Erreichen einer sicheren Bindung gehört die Auflösung der Symbiose. Im Bild des anfänglich erwähnten fliegenden Drachens würde in einer Symbiose zwischen Drachen und Drachenführer keine Schnur eingesetzt, sondern eher ein dickes Wäscheseil, welches jegliches Vergnügen einschränken würde
Das Ziel jeder menschlichen Beziehung, sehe ich – wie John Bowlby und auch Karl Heinz Brisch dies postulieren – im gegenseitigen, ehrlichen Austausch. Dies entspricht dann einer transaktionsanalytischen ++ Grundposition oder auch dem wunderbaren anfangs erwähnten Drachen-Bild.
Das Ziel jeder menschlichen Beziehung, sehe ich – wie John Bowlby und auch Karl Heinz Brisch dies postulieren – im gegenseitigen, ehrlichen Austausch. Dies entspricht dann einer transaktionsanalytischen ++ Grundposition oder auch dem wunderbaren anfangs erwähnten Drachen-Bild.
Literaturangaben
Karl Heinz Brisch, 2020: Bindungsstörungen, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2022: SAFE- Sichere Ausbildung für Eltern, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2023: Gestörte Bindungen im digitalen Zeitalter, Klett-Cotta, Stuttgart
Johanna Haarer, 1997: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, J. F. Lehmanns Verlag, München - Berlin 1941
NZZ vom 13. April 2023: Christine Brinck, Die Angst beim Warten auf ein Bling
NZZ vom 29. April 2023: Katharina Bracher, Er lässt die Sätze springen wie Knallfrösche: Fox-News-Star Tucker Carlson
Irvin D. Yalom, 2013. Die Liebe und ihr Henker, Verlag btb, München
Irvin D. Yalom, 2017. Wie man wird, was man ist, Verlag btb, München
Fussnoten
1 Telefonat vom 12. Mai 2023
2 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
3 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
4 Telefonat vom 12. Mai 2023
5 Diese Illustrationen entstanden spontan während eines «Bindungs»-Seminars an einem TA-Kongress durch mich angeregt und durch Beiträge der TN ergänzt. Jede einzelne Bindung wurde mittels Herumlaufen (aller TN) im Raum illustriert. Dabei galt es auf seine Gegenübertragung zu achten und dabei festzustellen, was eine angenehme oder störende Wirkung auslöste. Interessant war, dass nicht etwa die «sichere Bindung» (gegenseitiger Augenkontakt, kurze nonverbale Begrüssung, dann Exploration im Raum, dann wieder menschlichen Kurzkontakt usw.) innerliche Freudensprünge ausgelöst hatte. Es war die ursprüngliche Bindung, welche innerliche Verwandtschafts-Gefühle hochkommen liessen und den TN heimische Gefühle vermittelten. Wer in jungen Jahren Unsicherheit erleben musste, konnte mit der Übung «Sicherheit» kaum etwas anfangen. Bei der desorientierten Übung gab’s keine Kontinuitäten, alles sehr kurzfristig, hastig und nervös. Ein Beobachter hätte ADHS diagnostiziert. Bei den ambivalent-unsicheren Bindungsbegegnungen ging es nur um Menschliches, ums Berühren, ums Klammern etc.- Bei den unsicher-vermeidenden Begegnungen gab es keine Augenkontakte, Projektoren, Stühle und Tische wurden angefasst und untersucht.
2 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
3 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
4 Telefonat vom 12. Mai 2023
5 Diese Illustrationen entstanden spontan während eines «Bindungs»-Seminars an einem TA-Kongress durch mich angeregt und durch Beiträge der TN ergänzt. Jede einzelne Bindung wurde mittels Herumlaufen (aller TN) im Raum illustriert. Dabei galt es auf seine Gegenübertragung zu achten und dabei festzustellen, was eine angenehme oder störende Wirkung auslöste. Interessant war, dass nicht etwa die «sichere Bindung» (gegenseitiger Augenkontakt, kurze nonverbale Begrüssung, dann Exploration im Raum, dann wieder menschlichen Kurzkontakt usw.) innerliche Freudensprünge ausgelöst hatte. Es war die ursprüngliche Bindung, welche innerliche Verwandtschafts-Gefühle hochkommen liessen und den TN heimische Gefühle vermittelten. Wer in jungen Jahren Unsicherheit erleben musste, konnte mit der Übung «Sicherheit» kaum etwas anfangen. Bei der desorientierten Übung gab’s keine Kontinuitäten, alles sehr kurzfristig, hastig und nervös. Ein Beobachter hätte ADHS diagnostiziert. Bei den ambivalent-unsicheren Bindungsbegegnungen ging es nur um Menschliches, ums Berühren, ums Klammern etc.- Bei den unsicher-vermeidenden Begegnungen gab es keine Augenkontakte, Projektoren, Stühle und Tische wurden angefasst und untersucht.
Jürg Schläpfer TSTA/E
Hier den Artikel drucken oder downloaden: info.dsgta.ch/download/A1232/01-dsgta-artikel-juni23.pdf