artikelfebruar2024

Keine Zukunft mehr und ein miserabler Zeitgeist?

// Autor: Günther Mohr //
Können da Heimat und Arbeit helfen?
©Günther Mohr
Karl Valentins Aussprach »Früher war auch die Zukunft besser« war lange ein Witz, heute ist es common sense. Da gilt es also einmal nachzuschauen, was passiert ist und was jetzt los ist. Im folgenden Beitrag geht es zunächst kurz um zwei wesentliche Aspekte der Zeit, nämlich Zukunft und Zeitgeist. In einem zweiten Teil werden dann zwei Faktoren für das Erfahren der Zeit dargestellt: Heimat und Arbeit. Beide Kontextfaktoren lassen Zeit spezifisch erleben. Also zweimal zwei ist die Struktur des Beitrages.

»Es ist Zeit« war der Titel des deutschsprachigen TA-Kongresses 2023 in Lindau. Die Zeit ist eine nicht greifbare Dimension, die wir aber in der Praxis dazu nutzen, die Abfolge von Ereignissen zu erfassen. Sie wird oft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilt und gerne als Pfeil dargestellt. Auch in der Physik wird die Zeit als eine lineare Richtung betrachtet, während Philosophen und Wissenschaftler sich mit Fragen über die Natur und Qualität der Zeit beschäftigen. Zeit kann ökonomisch auch als ein begrenztes Gut betrachtet werden, das effektiv genutzt werden sollte. Man sieht schon, Zeit ergibt bei genauer Betrachtung sehr unterschiedliche Perspektiven.

Zukunft
Gerade für die systemisch-transaktionsanalytische Beratung ist die Zukunft wichtig. Als Vertreter dieser Richtung bin ich nicht so vergangenheitsorientiert. Die Zukunft bezieht sich auf den Zeitraum, der nach der Gegenwart kommt. Sie ist von Natur aus ungewiss und kann von unseren Entscheidungen, Handlungen und Umständen beeinflusst werden. Die Zukunft ist ein Raum für Potenzial, Hoffnungen und Pläne. Menschen verwenden verschiedene Ansätze, um die Zukunft zu gestalten, wie z.B. Zielsetzung, Planung, strategisches Denken. Es ist wichtig anzumerken, dass niemand die Zukunft genau vorhersagen kann. Wir können jedoch versuchen, uns auf die Zukunft vorzubereiten, indem wir verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen, unsere Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern und uns anpassungsfähig und flexibel halten. Florence Gaub (2023) hat für die Zukunft eine »Bedienungsanleitung« vorgelegt. Der Zukunft werde heute häufig ängstlich begegnet, aber Zukunft sei auch nüchtern zu betrachten. Dazu lädt Gaub mit verschiedenen Thesen ein, hier einige davon:
1. Wir beschäftigen uns zu wenig mit Zukunft. Alle sind konzentriert auf die Bewältigung der Gegenwart und die wird nah den Kategorien der Vergangenheit erlebt.

2. Es gibt nicht »die eine« Zukunft, sondern Zukünfte mit sehr unterschiedlichem Zeithorizont. Es gibt die nächste Sekunde, den nächsten Tag, das nächste Jahr, das, was ein Mensch in seinem Leben noch erleben kann und das über sein Leben Hinausgehende. Diese verschiedenen Zukünfte lassen uns unterschiedlich fühlen. Und Menschen unterscheiden sich vielleicht auch dadurch, wieweit ihr Horizont geht.

3. Menschen in Gegenden mit weniger Wohlstand sind optimistischer bezüglich der Zukunft. Da gibt es einerseits noch was zu erreichen. Da ist noch »Luft nach oben«. Andererseits scheint Wohlstand nicht unbedingt Zufriedenheit und Glück zu garantieren. Man hat auch mehr zu verlieren.

4. Wir haben alle eine unterschiedliche Beziehung zur Zukunft. Wie schon bei den ins Auge gefassten Zeiträumen beschrieben, ist auch die emotionale Tönung von Zukunft unterschiedlich. Zieht man einmal Berne's Skriptprozessmuster heran, so wird ein Mensch mit einem Erst-wenn-Muster ein anderes Gefühl als der mit dem Danach-Skriptmuster haben. »Erst-wenn…« bedeutet, dass man eine Erfüllung immer an bestimmte noch zu erfolgende Bedingungen knüpft. »Erst wenn das Haus abbezahlt ist«. »Erst wenn die Kinder aus dem Haus sind«…..hier gibt es verschiedene angenommene Schwellen. Beim Danach-Skriptmuster droht das Damoklesschwert einer Rechnung, die es irgendwann für aktuelles Wohlergehen noch zu bezahlen gelte, vielleicht weil man über seine Verhältnisse lebt oder weil es einem nach dem eigenen persönlichen unbewussten Lebensplan gar nicht gut gehen darf.

5. Philosophie beschäftigt sich erst seit ca. 300 Jahren mit der Zukunft (vielleicht nicht zufällig mit dem Auftreten von Aufklärung und Kapitalismus). Solange die Welt und ihre Taktung sehr stark durch die Religion bestimmt war, gab es für die Zukunft auch einen klaren Plan. Viel im lebendigen Leben zu erreichen, war nicht unbedingt so von Nöten.

6. Psychologien haben nach Gaub meist Erklärungen aus der Vergangenheit (Lerntheorie, Psychoanalyse). Aus meiner Sicht bilden moderne systemische und lösungsorientierte Ansätze hier Ausnahmen. Sie fußen nicht zentral auf der Vergangenheit, als Beispiel der Ansatz von Steve de Shazer.

7. Man kann sein eigenes Zukunftsdenken beeinflussen und ändern. Das ist sicher ein interessanter Punkt und gerade für Menschen mit oben angedeuteten Skriptprozessmustern ein notwendiger Schritt. Aber auch generell gilt in einer krisengeschüttelten Zeit, dass Menschen auch den Dialog untereinander brauchen, um Hoffnung und Zuversicht aufzubauen.

Zeitgeist
Die aktuelle Zeit ist sehr stark durch Krisen gezeichnet. Manchmal bekommt man das Gefühl einer Vorabendstimmung, als wenn ein größerer »Bang« noch bevorsteht. Krisen sind herausfordernde Situationen, die das Leben beeinflussen können. Sie können persönlicher, zwischenmenschlicher oder globaler Natur sein. Sie erfordern oft Entscheidungen und Maßnahmen, um damit umzugehen und daraus zu lernen. Das ist im Übrigen auch eine nutzbare Resilienzdefinition.

Der Zeitgeist gibt eine gedankliche und emotionale Tönung der aktuellen Phase wieder. Zeitgeist ist eines der deutschsprachigen Wörter, die auch den Einzug in den englischsprachigen Raum gefunden haben. Zeitgeist umfasst bestimmte aktuell gerne besprochene Themen, Handlungsweisen, vielleicht auch äußere Ausdrucksstile genauso wie eine bestimmte häufigere Emotion, was von Aufbruchstimmung bis zu Verzweiflung gehen kann.

Gesellschaftliche Veränderungen
Die Gesellschaft zeigt Anfang der 2020er Jahre interessante Entwicklungen. Von soziologischer Seite werden bestimmte Entwicklungen attestiert. Die Stichworte sind Singularisierung (Reckwitz, 2018) und objektiver Narzissmus (Charim, 2017). Singularisierung bedeutet eine zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft, die sich gleichzeitig in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen auch in einem gesteigerten individuellen Selbstdarstellungsbedürfnis zeigt, Charim (2022) sieht dies in einer Veränderung psychologischer Grundmuster, die Menschen betreffen. So habe sich in psychoanalytischen Termini formuliert, die Orientierung der Menschen weg vom Über-Ich, einer gesellschaftlich bestimmten Normen gebenden Instanz hin zu einer Orientierung am Ich-Ideal, einer individuell selbstkonstruierten Instanz, verändert. Der Zeitgeist lässt sich gut anhand einzelner Themenbereiche betrachten. Ich habe einmal zwei Zeitgeistthemen herausgenommen: Heimat und Arbeit. Diese Themen sollen im Folgenden exemplarisch in einem aktuellen Zeitbezug betrachtet werden.

Heimat
Zunächst zur Heimat. »Das Thema ist nicht den Rechten zu überlassen«, so Teilnehmer im Workshop beim DGTA-Kongress in Lindau 2023. Es ist ein zutiefst psychologisches Thema. Heimat bezieht sich oft am Anfang auf den Ort, an dem man aufgewachsen ist oder zu dem man eine enge emotionale Bindung hat. Heimat steht für Geborgenheit, Zugehörigkeit und Identität. Es ist ein individuelles Empfinden, das mit Erinnerungen, Kultur und sozialen Beziehungen verbunden ist. Gerade bei großen Flüchtlingsbewegungen in der Welt ist das Heimat- und Beheimatungsthema wieder sehr zentral.

Heimat als Zugehörigkeit
Das »need for recognition« (Berne, 1966) ist definiert als ein Bedürfnis gesehen zu werden. Daraus wird auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit abgeleitet (Mountain/Davidson, 2011) also dass man auch zu einer Gruppe dazu gehört, dort eine Rolle spielt, dort wichtig ist. Heimat ist ein spannender Begriff, der lange Zeit ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, aber durch die vielen Flüchtlinge doch wieder ein sehr sehr interessantes Thema geworden ist. Nach dem Krieg, nach 1945 durch die Flüchtlinge in Deutschland, hatte man auch sehr stark mit dem Heimathema zu tun. Die sogenannten Vertriebenen wie es damals hieß, haben sich sehr dafür eingesetzt, wieder irgendwann zurückgehen zu können. Diese Orientierung war eine Zeit lang sehr virulent. Ständig trafen sich irgendwelche Verbände. Aber man merkte, wie den Menschen dieses Thema am Herzen lag. Das ist dann irgendwann ruhiger geworden, so in 70er Jahren. Heute ist durch die Flüchtlingsthematik das Thema Heimat wieder sehr interessant geworden. Deshalb beschäftigen wir uns auch damit.

Was macht denn für uns selbst Heimat aus? Auch unter dem transaktionsanalytischen Gesichtspunkt: Warum ist Heimat wichtig? Das erste, was natürlich einfällt bei Heimat, ist die Zeit oder die Region, in der wir aufgewachsen sind. Das ist oft mit Heimat verbunden. Gleichzeitig hat Heimat aber auch eine ganze Menge anderer Aspekte, die vielleicht eine Rolle spielen, insbesondere Beziehungen. Dabei hat Heimat sehr viel mit Sinnesreizen zu tun, wenn wir uns an diese Ursprungsinhalte, die wir hatten, zurückerinnern. Dann können wir uns an bestimmtes Essen erinnern, an das, was wir dort an Gerüchen hatten. Ein Beispiel aus meiner Kindheit: Wenn samstags nachmittags gebadet wurde - es gab noch keine Kanalisation in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin - gab es den bestimmten Geruch draußen auf der Straße, weil das Badewasser in den Straßen an den Seiten herunterlief und das hatte was ganz Charakteristisches. Ich weiß nicht, warum ich mir dieses zweifelhafte Geruchsbeispiel gemerkt habe. Aber von den Gerüchen her hat jeder von uns auch sicherlich die Erinnerung an ein Lieblingsessen, das er mit seinem Heimatort verbindet, was dort typisch war. Für mich als Moselaner ist natürlich auch sehr in Erinnerung, wenn die Trauben gelesen wurden, im Herbst dieser Geruch, der dann überall war, durch den Trester von den gepressten Trauben. Das lag über ein bis zwei Wochen richtig in der Luft.

Mehrere Heimaten
Heimaten, Plural, können auch ganz unterschiedliche Orte sein. Es kann etwas zu tun haben mit der eigenen Familie genauso aber auch mit einer Professionsgruppe, etwa den Transaktionsanalytikern als einer Heimatgruppe. Es kann irgendein anderer Zusammenhang sein, wo ich mit Leuten in einer bestimmten Beziehung bin und die ich gerne sehe. Wenn ich mit denen zusammen bin, dann fühle ich mich zugehörig und angekommen. Hier haben wir wieder den wesentlichen Teil dieses Themas: Zugehörigkeit. Den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Zugehörigkeit hatten wir schon. Es hat natürlich auch mit dem Grundbedürfnis nach Struktur zu tun, dass ich irgendwie einen Ort bei mir sehe, wo ich verwurzelt bin, verankert bin.

Heimatdynamiken
Weiterhin ist es auch eine interessante Frage, welche Dynamiken bei Heimat eine Rolle spielen. Eine Dynamik ist zum Beispiel Heimweh. Sie können sich Fragen stellen wie:

Wie haben Sie schon mal Heimweh erlebt an irgendeiner Stelle in Ihrem Leben?
Wie sind sie selber mal aus einer Heimat vertrieben worden?
Wie haben sie sich mal heimatlos gefühlt?
Waren sie mal irgendwann in einem Status in der Lebensphase, wo sie sagen jetzt habe ich überhaupt keine Heimat, ich weiß gar nicht wo ich hingehöre?

Da kommen wir auch noch zu einem weiteren interessanten Punkt. Ich glaube, mit zunehmendem Alter ist gar nicht so sehr der Ort das entscheidende. Sondern da kommt die Beziehungsqualität in den Vordergrund, dass man dort beheimatet ist, wo Menschen sind, mit denen man in einer guten Beziehung ist, mit denen man gerne zusammen sein will.



Eigene Folgerungen
Also, es gibt jede Menge von Anknüpfungspunkten psychologischer Natur, die wir bei Heimat haben. Vielleicht ist das für Sie selber auch ein Anknüpfungspunkt also ein Impuls, sich selber mit dieser Frage mal zu beschäftigen, sich vielleicht eine Meditation zu gönnen und zu sagen, ich setze mich eine halbe Stunde hin und denke darüber nach: Wo sind denn meine Heimaten? Wo sind sie gewesen? Was ist die Heimat für mich? Wie viel tue ich in Solidarität für die Menschen, die ihre Heimat verloren haben oder zurzeit verlieren?

Gute Gestaltung der Arbeit übt Demokratie ein
Nun zum zweiten Punkt. Wirtschaft und Psychologie begegnen sich im Thema Arbeit. Hier zeigt Axel Honneth von der Frankfurter Schule wichtige Erkenntnisse auf. Er ist Repräsentant der dritten Generation der Frankfurter Schule nach Adorno und Habermas und hatte sich mit dem Thema »Kampf um Anerkennung« schon viele Meriten verdient. Damit hatte er für die TA mit ihrem Anerkennungsbedürfnis eine lesenswerte Ergänzung gebracht.

»Der arbeitende Souverän« bringt nun eine ganz interessante Verknüpfung. Das Credo ist: Arbeit und ihre Gestaltung sind total entscheidend dafür, wie Demokratie funktioniert. Menschen müssen an Arbeit beteiligt sein, im und am Arbeitsprozess mitwirken. Das gibt Erfahrungen für Demokratie.

Honneth hebt dazu in seiner Argumentation ganz verschiedene Aspekte hervor, die sehr wichtig sind. Der erste Aspekt ist natürlich die materielle, die wirtschaftliche Seite von Arbeit. Menschen müssen in der Lage sein, sich ihr Auskommen zu finanzieren, gesichert sein. Ein zweiter Aspekt, den er heranführt, ist das Thema der Psychologie. Es bedeutet, dass Arbeit Selbstwirksamkeit produziert. In dem Moment, wo ich arbeite, erstelle ich irgendwas, bin selbstwirksam. Ein zentraler Aspekt, den er für seine Argumentation nennt, besteht in der soziologischen Seite. In dem Moment, wenn ich Menschen in den Arbeitsprozess mit hineinnehme, kommen diese auch in Kontakt mit anderen Menschen, anderen Gruppen, anderen Kulturen. Gerade bei den verschiedenen Blasen, die es heute gibt in der Gesellschaft, stellt sich die Frage, wie kommen Menschen überhaupt noch zueinander, wo begegnen sie sich, wenn alle zu Hause sitzen in ihrem Homeoffice und nichts mehr miteinander zu tun haben?

Es wäre danach auch keine Lösung, wenn alle bedingungsloses Grundeinkommen hätten und es keine Begegnung der Menschen mehr gäbe. Da ist etwas sehr Zentrales, was Arbeit leistet. Wenn man die Menschen alle vereinzelt, innerhalb ihrer Blasen lässt, dann hat man den Aspekt des Zusammenkommens nicht mehr.



Das Pragmatische der Arbeit als Voraussetzung für Demokratie­prozesse
Ein weiterer Gesichtspunkt zur Arbeit ist das Pragmatische. Um Demokratie funktionieren zu lassen, braucht es auch eine bestimmte Form von Arbeit oder Arbeitsgestaltung. Das heißt, dass die Menschen tatsächlich in den Arbeitsprozessen - ist ja heute auch in den agilen und modernen Arbeitsorganisationen ein ziemlich zentraler Punkt - lernen, tatsächlich mit gemeinsamen Entscheidungsprozessen umzugehen, zu verhandeln, Einfluss zu nehmen. Man hat jetzt ja gerade wieder gehört, wie viele Großprojekte IT-mäßig wieder gescheitert sind. Das kommt ja auch nicht nur davon, dass die Leute tatsächlich dieses von der Technik her nicht hinkriegen, sondern dass sie merken, wenn die Arbeit tatsächlich so stark gesteuert ist von der IT, dann habe ich keine Beteiligungsform mehr. Da wird sich der autonome Mitarbeiter, der Gestaltungsspielraum und Freiraum haben möchte, gegen wenden. Wenn diese Komponenten zusammenkommen, dann hat man Voraussetzungen dafür, dass Leute lernen, auch in der Demokratie mitzuwirken. Es ist eine Grundlage für Demokratie, dass Gesellschaft zusammenhält und dass Menschen dann auch mitwirken können.

Kritische Wertung
Ich habe allerdings zwei Kritikpunkte am von Honneth vorgelegten Konzept. Der erste Kritikpunkt ist schon mal die Auseinanderentwicklung des Arbeitens in Unternehmen und Organisationen einerseits und dem, was im organisierten parlamentarischen Politiksystem passiert. Wenn jemand nicht aus dem Verwaltungsbereich kommt oder keine juristische Ausbildung besitzt, dann ist er Parlamentarier zweiter Klasse von vorne herein. Weil die ganzen Abläufe oder die Prozesse, die dort stattfinden mittlerweile so geregelt sind und zwar so sehr bürokratisch, ist Einflussnahme vieler Menschen kaum noch möglich. Da kann man in die Parlamente hineinschauen, wie viele Leute mit bestimmten Grundausbildungen dort sitzen und wie viele Leute aus normalen Berufen kommen oder auch Unternehmer sind. In den Parlamenten tätig ist der Berufspolitiker. Der hat sich zeitweise weit weg entwickelt von dem, was die Lebenswirklichkeit ist. So ist die Erfahrung aus Arbeitsprozessen nicht hinreichend für demokratische Prozesse. Da müssen erst einige Reformen her.
Zudem sind Arbeitsprozesse in vielen Bereichen durch die IT auch vorgegeben, dass da auch eine Transformation von Arbeitsprozessen stattfindet. Die KI kommt als besonderes Beispiel hinzu. Die Grundthese von Honneth - er hat ja die alte marxistische Grundlage auch der Kritischen Theorie in der Frankfurter Schule - ist, dass Arbeit etwas zentral Wichtiges ist, dass wir Arbeit brauchen und dass Menschen sich darin verwirklichen, beteiligen lernen und auch Gesellschaft zusammenführen. Die Frage stellt sich hier, wie sehr dies für sich anbahnende, zukünftige Arbeitswelten noch gelten wird. Dennoch finde ich »Arbeit als eine Schule der Demokratie« einen ganz wesentlichen Punkt für die Diskussion gesellschaftlicher Strukturen.

Minimalismus-Frugalismus und Arbeit
Ich bin auch ein Fan von Minimalismus und Frugalismus. Das hat auch viel damit zu tun, dass Leute eher frei arbeiten, sich nicht in Organisationen einfügen. Dennoch ich habe immer, als ich noch in meiner klinischen Arbeit war oder auch im Coaching dafür gesorgt oder Leuten empfohlen, sich wirklich in diese Prozesse der Arbeit mit anderen auch hineinzubegeben, in Teams, weil das auch für die Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Geschichte ist. Man entwickelt seine Persönlichkeit nicht dadurch, dass man sich zurückzieht, zu Hause sitzt und für sich was macht, selbst wenn man durch ein bedingungsloses Grundeinkommen alimentiert wäre. Das glaube ich, sollte man an der Stelle noch mal deutlich überlegen. Also Minimalismus-Frugalismus auf der einen Seite als ein sicherlich bescheidenes Leben ist für die Ökologie heute was ganz Zentrales, auch um diesen Entwicklungsoptimismus zu entwickeln. Es bezieht sich auf die positive Einstellung und den Glauben daran, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können. Optimistische Menschen neigen dazu, Schwierigkeiten als vorübergehend anzusehen und Lösungen zu suchen, anstatt sich von ihnen entmutigen zu lassen. Ein optimistischer Blick kann helfen, Herausforderungen zu bewältigen und das allgemeine Wohlbefinden zu steigern.
Literaturverzeichnis
Berne, E. (1975): Was sagen Sie, nachdem Sie »Guten Tag« gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. München: Kindler
Charim, I. (2022): Die Qualen des Narzissmus, Wien: Paul Zsolnay Verlag
Honneth, A. (2022): Der arbeitende Souverän, Berlin: Suhrkamp.
Mountain, A. & Davidson, C. (2011): Working together, Surrey/UK: Gower.
Mohr, G. (2020): Einführung in die systemische Transaktionsanalyse von Individuum und Organisation, Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
Mohr, G. (2022): Transaktionsanalyse für die Politik, Hamburg: Tredition.
Reckwitz, A. (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Struktur­wandel der Moderne. 5. Auflage. Berlin Suhrkamp.

Günther Mohr
Dipl.-Psych. / Dipl.-Volksw., Senior Coach DBVC / Senior Coach & Supervisor BDP, Scrum-Master/ Zen-Lehrer, Psychologischer Psychotherapeut

www.mohr-coaching.de
youtube.com/user/GuentherMohr


artikeljuni2023

Es ist Zeit…

// Autor: Jürg Schläpfer //
... unsichere Bindungsformen zu erkennen, damit sie frühzeitig vermieden oder gemildert werden können
© Pixabay, cocoparisienne
Ein beflügelndes Bild eines Knaben mit seinem fliegenden Drachen. Dieses Bild wurde von Isabelle Thoresen im Vorwort des TApublik Nr.3 2022/2023 entwickelt und sieht Parallelen zu den Begriffen Freiheit und Verbundenheit. Ich habe dann diese beiden Begriffe mit den Bindungsmustern (John Bowlby) verknüpft. Zwischen Knabe und Drachen besteht, solange die Schnur hält, eine Bindung – und zwar eine sichere.

John Bowlby (1907-1990) definierte das sichere Bindungsmuster als Befriedigung/Erfüllung des Bedürfnisses (des Kleinkindes) nach Schutz und Sicherheit. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, kann das Kind explorieren, das heisst, es kann die Umwelt entdecken. Innere Sicherheit (Bindung) und Exploration (Erkunden der Umwelt) sind dann im Einklang und wechseln sich gegenseitig, meist recht kurzfristig, ab.

Reisst die Schnur, so macht sich der Drachen selbständig und kann nicht mehr gesteuert werden. Die spielerische Balance (freies Kind) zwischen den beiden kann verloren gehen. Von «Drachen-Autonomie» zu sprechen, wäre bei den unsicheren Bindungsformen wohl vermessen, weil der Drachen einem sicheren Absturz nicht mehr ausweichen kann. Neben der sicheren Bindungsstruktur sprachen John Bowlby und Mary Ainsworth von drei unsicheren Bindungsformen: desorientiert, unsicher ambivalent und unsicher vermeidend. Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher und Psychotherapeut spricht in seinem Buch «Bindungsstörungen» gegenwärtig von vielen verschiedenen Bindungssystemen und diversen Mischformen. Brisch ist in der Zuordnung der einzelnen unsicheren Bindungsformen äusserst vorsichtig. Unsichere Bindung heisst in der Regel: Mit der Verbindungs-Schnur gibt’s Probleme. Und dies kann (z.B. bei unsicheren Bindungsstrukturen der Elternschaft) bereits vorgeburtlich passiert sein. Karl Heinz Brisch ergänzt1, dass die sichere Bindungsstruktur in der Kindheit nicht nur essentiell ist und Leitplanken setzt, sondern die eigentliche Voraussetzung für ein resilientes Leben bedeutet. Dann soll die Verbindungsschnur aber im Laufe der Jugendzeit zunehmend lockerer werden und irgendwann in luftiger Höhe sich sogar von der Mutter (oder Bezugsperson) lösen können. Es folgt ein selbstbestimmendes autonomes Weiterfliegen. Dieses Bild scheint mir höchst dynamisch und erinnert transaktionsanalytisch an das freie Kind (fK).
Erstes Beispiel: Desorientierte Bindung
Katharina Bracher beschreibt das Ende des Fox-News-Star Tucker Carlson in der NZZ vom 29. April 2023. Tucker begeisterte Abend für Abend Millionen von Zuschauern während 60 Minuten mit seinen Hasspredigten. Es gelang ihm, sie in seinen Bann zu ziehen bis er Ende April 2023 von einem Tag auf den anderen entlassen wurde, angeblich weil er wissentlich Unwahrheiten verbreitet hatte. Seine Abendsendungen waren in den USA äusserst beliebt und seine Hasstiraden wurden vom Publikum begeistert aufgenommen.

Was war geschehen? Ich greife auf seine von mir vermutete Bindungsform zurück: Carlson berichtet in einem Interview2 über seine Kindheit: «Es ist schlimm, zu erfahren, dass dich deine Mutter nicht liebt.»
Als Carlson 6-jährig war zerbrach die Familie vollständig. Die Mutter verliess die Familie, nachdem sie bereits jahrelang mit den beiden Kindern überfordert war. Tucker Carlson kannte in seiner Kindheit keine Sicherheit, sondern weitgehende Desorientierung, was vermutlich auf die Drogensucht seiner Mutter zurückgeführt werden kann. Die desorientierte Bindungsform gibt grundsätzlich nirgendwo Halt. Psychische und physische Gewalt gehört dazu. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wut, die diese Kinder in jungen Jahren begleitet, irgendwie ein Bestandteil ihrer Persönlichkeit wird. Dieser negative emotionale Ballast macht es ihnen schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu regulieren. Das wiederum erhöht das Risiko, dass sie irgendwann selbst zu Gewalt greifen was sich auch verbal äussern kann. Und dies war bei Carlson wohl der Fall. Die NZZ schreibt:
«Carlson steigt in seinen Monologen immer ganz oben ein auf der Klaviatur der Wut. Er ist bereits nach den ersten Worten stocksauer und steigert sich immer weiter in seine Rage. Es gibt keinen Sprachwitz, kein Funken Ironie zieht sich durch seinen Sermon. Carlson lässt die Sätze springen wie Knallfrösche. Irgendwann ist alles an ihm nur noch Wut und je länger und tobsüchtiger Carlson’s Monolog – desto eher bleiben die Menschen am Bildschirm.»3

Carlson hatte also vor Millionen von Zuschauern Erfolg. Trotzdem wurden seine «Charakterschwächen» für ihn zum Bumerang. Karl Heinz Brisch spricht bei der desorientierten Bindungsstruktur von fünf hauptsächlichen Eigenschaften:

1. Verzerrte Selbstwahrnehmung und geringes Selbstwertgefühl.
2. Höhere Rate von Verhaltensauffälligkeiten.
3. Angst und Depression.
4. Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration. (ADHS tritt gehäuft auf)
5. Veränderungen des Nervensystems.

Zudem:
Es gibt keine durchgängige Verhaltensstrategie.
Vorwiegend zeigt sich emotional widersprüchliches Verhalten.
Es kommt zu motorischen und stereotypischen Sequenzen.
„Freezing“, das heisst Innehalten im Verlauf der Bewegungen und kurzfristiges „Erstarren“.
Erhöhte Stresswerte, wie beim unsicher gebundenen Kind.


Welche dieser Eigenschaften auf Carlson wohl zutreffen, ist schwer zu sagen und ich möchte mich nicht auf Spekulationen einlassen. Was als sicher gelten kann, ist, dass seine ursprüngliche desorientierte Bindung Auswirkungen auf sein inneres Wut-System in seiner Rolle als Fox-News-Moderator hatte. Seiner ursprünglichen Wut auf die Mutter konnte Carlson wohl nicht freien Lauf lassen. Als späterer Moderator war er da freier und konnte seine innere Wut millionenfach «herausbrüllen». Psychotherapie für den Moderator?... das könnte man sich wohl fragen.

Um beim anfänglichen Drachen-Bild zu bleiben: Der Drachen von Carlson hatte schon in seiner Kindheit keinen Haltepunkt, er flog irgendwo herum geriet wohl häufig in Turbulenzen und stürzte – insbesondere nach seiner abrupten Entlassung - irgendwo ab. Und dieses Spektakel könnte sogar geeignet sein, Zuschauer – wie bei einem spanischen Stierkampf – zu elektrisieren. Ich unterstelle die Zuschauerbegeisterung bei Fox News durchaus dieser Tatsache. Fox News hat alle paar Minuten die Zahl der Zuschauer gemessen und stellte bei zunehmender Aggression von Carlson sofort höhere Zuschauerzahlen fest.

Eine desorientierte Bindung hat keine Konstanz. Es gibt ein ständiges Hin und Her, die Schnur des Drachens war gar nie vorhanden oder frühzeitig gerissen. Der Drachen fliegt, baumelt, stürzt je nach Wetterlage dann auch irgendwann ab.

Das folgende Schaubild könnte das gut illustrieren: Rundungen - und damit guter Rhythmus - fehlen, es geht zackig hin und her und nichts ist zum Voraus berechenbar.
Desorientiertes Bindungsmuster: Abrupte Wechsel, die nicht vorausgesagt werden können
Zweites Beispiel: Unsicher-ambivalente Bindung
In der NZZ vom 13.04.2023 findet sich von Christine Brinck unter dem Titel: «Die Angst beim Warten auf ein Bling» ein bemerkenswerter Artikel. Christine Brinck beschreibt die heutige Teenager-Generation, welche sie i-Gen-Generation nennt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Mädchen, welche nach 1995 geboren worden sind. Man hat in einer Studie (Dr. Jean Twenge) herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unglücklichsein der Heranwachsenden und dem sozialen Medienkonsum gibt. «Wir erleben seit zehn Jahren eine Epidemie mentaler Erkrankungen unter Teenagern wie nie zuvor» kommentierten amerikanische Kinderärzte und Psychiater die Ergebnisse der Studie. Verbitterung und Vereinzelung sei seit 2010 in erheblichem Masse gestiegen. Die entsprechenden Verwerfungen hätten präzise 2012 begonnen, als Facebook Instagram kaufte. So sei ein gewisser Anpassungsdruck (Aussehen, Leben, Denken, Abgrenzung von Eltern etc.) unter Teenagern zu beobachten gewesen. Stress, Minderwertigkeitsgefühle, Drogen, Alkohol können die negativen Gefühle verstärken. Dazu kommt eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz des Smartphones. In wenigen Jahren seien die Zufriedenheitsgewinne von zwei Jahrzehnten ausgelöscht worden. Von 2009 bis 2019 sei das Gefühl von Traurigkeit und Trostlosigkeit bei den Teenagern um 40 % gestiegen, unter den 10- bis 24-Jährigen sei zudem Suizid die dritthäufigste Todesursache. Laut der oben genannten Studie geben 60% der Mädchen an, im vergangenen Jahr dauernd Traurigkeit empfunden zu haben und 30% hatten ernsthaft an Suizid gedacht. Weshalb sind Mädchen gefährdeter als Knaben? Weil sie bis zu 6 Stunden täglich über die sozialen Medien ein Damoklesschwert über sich spüren, welches ihnen suggeriert, nicht gut genug zu sein. Sie vergleichen sich fast pausenlos mit anderen, setzen enorm hohe Massstäbe, welche nicht erreichbar seien. Sie halten sich für zu dick oder zu dünn, für zu gross oder zu klein und meinen irgendetwas zu verpassen.
Fazit: Teenager, die mehr reale Zeit miteinander verbringen sind glücklicher, weniger einsam, weniger depressiv als jene welche sich viel in den sozialen Medien tummeln. Elektronische Kommunikation ist kein Ersatz für eins-zu-eins-Begegnungen. Gespräche führen zu Auseinandersetzungen mit anderen Ideen und Meinungen. In der digitalen Welt wird die andere Meinung oft weggemobbt. Der Konformationsdruck steigt.

Bei den beschriebenen Teenagern handelt es sich ebenfalls um ein unsicheres Bindungs­muster. Es können Mischformen sein, vieles deutet auf unsicher-ambivalentes Verhalten hin. Insbesondere das ständige Vergleichen der jungen Mädchen ist auffallend. Man will gefallen, schöner als andere sein. Der Preis ist hoch: Traurigkeit und Trostlosigkeit! Diese Befindlichkeiten passen perfekt zur unsicher-ambivalenten Bindungsform, welche mit allen Mitteln Sicherheit anstrebt und geliebt werden möchte und genau diese Befindlichkeit meistens verpasst. In aller Regel ging es bereits bei den Bindungspersonen um fehlende Berechenbarkeit, was beim Kind zu Ärger und Widerstand führen kann. Das Kind scheint auf die Ambivalenzen der Bindungsperson einerseits mit Rückzug, anderseits mit Annäherung und Kontaktversuchen zu reagieren. Dabei können negative Gefühle kaum integriert werden. In der TA sprechen wir dann gerne von Ersatzgefühlen.
Ersatzgefühle:
Es gibt – gemäss transaktionsanalytischer Theorie - 4 Grundgefühle, nämlich Freude, Angst, Trauer und Wut. Diese Grundgefühle haben eine wichtige Funktion, wenn sie richtig eingesetzt werden. Freude führt zu Lebenslust. Angst schützt vor allfälligen Gefahren. Trauer ist notwendig, um einen Verlust zu verarbeiten. Wut ist sehr wichtig, um die innere Balance behalten zu können. Nicht ausgesprochene Wut, meist runtergeschluckt und ev. gar noch mit einem Lächeln maskiert, führt gerne zu (psychischen) Störungen/Belastungen. Das Lächeln (das der Freude zugeordnet werden kann) ist dann ein Ersatzgefühl. Mit diesem Ersatzgefühl (eigentliche Maske) kann die Wut als ursprüngliches funktionales Gefühl überdeckt werden. Das Ersatzgefühl ist dann dysfunktional - Probleme werden nicht gelöst, sondern lediglich beiseitegeschoben.
Das folgende Schaubild zeigt in der liegenden unsymmetrischen Acht die Verteilung der seelischen Energie bei der unsicher-ambivalenten Bindungsform. Bindung, Bindungssuche, dazwischen Abstürze, weil die Bindung nicht zufriedenstellend gelang, wechseln sich ab. Für das Explorieren bleibt fast keine Energie. Beziehungen stehen permanent im Mittelpunkt, alles dreht sich um Beziehungen, meist um Beziehungen, welche nicht so recht befriedigen, dafür aber vermehrten Gesprächsstoff liefern können.
Unsicher ambivalente Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Bindungsverhalten gesteckt, welches hier sehr viel Raum einnimmt
Das unsicher-ambivalente Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Solche Kinder sind stark auf die Bindungsperson fixiert, wodurch das Bindungssystem stark aktiviert ist.
Das führt auch bei Anwesenheit der Bindungsperson zu stark eingeschränktem Explorationsverhalten.
Kind betrachtet Bindungsperson als nicht berechenbar.
Die unvorhersagbaren Erfahrungen des Kindes führen zu Ärger und Widerstand beim Versuch das Kind zu trösten.
Einmal kann das Kind ärgerlich und aggressiv auf Bezugsperson reagieren, dann aber plötzlich sucht es Nähe und Kontakt.
Negative Gefühle können nicht integriert werden.


Im oben dargestellten NZZ-Artikel geht es vorwiegend um Mädchen. Dazu passt das unsicher-ambivalente Bindungsmuster, wird doch weitgehend beobachtet, dass Mädchen in ihren zwischenmenschlichen Begegnungen ein Hauptthema bearbeiten: Liebe, Anerkennung und oft auch Neid und Eifersucht. Die äussere Erscheinung wird dann gerne überbewertet, weil diese eben auch viel Anerkennung bringen kann.
Drittes Beispiel: Unsicher-vermeidende Bindung
Unsichere Bindungen wurden unter anderem im dritten Reich «gezüchtet». Johanna Haarer schrieb 1934 das Buch «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind». Dieses Buch wurde ab 1934 allen jungen Müttern im dritten Reich zur Geburt geschenkt. Es sollte dazu dienen, die Kinder zu harten, möglichst gefühlslosen Menschen zu machen. Keinerlei positive Strokes waren erlaubt, stundenlanges weinen lassen wurde gefordert, Trost war verboten, alles musste nach vorgegebenem Fahrplan ausgeführt werden (insbesondere die Stillzeiten). Auch in den 1980er Jahren war das Buch in Deutschland noch weit verbreitet. Es gab sogar Neuerscheinungen mit nur kleinsten Änderungen.

Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt weitgehend vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich häufig durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann dann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt. Dieses Bindungsmuster wird eher bei Knaben festgestellt.

Das unsicher-vermeidende Muster kann sich folgendermassen zeigen:

Bei Abwesenheit der Beziehungsperson zeigt Kind keine Anzeichen von Beunruhigung oder des Vermissens.
Es exploriert (spielt) scheinbar ohne Einschränkung weiter, zeigt wenig Bindungsverhalten und akzeptiert fremde Personen als Ersatz.
Innerlich ist das Kind aber aufgewühlt.
Die Unterdrückung des Bindungsverhaltens erzeugt hohe emotionale Belastung.
Kommt die Bindungsperson zurück, so wird sie in der Regel abgewiesen.
Die Bindungsperson selbst zeichnet sich meistens durch Aversion gegen Körperkontakt aus und auch durch häufigen Ärger. Riemann würde wohl von einer schizoiden Grundstruktur sprechen.
Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung aufbauen.


Ich komme nochmals auf das Bild des Drachens zurück. Diese drei unsicheren Bindungsformen könnten im «Drachenbild» folgendermassen beschrieben werden:

Bei der desorientierten Bindungsstruktur gab es nie eine Verbindung, der Drachen „geniesst volle Freiheit“. Eine Freiheit, sich auch ins Unglück oder in den Suizid zu stürzen.
Eine unsicher-ambivalente Struktur könnte heissen: Die Schnur besteht aus einem flexiblen Gummizug, kann sich also ausdehnen und verengen. Zudem ist die Schnur dicker geworden. Sie könnte mit einer recht dicken Wäscheleine verglichen werden – die Leichtigkeit (des Seins) ist damit eingeschränkt. In der TA sprechen wir hier gerne von Symbiose, auch von inverser Symbiose. Eine eigene Entwicklung dürfte massiv erschwert sein. Diese Verbindung gibt’s selbstverständlich nicht nur zwischen Kind und Bezugsperson. Wir finden solche Symbiosen auch häufig in jungen, oft auch in alten Partnerschaften.
Bei der unsicher-vermeidenden Struktur ist die Verbindungsschnur wegen emotionalen Enttäuschungen gerissen.
Unsicher-vermeidende Bindung: Der grösste Teil der seelischen Energien wird ins Explorationsverhalten gesteckt
Erschaffen sicherer Bindungen
Die sichere Bindung ist beglückend. Gemäss Karl Heinz Brisch4 gibt’s in der Baby-Zeit eine klare Schnur-Verbindung, die dann mit der Zeit gelockert werden kann und schliesslich zur eigentlichen Autonomie führt. Dann ist die Verbindung weitgehend aufgelöst. Dies geschieht aber nicht im Streit, sondern ganz natürlich. Gute Gefühle bleiben.

Das folgende Bild soll diese gleichmässige rhythmische Lebensart aufzeigen:
Sichere Bindung5: Bindung und Exploration sind rhythmisch und ausgewogen geprägt
Diese rhythmische und gesunde Lebensform ist das Beste was einem Kind geboten werden kann. Eine starke (oft lebenslängliche) Resilienz ist die Folge. Bei Erwachsenen, welche zwecks Erreichung einer sicheren Bindung, eine Gesprächstherapie aufnehmen, schlage ich beispielsweise folgende zwei Therapie-Ansätze vor:
Yalom’sche Gesprächsmethode
Irvin Yalom hat mit verschiedenen Klienten ein sogenanntes Experiment durchgeführt. Anschliessend an eine Sitzung wurde über den abgelaufenen Prozess nachgedacht (nicht über den Inhalt der Sitzung). Dann, etwa einen Tag später, schrieb Yalom seine Erkenntnisse auf und sandte diese seinem Klienten. Genau zeitgleich lief es auch umgekehrt vom Klienten zum Therapeuten. Natürlich deckten sich die Beschreibungen oft nicht – das ergab dann in der nächsten Sitzung Diskussionsstoff und im besten Fall eine Klärung. Diese Methode lässt Hierarchien verschwinden, es entsteht Augenhöhe. Natürlich soll auch der Therapeut sich offenbaren und nicht lediglich als Zuhörer fungieren. Meiner Erfahrung nach hilft dies, eine sichere Bindung zwischen Therapeut und Klient herzustellen. Diese neue Erfahrung kann dann vom Klienten als Modell benützt werden und in die Praxis umgesetzt werden.
Symbiosen auflösen
Das Kleinkind lebt mit seiner Mutter normalerweise in einer gesunden Symbiose. Die Mutter ist fürsorglich und handelt weitgehend aus ihrem Erwachsenen-Ich. Das Kind hat diese beiden Ich-Zustände noch nicht zur Verfügung und benützt deshalb sein Kind-Ich. Beide zusammen benützen also drei Ich-Zustände. Später, wenn das Kind sich von der Mutter emanzipieren möchte oder auch bei symbiotischen Paarbeziehungen sollten alle drei Ich-Zustände bei beiden Personen funktionieren und eingesetzt werden können. Nicht aufgelöste Symbiosen bei Paaren zeichnen sich meist durch drei gemeinschaftliche Ich-Zustände aus: Eine Person bestimmt wo’s lang geht und leistet auch fast alle Denkprozesse. Die andere Person unterzieht sich meistens und gehorcht oder rebelliert innerlich. Daraus folgt Abhängigkeit, Autonomie ist für beide Teile letztlich nicht möglich. Zur Entwicklung menschlicher Reife und dem Erreichen einer sicheren Bindung gehört die Auflösung der Symbiose. Im Bild des anfänglich erwähnten fliegenden Drachens würde in einer Symbiose zwischen Drachen und Drachenführer keine Schnur eingesetzt, sondern eher ein dickes Wäscheseil, welches jegliches Vergnügen einschränken würde

Das Ziel jeder menschlichen Beziehung, sehe ich – wie John Bowlby und auch Karl Heinz Brisch dies postulieren – im gegenseitigen, ehrlichen Austausch. Dies entspricht dann einer transaktionsanalytischen ++ Grundposition oder auch dem wunderbaren anfangs erwähnten Drachen-Bild.

Literaturangaben
Karl Heinz Brisch, 2020: Bindungsstörungen, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2022: SAFE- Sichere Ausbildung für Eltern, Klett-Cotta, Stuttgart
Karl Heinz Brisch, 2023: Gestörte Bindungen im digitalen Zeitalter, Klett-Cotta, Stuttgart
Johanna Haarer, 1997: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, J. F. Lehmanns Verlag, München - Berlin 1941
NZZ vom 13. April 2023: Christine Brinck, Die Angst beim Warten auf ein Bling
NZZ vom 29. April 2023: Katharina Bracher, Er lässt die Sätze springen wie Knallfrösche: Fox-News-Star Tucker Carlson
Irvin D. Yalom, 2013. Die Liebe und ihr Henker, Verlag btb, München
Irvin D. Yalom, 2017. Wie man wird, was man ist, Verlag btb, München

Fussnoten
1 Telefonat vom 12. Mai 2023
2 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
3 NZZ-Artikel vom 29. April 2023
4 Telefonat vom 12. Mai 2023
5 Diese Illustrationen entstanden spontan während eines «Bindungs»-Seminars an einem TA-Kongress durch mich angeregt und durch Beiträge der TN ergänzt. Jede einzelne Bindung wurde mittels Herumlaufen (aller TN) im Raum illustriert. Dabei galt es auf seine Gegenübertragung zu achten und dabei festzustellen, was eine angenehme oder störende Wirkung auslöste. Interessant war, dass nicht etwa die «sichere Bindung» (gegenseitiger Augenkontakt, kurze nonverbale Begrüssung, dann Exploration im Raum, dann wieder menschlichen Kurzkontakt usw.) innerliche Freudensprünge ausgelöst hatte. Es war die ursprüngliche Bindung, welche innerliche Verwandtschafts-Gefühle hochkommen liessen und den TN heimische Gefühle vermittelten. Wer in jungen Jahren Unsicherheit erleben musste, konnte mit der Übung «Sicherheit» kaum etwas anfangen. Bei der desorientierten Übung gab’s keine Kontinuitäten, alles sehr kurzfristig, hastig und nervös. Ein Beobachter hätte ADHS diagnostiziert. Bei den ambivalent-unsicheren Bindungsbegegnungen ging es nur um Menschliches, ums Berühren, ums Klammern etc.- Bei den unsicher-vermeidenden Begegnungen gab es keine Augenkontakte, Projektoren, Stühle und Tische wurden angefasst und untersucht.

Jürg Schläpfer TSTA/E


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