artikeldezember2023

Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit

// Autor: Franz Liechti-Genge //
© Franz Liechti-Genge
"Es ist Zeit" lautete der Titel des Kongress 2023 der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse in Lindau (D). Dieser vorliegende Text basiert auf einem Workshop, den ich dort gehalten habe. Ziel des Workshops war es, einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Schweigen und Reden auf die Spur zukommen. Es geht hier also nicht um eine systematisch umfassende Abhandlung über das Schweigen und Reden sondern um eine Sammlung von Gedanken und Anregungen, wie insbesondere auch dem Schweigen als wirksame Intervention die nötige Bedeutung beigemessen werden kann. Es geht mir darum, dem "sound of silence" und dem "sound of speaking" nachzuspüren. Wie tönt schweigen? wie tönt reden? Wie fühlt sich das eine und das andere an? Und wie setze ich die beiden Elemente in einem Gespräch bewusst ein?
Der Titel dieses Workshops und auch dieses Textes leitet sich vom biblischen Buch Prediger ab. Unter dem Leitwort "Alles hat seine Zeit"1 werden da ganz verschiedene und sogar gegensätzliche Handlungen beschrieben, wie Menschen ihre Zeit verbringen können. Ein Wortpaar dieser umfassenden und eindrücklichen Liste lautet "Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit".

Zeitgestaltung
Wahrscheinlich hat Eric Berne als Jude diesen bekannten Text aus dem Ersten Testament gekannt und es würde mich nicht wundern, wenn er ihn im Hinterkopf gehabt hätte, als er folgende Sätze formulierte: "For the truth of the matter is not that time is passing, but that we are passing through time. It is not what they said in olden days, a river on whose banks we stand and watch, but a sea we have to cross."2 Für Eric Berne ist Zeit nicht etwas, das wie ein Fluss an uns vorbeizieht, sondern ein Meer, das es zu überqueren gilt. Die Zeit vergeht nicht, sondern wir gehen durch die Zeit.3 Er versteht Zeit als einen Raum, den es zu durchqueren gilt, noch präziser, zu gestalten gilt. Wie im Buch Prediger wird Zeit mit Handlungen konstituiert. In anderem Zusammenhang spricht er sogar von einem psychologischen Grundbedürfnis (Hunger nach Struktur) des Menschen, diesen Zeitraum zu gestalten. Berne unterscheidet dabei sechs menschliche Umgangsformen, wie die Zeit gestaltet werden kann: Rückzug, Rituale, Zeitvertreib, Aktivität, Psychologische Spiele und Intimität.4

Zeit im Sinne von Lebenszeit kann nicht nur qualitativ verschieden gestaltet werden, sondern auch mit verschiedenen Tätigkeiten "gefüllt" werden. Reden und Schweigen sind beides mögliche Tätigkeiten mit denen ich im Sinne Berne's "durch die Zeit gehen kann" kann. Schweigend kann ich mich zurückziehen, und, so absurd sich das lesen mag, ich kann mich auch redend zurückziehen, indem ich einfach rede, ohne mit den anderen Menschen in Kontakt zu sein. Schweigen und Reden sind wichtige Bestandteile eines Rituals. Die Regelung wer, wann, was sagt oder eben schweigt und wie die gemeinsame Zeit gestaltet wird, machen den Kern eines Rituals aus. Dass Zeitvertreib aus einem wohlausgewogenen Wechsel von Reden und Schweigen besteht, den niemanden vor den Kopf stösst, versteht sich fast von selbst. Ebenso, dass Reden und Schweigen wichtige Elemente von Aktivität sind. In diesem Falle dienen beide Möglichkeiten die Zeit zu "füllen" dem gemeinsamen Ziel. Vom Zeitpunkt her gesehen unpassendes Reden und/oder unpassendes Schweigen können beide Auslöser für psychologische Spiele sein. Reden oder Schweigen im falschen Moment sind Einladungen, die dazu führen, dass sich meine Vorstellungen von mir selbst, den anderen und der Welt bestätigen. Gemeinsam vertraut schweigen kann ein Ausdruck von tiefer Verbundenheit und Intimität sein, ja kann sogar etwas Beglückendes haben. Genau so wie ein gutes Wort zur guten Zeit berühren und Beziehung entstehen lassen kann.

Kommunikationsraum und Macht
Wenn zwei Personen miteinander in Kontakt kommen, entsteht ein gemeinsamer Begegnungsraum, für den beide Gesprächsteilnehmende Verantwortung tragen, wie sie ihn gestalten wollen. Eine Begegnung ist in diesem Sinn ein sich gemeinsam in diesem Kommunikationsraum aufhalten. Wenn zwei Personen sich in einem Raum befinden, dann kommt es zu Raumansprüchen. Und Raumansprüche sind auch Machtansprüche. Wird der gemeinsame Raum mit Reden und Schweigen gefüllt, so können Reden und Schweigen als Machtfaktoren einer Begegnung angesehen werden, die es sorgsam zu handhaben gilt.

Auf den ersten Blick gilt: Wer redet, nimmt Raum ein, beansprucht Raum und wer schweigt, gibt Raum. Es gibt eine Macht des Redens: wer redet, fokussiert die Aufmerksamkeit auf sich, bestimmt die Inhalte, den Rhythmus und den Ton eines Gesprächs. Und zugleich gibt es auch eine Macht des Schweigens: wer schweigt, zwingt den anderen zum Reden, entzieht sich dem anderen, macht sich unangreifbar und unbegreiflich, auch das ist ein Form Macht auszuüben.
Umso wichtiger erscheint es mir den bewussten und konstruktiven Umgang mit Reden und Schweigen einzuüben und zu vertiefen.

Schweigen als "Raum geben"
Ich erinnere mich an ein Coaching, das ich in französischer Sprache durchgeführt habe. Aus meinem Gegenüber sprudelten die Worte nur so hervor und das erst noch auf französisch, ich verstand nur die Hälfte und bin das eine oder andere Mal stumm geblieben, weil ich gar nicht recht wusste, was ich mit meinem Halbverstehen anfangen sollte. Am Schluss des Gesprächs war die Klientin äusserst zufrieden und dankte mir für mein wertvolles Schweigen, das ihr half, ihre Gedanken zu ordnen.

Aus dieser (unfreiwilligen) Erfahrung habe ich gelernt, wie hilfreich und weiterführend in einem Gespräch das Schweigen sein kann. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, so habe ich den Raum offen gelassen, dass mein Gegenüber Gelegenheit bekam, nachzudenken und Lösungen zu kreieren. Dank meinem sprachlichen Unvermögen, habe ich sie nicht beim inneren Arbeiten gestört. Daraus habe ich gelernt wie Schweigen Raum schafft, dass Lösungen gefunden und Wege entwickelt werden können. Im Schweigen nimmt sich die beratende Person zurück, hört zu, beansprucht möglichst wenig eigenen Raum. Wenn ich nach einer Frage schweige, lasse ich sie wirken, gebe Zeit, dass eine Antwort überlegt werden kann. Vorzeitiges Reden beraubt einer guten Intervention ihrer Wirkkraft. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, wenn mein Schweigen nicht aus sprachlichem Unvermögen entsteht, sondern aus dem Vertrauen, das ich in meine Intervention setze.5 In meinen TA-Ausbildungsgruppen beobachte ich immer wieder, wie in den Live-Beratungssequenzen die Auszubildenden hilfreiche Interventionen machen oder öffnende Fragen formulieren und dann, wenn das Gegenüber darüber nachzudenken beginnt, und vielleicht einen Moment innehält, sie das kaum aushalten und gleich mit einer weiteren Frage nachdoppeln oder ein neues Thema anbieten. Sie stören oder unterbrechen mit ihrer verfrühten Intervention die Denkarbeit der zu beratenden Person. Schweigen im Sinne von Pause verhilft meinem Gegenüber zu denken. "Pausen sind der beste Teil vom Coaching. Sie werden für's Nichtstun bezahlt. Und dabei sind Sie jedem Rappen Ihres Honorars wert, weil dieses Nichtstun dem Coachee viel wertvolle Reflexionszeit gibt. Pausen verstehen wir als die 'heilige Denkzeit der Kunden'"6

Angemessenes Schweigen
"Und sie setzten sich zu ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte, und keiner sagte ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr gross war."7 So reagieren die Freunde des von Unglück gebeutelten Hiob. Sie kommen ihm nicht mit billigen Verströstungen und klugen Ratschlägen (das machen sie dann unglücklicherweise später), sie setzen sich zu ihm und schweigen. Es gibt gute Gründe für eine beratende Person zu schweigen. Manchmal ist Schweigen ein angemessenes Zeichen von Betroffenheit und Mitgefühl. Im Schweigen kann ich mit dem anderen mitschwingen, ihn ernst nehmen, das was ich höre, würdigen. Zu einer wichtigen Einsicht schweigen kann das Gewicht der Aussage bekräftigen und bestärken. Schweigen verhilft einer Aussage zu einem Nachhall, das dem Gesagten den nötigen Nachdruck verleiht. Und da tue ich gut daran, eine bedeutsame Einsicht meines Gegenübers nicht mit flachen Worten zu zerreden. Schweigen kann heilsam wirken, beruhigen, einen Moment vertiefen. Diese hellen Dimensionen des Schweigens gilt es vielleicht wieder zu entdecken und einzuüben.8
Und manchmal schweige ich auch, weil ich schlichtweg nicht weiss, was ich sagen kann oder sagen soll. In dem Moment brauche ich als Beratender manchmal eine hilfreiche Pause, um mir zu überlegen, was eine weiterführende Reaktion von meiner Seite sein könnte. Da ist schweigen allemal angemessener als mit irgendwelchen Floskeln meine Unsicherheit zu überspielen. Es gibt vielleicht auch so etwas wie eine "heilige Denkzeit des Beraters".
Ein weiterer Aspekt, den ich hier anfügen möchte, ohne ihn zu vertiefen, ist die Frage des Schutzes. Manchmal hat Schweigen auch eine wichtige Schutzfunktion. Ich muss nicht alles aussprechen, was ich denke oder weiss. Der Leitbegriff dazu ist "Verschwiegenheit".9 "Im Schweigen und Verschweigen kann eine respektvolle Distanz (wir nennen das dann 'Takt' oder 'Diskretion') ihren Ausdruck finden, die eine Schutzfunktion für alle Teilnehmerinnen einer Kommunikation erfüllt: für den Sender, die Empfänger und abwesende Dritte, von denen die Rede sein könnte."10

Schweigen als Gestaltungsmoment
Schweigemomente können Gespräche strukturieren. Pausen ordnen meinen Gedankengang und machen ihn anderen zugänglich. Schweigen kann die Spannung erhöhen, die Aufmerksamkeit fokussieren oder einer Aussage Nachdruck verleihen. Kleine Atempausen wirken wie die Interpunktion in der schriftlichen Sprache. Jemandem zu folgen, der ohne Punkt und Komma fortlaufend spricht, ist sehr anspruchsvoll bis nahezu unmöglich, sogar wenn er in meiner Muttersprache spricht. Schweigen ist nicht einfach nur eine Redepause, sondern ist ein wichtiges Gestaltungsmoment in der Konstruktion des gemeinsamen Gesprächsraums. Schweigen kann Einklang, Verbindung und Verständnis schaffen.

Schweigen kann auch ein Element von Enthaltsamkeit beinhalten, das gilt vor allem in den Momenten, in denen mein Gegenüber unpassende Strokes erwartet. Zur Professionalität eines Beraters gehört es, Einladungen zu ignorieren, die für skriptförderndes Verhaltung Strokes erheischen, und es braucht viel innere Bewusstheit, darauf nicht zu reagieren und wirklich nichts zu sagen.

Fragwürdiges Schweigen
Schweigen kann auch unangebracht und fragwürdig sein. Mit schweigen kann ich eine ethische Fehlhaltung decken. Schweigen kann auch als ein falsch verstandenes Zeichen von Zustimmung gelesen werden. Da macht es Sinn, das Schweigen mutig zu brechen und eine Sache in ihrer Schwere oder Gefährlichkeit beim Namen zu nennen. "Manchmal muss man die Katze 'Katze" nennen und nicht nur 'Busseli'" pflegte ein Kirchgemeinderatspräsident zu sagen, mit dem ich eine Zeit lang zu tun hatte.
"Silence like a cancer grows"11, manchmal wird Schweigen auch zu einer Last, die eine Beziehung krank macht wie ein Krebsgeschwür. Schweigen im Sinne von Verstummen kann viele Facetten haben, sei es wegen erlernter Hilflosigkeit oder sei es, weil ein frühes Sprechverbot einem Menschen verbietet seine Stimme zu erheben. Darüber hinaus gibt es noch weitere "dunkle Seiten des Schweigens".12

Schweigen kann auch Element eines Machtspiels sein, indem ich mit meinem Schweigen den anderen zwinge zu reden. Oder ich drücke damit subtil mein Desinteresse aus. Und Ich erachte es ebenfalls als wichtig, zu überprüfen ob der Grund meines Schweigens als Berater in einer Befangenheit liegt, oder ob das Thema, zu dem ich nichts sage, bei mir mit Scham behaftet ist. Beides wären Hinweise darauf, mir selbst in einer Supervision Hilfe zu holen.

Konstruktives Reden
Manchmal hat Schweigen seine Zeit und manchmal hat Reden seine Zeit. Ich habe auch schon in Beratungssituationen erlebt, dass ein treffendes Wort "alles" sagt, dass gelingendes Reden im rechten Moment in einer "verhockten" Situation neue Wege öffnet, ja manchmal so trifft, dass sich das Problem fast von selbst löst. Manchmal kommt es in einem professionellen Gespräch auch vor, dass es für mich als Berater an der Zeit ist, etwas in aller Klarheit zu benennen, was da "in der Luft liegt". Manchmal ist es richtig, recht-zeitig einen Sachverhalt beim Namen zu nennen. Ich erinnere mich an eine Teamsupervision, in der es wichtig war, genau zu benennen, was geschah, als ein Teammitglied versuchte, ein anderes emotional unter Druck zu setzen. Es war ein Durchbruch in der Teamkultur von dieser Team-Untugend reden zu lernen.

Reden ist das Mittel, um mich verständlich zu machen. Mit meinem Reden zeige ich mich und mache mich in meiner Haltung und in meinem Denken sichtbar und lesbar. Reden ist verbindlich. Wenn ich rede, wage ich Begegnung, an meinen Worten kann man mich behaften, meine Rede gibt mir ein Profil und ich werde meinem Gegenüber ein greifbarer Partner, mit dem er oder sie sich auseinandersetzen kann. Manchmal transportiere ich mit Reden auch einen neuen Inhalt, ich gebe Wissen und Erfahrung weiter, öffne neue Türen und zeige Pfade auf, die weiterführen. Meine Rede kann Teil eines Kontextes sein, der neue Erkenntnisse ermöglicht und damit auch neue Optionen sichtbar macht.13

In respektvoller Wechselrede, kann Neues gedacht werden, ja Neues geschaffen werden. Neue Begriffe und Sätze schaffen eine neue Wirklichkeit.

Entscheidend dabei ist es, dass dieses Reden immer ein Angebot bleibt, eine Möglichkeit, eine Einladung zum Dialog, in dem gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Isaacs schlägt dazu den Begriff des "Suspendierens" vor. Damit meint er: "Suspendieren bedeutet, die eigene Meinung weder zu unterdrücken noch stur dafür zu plädieren, sondern auf eine Weise vorzutragen, die es einem selbst und anderen ermöglicht, sie wahrzunehmen und zu begreifen."14 Suspendierende Sprechweise verlangt nach Pausen und übt sich im bescheidenen schweigen, damit wird "eine ungeheure Menge an kreativer Energie freigesetzt".15 Diese Art der Kommunikation erfordert, dass die redende Person sich darauf einlässt, "die Richtung zu wechseln, inne zu halten, einen Schritt zurückzutreten, und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten."16 Damit dies geschehen kann, braucht meine Rede immer wieder Schweigemomente.

Fragwürdiges Reden
Reden wird immer dann fragwürdig, wenn ihm der Dialogcharakter abhanden kommt. Wenn ich mit meinem Reden den Kommunikationsraum monopolisiere, wenn ich den gemeinsamen Begegnungsraum mit meinen Inhalten besetze. Fragwürdiges Reden ist Machtanspruch ohne Vereinbarung. Ich werde belehrt, unterrichtet, zurechtgewiesen, ohne dass ich etwas dazutun kann. Das kann dann auch zu einem - vor allem unter Männer beliebten - Hahnenkampf ausarten, bei dem es nicht mehr um die Inhalte geht, sondern darum, welcher Gockel lauter kräht und somit den Kommunikationsraum beanspruchen kann.

Eine andere Form fragwürdigen Redens ist das Geschwätz: "In seinem Zentrum steht die höchstpersönliche Bedeutung des Redners selbst, seines Wissens, seiner Energie, seiner wichtigen Erfahrungen und Überlegungen. ... Der geschwätzige Monolog kolonisiert den Kommunikationsraum und degradiert die Empfängerinnen zur leblosen Kulisse".17

Ebenso fragwürdig ist, was auch vorkommen kann, dass jemand redet, weil er das Schweigen nicht aushält. Damit werden Begegnungsmomente vermieden und heiklen Themen aus dem Weg gegangen. In der Transaktionanalyse kann solches Reden als Agitation verstanden werden, einer Form von passiven Verhaltens, die der Abwehr dient. So wird mit Reden zugedeckt, was Schweigen vielleicht ans Licht führen würde.

Ein jegliches zu seiner Zeit
Mit Reden und Schweigen gestalte ich meine Zeit, im Rückzug, mit Ritualen, im Zeitvertreib, bei Aktivitäten und in psychologischen Spielen. Mit Reden und Schweigen konstruiere ich mit meinem Gegenüber auch Momente der Intimität. Dabei geht es um die Ausgewogenheit. Ausgewogenheit nicht im Sinne eines statischen Mittelweges, sondern im Sinne eines dynamischen Ausbalancierens dessen, was in jedem einzelnen Moment angemessen ist. Bohm18 spricht davon, dass es in einem gelingenden Dialog darum geht, möglichst Vieles möglichst lange "in der Schwebe zu halten", damit dann, zur rechten Zeit, etwas Neues entstehen kann. In-der-Schwebe-halten hat meines Erachtens viel mit dem ausgewogenen Gleichgewicht von Reden und Schweigen zu tun. Es besteht auch eine gewisse Nähe zum oben beschriebenen suspendieren. Ein Gespräch gelingt, wenn Reden und Schweigen so aufeinander abgestimmt sind, dass der Kommunikationsraum zu einem Begegnungsraum wird, wo nicht um Macht oder Anerkennung gerungen wird, wo es nicht darum geht, Recht zu haben oder sich zu behaupten. Ein Begegnungsraum ermöglicht Dialog. Dialog ist kein Kampf, sondern "der Dialog bleibt offen und frei, ein leerer Raum. Das englische Wort leisure (Musse, freie Zeit) hat diese Bedeutung von einer Art leerem Raum. Das Gegenteil von leisure ist occupied (Raum einnehmend, belegt, besetzt sein), und hier ist der Raum gefüllt. Im Dialog haben wir also eine Art leeren Raum, wo alles mögliche hineinkommen kann."19
Und dieser leere (Zeit-)Raum kann in einem jeden Gespräch - ob professionell oder privat - gemeinsam gestaltet werden. So werden Begegnungen möglich und damit solche Begegnungen glücken können, gilt es mit Bewusstheit und Achtsamkeit auf ein förderliches Wechselspiel von Reden und Schweigen zu achten. Wer sich darin einübt, ein jegliches zu seiner Zeit zu tun, an dem wird die Zeit nicht einfach vorübergehen sondern er und sie werden sie formen und gestalten.
Fussnoten
1 Die Bibel: Prediger 3,1-9
2 Berne (1970) p 155
3 so wörtlich übersetzt. In Berne (1974) S. 110 wird diese Passage mit "nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen in der Zeit" widergegeben
4 Eine hilfreiche Zusammenstellung der verschiedenen Versionen der "Zeitgestaltung"bei Berne findet sich im Handwörterbuch von Schlegel (2022) S. 442ff
5 vgl. Liechti-Genge (2022) S. 237f
6 Meier / Szabo (2008), S. 44
7 Die Bibel: Hiob 2,13
8 Betz / Reichel (2021) S.39f
9 a.a.O. S. 91 ff
10 a.a.O. S.82
11 Paul Simon, "The sound of silence", 1965
12 Betz / Reichel (2021) S. 40ff
13 Mohr (2022)
14 Isaacs (2002) S. 123
15 a.a.O. S. 123
16 a.a.O. S.123
17 Betz / Reichel (2021) S. 82
18 Bohm (2017) S. 139ff
19 a.a.O. S. 50
Literaturverzeichnis
Berne, Eric (1967): Spiele der Erwachsenen. Reinbek b.H.: Rowohlt TB (Original englisch 1963)
Berne, Eric (1970): Sex in Human Loving. New York: Simon and Schuster (deutsch: Berne, Eric (1974): Spielarten und Spielregeln der Liebe. Reinbek b.H.: Rowohlt TB)
Betz, Fritz / Reichel, René (2021): Schweigen macht Sinn. Wien: facultas Universitätsverlag
Bohm, David (82017): Der Dialog - Das offene Gespräch am Ende der Diskussion. Stuttgart: J.G. Cotta'sche Buchhandlung (Original englisch 1996)
Isaacs, William (2002): Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Bergisch Gladbach: EHP-Verlag Andreas Kohlhage (Original englisch 1999)
Liechti-Genge, Franz (2022): Supervision, Kontingenz und die Neugier – ein Essay und daraus folgend ein paar praktische Ermutigungen; in: Brunner, Karola / Sell, Matthias (2022) Transaktionsanalytische Supervision in Theorie und Praxis. Paderborn: Junfermann Verlag
Meier, Daniel / Szabo, Peter (2008): Coaching- erfrischend einfach - Einführung ins lösungsorientierte Kurzzeitcoaching. Luzern: Solutionsurfers GmbH (book on demand)
Mohr, Günther (2022): Kontextuale Transaktionsanalyse; in: ZTA Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 39. Jg. | H. 4; Weinheim: Beltz Juventa
Schlegel, Leonhard (32022): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Sämtliche Begriffe der TA praxisnah erklärt. Zürich: DSGTA


Franz Liechti-Genge
Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor und Coach bso; Theologe;bis 2023 Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich: www.ebi-zuerich.ch

La Colombe - Haus für Bildung, Beratung und Begleitung
Rückzugsort im jurassischen Porrentruy (CH) für kürzere oder längere Auszeiten mit oder ohne Beratung/Begleitung

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franz@liechti-genge.ch



artikeljanuar2024

Wechselwirkungen in Organisationen

// Autor: Rolf Balling //
©Rolf Balling
1. Einleitung und Rahmung
Was wirkt wie in einer Organisation? Das fragen sich Manager, Mitarbeiter, Eigentümer, Betriebsräte, Gesetzgeber und Beraterinnen schon immer. Viele Wenn-dann-Regeln sind dazu in den letzten Jahrzehnten empfohlen worden. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, diese „wenn A, dann B“ Ratschläge durch die Analyse der Wechselwirkungen zwischen A und B zu erweitern. Denn nur im verweilenden Blick auf Wechselwirkungen zeigen sich prozesshafte Phänomene wie Verstärkung, Abschwächung, überraschende Nebenwirkungen, Kipppunkte, oder auch Verhakungen.

In der Transaktionsanalyse hat die Analyse von Wechselwirkungen eine bereits von Eric Berne im Transaktionskonzept begründete Tradition. Da geht die Person A mit dem EL-Ichzustand auf B zu und B erwidert mit dem K-Ichzustand. Bei beiden aktivieren sich alte Muster, die im Weiteren einen stabilen EL - K Transaktionsaustausch generieren. Der Anfangsanlass wird dann zunehmend unbedeutend. Man könnte die so entstehende Figur auch als Kommunikationsstrudel bezeichnen, weil sie im lebendigen Fluss von Kommunikation einem stabilen Wasser-Strudel gleicht.

Auch die von Berne beschriebenen Psychologischen Spiele zeichnen sich durch Stabilitätsphasen mit parallelen Transaktionen aus. Doch wenn dort die innere Spannung zu groß wird, folgt der Kipppunkt mit der Endauszahlung. Hier hat Eric Berne eine komplette Wechselwirkungs-Prozessanalyse durchgeführt. Dies ist deshalb möglich, weil die beteiligten Skriptmuster – die selbst immer etwas Mechanistisches haben – diese Wechselwirkung vorhersehbar machen. Kommunikations-Prozesse in voller, lebendiger Wechselwirkung bleiben kreativ und immer wieder überraschend. Man kann diese Prozesse allerdings rahmen und damit gestalten, auch darum geht es im weiteren Text.

Im Folgenden werde ich mich beispielhaft mit verschiedenen Wechselwirkungen in Organisationen beschäftigen. Mein Anspruch dabei ist nicht Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, sondern zum Wechselwirkungsblick zu ermutigen. Denn mit diesem Blick zeigt sich vieles zwar in fordernder Komplexität, aber wenn man in dieser Perspektive bleibt, wird vieles klarer. Man bleibt dann nicht in einer Beschreibung des „Ping – Pong“ zwischen A und B stecken, sondern kann eine weite Metaperspektive einnehmen, die übergeordnete Zusammenhänge erkennbar macht.



2. Das Doppel-Spagat-Modell als Strukturierung des Geschehens in Organisationen
Um das Denken in Wechselwirkungen beispielhaft zu zeigen, gehe ich von meinem Doppelspagat-Modell aus, das einen großen Teil der Betrachtungslandschaft „Organisation“ einschließt. Beim Doppelspagat wird zwischen Person und Organisation unterschieden, und bei diesen jeweils zwischen Denk-/Fühl-Mustern und Basis-Fakten. So entstehen zwei „Spagate“, die sich gegenüberstehen und die spezielle Wechselwirkungsfelder entstehen lassen. Mein Modell stellt bereits eine Reduktion dar, denn es fokussiert nicht auf die Wechselwirkungen mit Organisations-Zielen und Strategien, und auch nicht auf Wechselwirkungen mit Märkten, Technologien oder gesellschaftlichen Entwicklungen.
Unter „Persönlichkeit“ verstehe ich: Unsere gewohnten Muster im Denken/Fühlen/Verhalten, etwa beim Lösen von Problemen, oder bei der Gestaltung von Beziehungen; generell unseren persönlichen „Frame of Reference“.

Unter „Organisationskultur“ verstehe ich: Gewohnte Muster beim Lösen von Problemen, beim Bewerten von Leistung, beim Umgang mit Konflikten, oder beim Stil wie kooperiert und konkurriert wird. Weiterhin das Verständnis von Führung, Standard-Strategien zur Krisenbewältigung und der Umgang mit Lieferanten, Konkurrenten und Gesetzen.
Unter „personalen Fakten“ verstehe ich: Alter, Geschlecht, körperliche Merkmale, Nationalität, Ausbildungen, Zertifikate, biografische Daten, usw.

Unter „Organisationsstruktur“ verstehe ich: Rechtsform, Aufbau-Organisation, vorgegebene Prozesse, Definitionen von Funktions-Rollen, Betriebsvereinbarungen, Eigentümerstruktur, Beteiligungen.
©Rolf Balling Professionalisierung

3. Beispiele zu den Wechselwirkungsfeldern, die zwischen den Positionen im Doppel-Spagat-Modell entstehen


3a. Zwischen Persönlichkeit und Organisationskultur
Häufig werden in Organisationen bei der Besetzung wichtiger Funktionen Personen ausgewählt, die für eine Aufgabe die richtige Kompetenz mitbringen, die aber vorher in ganz anderen Kontexten gearbeitet haben. Werden die Neuen anwachsen? Werden diese die vorhandene Organisations-Kultur beschädigen? Hier sind Prognosen riskant, denn im lebendigen Wechselwirkungsprozess des Onboardings können kleine Aktionen große Richtungsänderungen hervorrufen, die später kaum noch zu korrigieren sind.

In einer Bank, die stolz auf ihre faktenbasierte Entscheidungskultur war, wurde ein für seine gute Intuition bekannter Bondsmanager eingestellt, denn man wollte diese Fähigkeit gerne in Entscheidungsprozessen dabeihaben. Der Bondsmanager nervte dann seine Kollegen mit „Bauchgefühlen“ und entwickelte selbst Frust wegen „wenig Vertrauen“ und „kognitiver Agitation“. Kurz vor einem Abbruch in der Probezeit, lernte der Bondsmanager – mit Unterstützung eines Coaches - zumindest vage Begründungen für seine intuitiven Einschätzungen zu kommunizieren, und die Fakten-Fans lernten die Intuitionen des Neuen als bedenkenswert ernst zu nehmen. Auf dieser Basis – nach anstrengender Wechselwirkung – gelang tatsächlich eine erste Integration der neuen Kompetenz.

3b. Zwischen personalen Fakten und Organisationskultur
Ich erinnere mich an eine Gruppe hervorragender Ingenieure, die aus ihrem Selbstverständnis heraus Forderungen zur Terminverpflichtung als übergriffige Anmaßung ansahen. Nach dem Eintritt von massiven Lieferverzögerungen wurde ihnen ein Projektmanager zur Seite gestellt. Meine Aufgabe als dessen Coach bestand in den ersten Wochen eher darin, den Projektmanager zur Geduld mit der Situation zu ermutigen, da er subtil abgeblockt wurde. Erst, als eine – auch für den Bestand des Teams – bedrohliche Vertragsstrafe drohte, öffnete sich ein Fenster für dessen Kompetenz. Am Ende, nach eingehaltenem Abgabetermin, in einem Prozess wechselseitiger Auseinandersetzung, verstand der Projektmanager mehr von den Unwägbarkeiten in Entwicklungsprozessen und die Ingenieure akzeptierten die Planungslogik des Managements. Das Team ließ sich dann - ohne Begeisterung aber gutwillig – in ein Projektmanagement eingliedern. (Hier kann man diskutieren, wieweit das Faktum „Entwicklungsingenieur“ mit den beschriebenen Persönlichkeitsmerkmalen korreliert.)

3c. Zwischen Organisationskultur und Organisationsstruktur
In einem Konzern legte man großen Wert auf Planungs-Sicherheit und auf das Vermeiden von Investitionsrisiken. Der Vorstandsvorsitzende proklamierte: „I want this company to be organized, that even Mikey Mouse could run it”. Das Planungs-/Entscheidungssystem galt in der Branche als beispielhaft. Auch in der Firmen-Kultur war dieses System weitgehend akzeptiert. Allerdings entwickelte sich im Entwicklungsbereich eine Subkultur, in der spannende Entwicklungs-Projekte an der Planung vorbei als „U-Boote“ durchgeführt wurden. Dies aus der Angst, dass die Controller diese Entwicklungs-Ideen nicht genehmigen würden. War ein solches U-Boot allerdings erfolgreich, konnte es auftauchen, und den Entwicklern wurde verziehen. Bei Erfolglosigkeit wurden die Kosten heimlich – durch mitspielende Controller - auf genehmigte Projekte verschoben. Hier versuchte eine Organisations-Controllingstruktur die Organisations-Kultur der Entwicklung zu bestimmen, was offensichtlich nicht wirklich gelang. Es dauerte allerdings einige Jahre mit intensiver Wechselwirkung zwischen Kultur- und Struktur-Vertretern, bis ein neues Planungssystem verabschiedet wurde, das ausdrücklich 10% vom Budget für riskante Entwicklungs-Projekte vorsah.

In einer gemeinnützigen GmbH wurde ein Controllingsystem eingeführt, das dann die schlechte Performance eines Geschäftsbereiches offensichtlich machte. Diese Situation zu diskutieren oder durch Personal-Austausch zu ändern, war zunächst nicht möglich, weil die Organisations-Kultur dies als „unsozial“ bewertet hätte. Erst nach einer Wechselwirkungsphase, in der die Organisations-Kultur lernte, Gewinnerzielung als legitimen Wert zu sehen, und auf der anderen Seite das Controlling lernte, Margenvorgaben nach Marktsituationen zu differenzierten, konnte damit ein neues Level von Effizienz und Zukunftsfähigkeit erreicht werden.

Predigt ein Vorstand die Wichtigkeit von Kooperation und zahlt aber Boni nur für individuelle Zielerreichung, dann lädt das die Mitarbeiter dazu ein, ein Jahr im Voraus sicher erreichbare personale Ziele zu verhandeln, die dann – ohne das Risiko hoher Kooperationsabhängigkeit - abgeliefert werden können. Wie man trotzdem ein „Kooperationsimage“ aufbaut, lernen Manager schnell, wodurch wiederum ein Erfolg der Vorstandspredigt vorgespielt wird. Auch das Initiieren von risikoreichen Projekten wird sich ein Mitarbeiter unter diesen Bedingungen genau überlegen, wenn am Ende nur das Projekt-Gelingen bonusrelevant wird, und nicht der bei einem Scheitern erzielte Lerngewinn. Eine solche – dysfunktionale – Rahmung der Wechselwirkung zwischen
Leistung und Entlohnung kann den Erfolg einer Organisation beträchtlich schmälern.

Wechselwirkung in Aktion lässt sich ebenfalls gut bei Teams beobachten, die mit agilen Methoden arbeiten, und denen dabei flexible Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Mit der Erlaubnis, ihren Raum mit Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln je nach Bedarf zu strukturieren, spürt das Team schnell, wie eine konkrete Ausprobier-Konstellation auf sie wirkt. Es entwickelt dann die Kompetenz, je nach persönlichen Vorlieben und einer momentanen Projektsituation, mit den Strukturen zu experimentieren und in Wechselwirkung stimmige Arbeits-Landschaften einzurichten.

4. Organisationsstrukturen als Rahmung und Initiierung von Wechselwirkungsprozessen
Ein Verein tickt anders als eine AG, und ein freies Forschungsinstitut - als GmbH aufgestellt - folgt anderen inneren Leitlinien als eine konzerneigene Forschungsabteilung. Denn in der AG geht es um Planerfüllung und um das interne Image, in einer GmbH auf freiem Markt geht es vordringlich um Projekt-Akquisition und Kosteneffizienz.

Man kann das Organigramm einer Organisation auch als „intuitive Aufstellung“ dazu sehen, welche Themen aktuell Aufmerksamkeit haben und deshalb in eigenen, hochrangigem „Organisations-Kästchen“ platziert werden.

Nun kommen viele Berater*innen in Organisationen - von ihrer Ausbildung her - aus der Beratung von Personen. Die Berater sind es deshalb gewohnt, mit der Persönlichkeit eines Klienten zu arbeiten, und dessen personalen Basisfakten als gegeben anzusehen. Diese Aufmerksamkeits- und Denkgewohnheit führt häufig dazu, dass die Strukturen einer Organisation ebenfalls als gegeben -und für eine Interventionsstrategie als nicht verfügbar - eingeschätzt werden. Für die Mächtigen sind allerdings Änderungen in den Organisations-Strukturen meist durchaus möglich, man muss die Entscheider nur von dem Nutzen einer Struktur-Änderung überzeugen.

Hierzu ein Beispiel wie ein solcher Prozess (hier eher unbewusst gestaltet) ablaufen kann:
Vor einiger Zeit wurde im industriellen Kontext die Idee, dass die Qualität von Produkten bereits im Fertigungsprozess mehr Beachtung finden sollte, forciert. Es entstanden dann in vielen Organisationen Qualitätsabteilungen auf hohem hierarchischem Niveau, die - mehr oder weniger geschickt - begannen in die Fertigung hineinzuwirken. Tatsächlich scheiterten solche Change-Ideen häufig im Machtkampf gegen die bereits etablierten Funktionen. Wenn es allerdings gelang, eine echte Auseinandersetzung – also Wechselwirkung - einzuleiten, in der die Qualitäts-Promotoren mit den Fertigungs-Spezialisten um weitgehendere Qualitäts-Sicherungen rangen, wirkte die hohe hierarchische Positionierung des Q.-Anliegens als Rückenwind. Als das neue „Qualitätsbewusstsein“ in der Fertigung nach einigen Jahren gut integriert war, konnte man die zunächst gleichrangigen Qualitätsabteilungen wieder auflösen, oder als beratende – nicht entscheidende - Kompetenzzentren weiterführen.



5. Systemische Sichtweisen und Wechselwirkungen in einer Organisation
Der Systemische Beratungsansatz hat in der Beratung von Organisationen weite Verbreitung gefunden. Er ist mit dem Wertesystem der Transaktionsanalyse vereinbar und methodisch effektiv kombinierbar. Hier einige Beispiele systemischen Denkens:

Da man komplexe Systeme nicht wie eine mechanisch determinierte Maschine exakt verstehen kann (und soziale Systeme sind immer komplex), und da sich komplexe Systeme auch aus sich selbst heraus – in intransparenten internen Wechselwirkungen - verändern (emergieren), macht eine aufwändige (mechanistische) Diagnose wenig Sinn. Man arbeitet hier besser mit vorläufigen (intuitiven) Hypothesen, die dann in diagnostischer Wechselwirkung überprüft und aktualisiert werden.
Eine – für einen Beratungserfolg wichtige - Wechselwirkung entsteht zwischen Berater- und Klientensystem. Die Berater erfahren niemals die Klienten „an sich“ da sie diese nur in Wechselwirkung mit sich - dem Beratersystem - erleben. Dieses Faktum muss adäquat bei Diagnosen und Interventionen berücksichtigt werden. Klient- und Beratersystem bilden zusammen ein neues Beratungssystem. Zu diesem Thema benutzt die TA – der Psychoanalyse folgend – unter anderem das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung.
Beim Anspruch an einen Vorstand, die Gesamtorganisation zu steuern, ist zu bedenken, dass dies nur soweit möglich ist, als sich die Wechselwirkungen innerhalb der Organisation – in einem Parallelprozess – im Vorstand spiegeln. Diese Erkenntnis zeigt, welche hohe Integrierungs-Kompetenz im Vorstand erforderlich ist, um effektiv arbeiten zu können. Oder auch, welcher Schaden möglich wird, wenn Vorstand und Rest-Organisation sich durch Gräben trennen und die lebendige Wechselwirkung zwischen ihnen verkümmert.
Das Prozessdesign für Veränderungsprojekte in einer Organisation ist mehr als eine Hülle für Einzelinterventionen (Workshops, Großgruppen, Arbeitsgruppen, Coachings, Reflexion). Wenn sich im Prozessdesign (Struktur) – und im Prozessstil (Kultur) das angestrebte Ergebnis bereits spiegelt, werden sich die Einzelmaßnahmen gegenseitig verstärken. Erscheint der Prozess insgesamt allerdings als widersprüchlich, schwächt dies die Effektivität des Change-Projektes. Dazu ein Beispiel: Die Neustrukturierung in einem Geschäftsbereich will eine Firma mit einem Change-Prozess begleiten, in dem nicht nur die neuen Schnittstellen gelernt werden, sondern gleichzeitig die Wechselwirkung zwischen den Hierarchieebenen verbessert werden soll. Um dies zu erreichen, wird man in allen Workshops die Vertreter der verschiedenen Hierarchieebenen in eine übende Wechselwirkung bringen. Im Stil wird man auf Transparenz und respektvolle Kommunikation achten. Mit allen Beteiligten wird man dann regelmäßig die im Prozess gemachten Erfahrungen diskutieren, und Leitlinien für die gewünschte Organisations-Kultur besprechen.



6. Wechselwirkungen in Dilemmata
Ein Problem ist lösbar, ein Dilemma nicht. In Organisationen gibt es vermutlich mehr Dilemmata als Probleme. Probleme – gelöst – sind erledigt. Bei Dilemmata findet man vielleicht eine situativ angemessene Balancierung, aber das prinzipielle Dilemma bleibt bestehen.

Typische Dilemmata in Organisationen sind:

Was ist uns wichtiger, eine große Führungsspanne und damit eine flache Hierarchie, oder eine kleine Führungsspanne, in der engere Führungsbeziehungen möglich werden?
Investieren wir den Jahresgewinn in Zukunftsprojekte, oder halten wir uns durch gute Ausschüttungen einen stabilen Aktionärsstamm?
Maximieren wir den Fabrik-Ausstoß und bedienen damit die derzeitig gute Nachfrage, oder bleiben wir kompromisslos bei unseren hohen Qualitätsstandards, auch wenn wir damit potentielle Käufer verprellen?
Erwarten wir bei neuen Produkten eine positive Rentabilität innerhalb von zwei Jahren, oder ertragen wir auch fünf Verlustjahre in der Hoffnung, dass der Markt dieses Produkt doch noch - wie erhofft -akzeptiert?


Ein effektiver Umgang mit solchen Dilemmata erfordert lebendige Wechselwirkungsprozesse, da hier eine triviale Verfolgung von harten Prinzipien allenfalls suboptimale Ergebnisse erzeugt. Doch hier zeichnet sich allerdings das nächste Dilemma ab, da Wechselwirkungsprozesse aufwendig und zeitintensiv sein können. Letztendlich muss man auch bei deren Gestaltung einen situativ angemessenen Weg zwischen Kosten und Ertrag finden.

Bei der Gestaltung eines Wechselwirkungsprozess in Dilemmata sind folgende Leitfragen wichtig:

Welche Personen können die hier relevanten Aspekte kompetent vertreten?
Bekommt dieser Kreis einen klaren Auftrag mit Entscheidungsfreiheit für eine konkrete Situation?
Sind diese Personen in der Lage mit Widersprüchlichkeiten reif umzugehen und - kreativ - zur Situation vertretbare Entscheidungen zu treffen?
Können diese Personen sich innerlich einem kreativen Wechselwirkungsfeld überlassen und gleichzeitig den von ihnen vertretenen Aspekt engagiert vertreten?

Mit diesen Kriterien wird deutlich, dass sich an Prinzipien fest gebundene und in Machtpositionen denkende Personen in solchen Prozessen schwer tun werden.

Eine reife Organisationskultur, die es den Beteiligten erleichtert, engagiert und gleichzeitig pragmatisch Konflikte auszutragen, ohne sich dabei gegenseitig auf personaler Ebene abzuwerten, wird wesentlich zum Gelingen von Wechselwirkungsprozesse beitragen.

In vielen Organisationen werden solche Dilemmata von unteren Hierarchieebenen bis zum Vorstand nach oben durchgereicht, der dann situative Lösungen finden muss. Eine agile Organisationskultur erkennt man auch daran, wie dilemmakompetent bereits auf Teamleiter und Spezielistenebene pragmatische Entscheidungen getroffen werden.



7. Zur Gestaltung von Wechselwirkungsprozessen
Zunächst müssen Strukturen geschaffen werden, die effektive Wechselwirkungen rahmen und fördern können.
Gleich wichtig ist die innere Haltung der Beteiligten. Abgesehen vom legitimen Interesse, in der Kommunikation Wirkung zu erzielen, bedarf es der inneren Zustimmung zum Beeinflusst-Werden. Das geht über Schlauer-Werden hinaus, denn das kann die Veränderung der eigenen Position und des eigenen Wertesystems bedeuten.
In schwierigen, konfliktären Situationen ist eine kompetente Moderation hilfreich. Speziell mit einem guten Gespür dafür, ob ein Wechselwirkungsprozess noch im lebendigen Pfad fortschreitet - der auch mal um den roten Faden herum mäandern kann - oder ob es so weit ist, ein Verzetteln abzubrechen.
Sich einem lebendigen Wechselwirkungsprozess anzuvertrauen, braucht Vertrauen. Vertrauen wird durch Transparenz bei Informationen, und Endscheidungs-Prozessen gefördert. Wenn dieses Ideal einmal nicht eingehalten wurde, muss das noch keinen Absturz bedeuten. Denn wird ein Missgeschick eingestanden – und folgt eine eventuell angemessene Entschuldigung – wirkt das meist vertrauensbildender als ein insgesamt steril-glatter Kommunikationsstil.



8. Schlussbetrachtung
Wechselwirkungen finden statt, immer und überall. Auch wenn wir unsere Biografie betrachten, sehen wir dort vielfältige Wechselwirkungen, in denen wir uns entwickelt und erprobt haben. Wechselwirkung kann man als lebendiges Geschehen sehen, das nicht in trivialem Ursache-Wirkungsdenken adäquat beschrieben werden kann. Unser personales Skript reduziert zwar Komplexität, aber meist mit dem Preis von Lebendigkeit.

Organisationen brauchen in spezieller Weise eine klare strukturelle Verknüpfung ihrer Strukturen, denn eine zuverlässige Leistungserstellung ist nur mit stabilen Prozessen möglich. Allerdings hängt der nachhaltige Erfolg einer Organisation genauso davon ab, wie lebendige Wechselwirkungen zwischen den relevanten Funktionen organisiert und gelebt werden. Sich ständig diesen Wechselwirkungen engagiert und kompetent zu stellen, ist eine zentrale Aufgabe der beteiligten Personen und der Organisations-Kultur. Da eine Organisation auch in immerwährender Wechselwirkung mit ihren - sich verändernden - Umwelten steht, kommt ihrer Wechselwirkungskompetenz eine entscheidende Bedeutung zu, um zukunftsfähig zu bleiben.

Weitere Aufsätze vom Autor sind zum Download auf seiner Homepage unter www.balling-professionalisierung.de verfügbar
Literaturverzeichnis
Diagnose von Organisationskulturen, Rolf Balling, Zeitschrift für Transaktions­analyse, Jahrgang 22, Heft 4, Junfermann-Verlag, 2005, (auf der Homepage der DGTA verfügbar)
Das DGTA-Anwendungsfeld Organisation, Rolf Balling in: Transaktionsanalyse, Gudrun Jecht/Georg Pelz, Belz-Verlag, 2022

Rolf Balling
Rolf Balling ist Diplom-Kaufmann und Lehrender Transaktionsanalytiker (TSTA-O). Er arbeitet freiberuflich als Supervisor für Führungskräfte, Unternehmensberatungen und Management-Coaches. Erfahrungen sammelte er als Leiter des Managementtrainings und der Organisationsentwicklung in einem Konzern, und als Geschäftsführer/Lehrtrainer einer Akademie für Berater:innen in und von Organisationen. Für die Transaktionsanalyse engagierte er sich in der Theorieentwicklung, als Beirat der TA-Zeitschrift und als Vereins-Vorstand. Er ist Autor vieler Artikel in Fachzeitschriften und Büchern.

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