artikeldezember2023
Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit
// Autor: Franz Liechti-Genge //
© Franz Liechti-Genge
"Es ist Zeit" lautete der Titel des Kongress 2023 der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse in Lindau (D). Dieser vorliegende Text basiert auf einem Workshop, den ich dort gehalten habe. Ziel des Workshops war es, einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Schweigen und Reden auf die Spur zukommen. Es geht hier also nicht um eine systematisch umfassende Abhandlung über das Schweigen und Reden sondern um eine Sammlung von Gedanken und Anregungen, wie insbesondere auch dem Schweigen als wirksame Intervention die nötige Bedeutung beigemessen werden kann. Es geht mir darum, dem "sound of silence" und dem "sound of speaking" nachzuspüren. Wie tönt schweigen? wie tönt reden? Wie fühlt sich das eine und das andere an? Und wie setze ich die beiden Elemente in einem Gespräch bewusst ein?
Der Titel dieses Workshops und auch dieses Textes leitet sich vom biblischen Buch Prediger ab. Unter dem Leitwort "Alles hat seine Zeit"1 werden da ganz verschiedene und sogar gegensätzliche Handlungen beschrieben, wie Menschen ihre Zeit verbringen können. Ein Wortpaar dieser umfassenden und eindrücklichen Liste lautet "Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit".
Zeitgestaltung
Wahrscheinlich hat Eric Berne als Jude diesen bekannten Text aus dem Ersten Testament gekannt und es würde mich nicht wundern, wenn er ihn im Hinterkopf gehabt hätte, als er folgende Sätze formulierte: "For the truth of the matter is not that time is passing, but that we are passing through time. It is not what they said in olden days, a river on whose banks we stand and watch, but a sea we have to cross."2 Für Eric Berne ist Zeit nicht etwas, das wie ein Fluss an uns vorbeizieht, sondern ein Meer, das es zu überqueren gilt. Die Zeit vergeht nicht, sondern wir gehen durch die Zeit.3 Er versteht Zeit als einen Raum, den es zu durchqueren gilt, noch präziser, zu gestalten gilt. Wie im Buch Prediger wird Zeit mit Handlungen konstituiert. In anderem Zusammenhang spricht er sogar von einem psychologischen Grundbedürfnis (Hunger nach Struktur) des Menschen, diesen Zeitraum zu gestalten. Berne unterscheidet dabei sechs menschliche Umgangsformen, wie die Zeit gestaltet werden kann: Rückzug, Rituale, Zeitvertreib, Aktivität, Psychologische Spiele und Intimität.4
Zeit im Sinne von Lebenszeit kann nicht nur qualitativ verschieden gestaltet werden, sondern auch mit verschiedenen Tätigkeiten "gefüllt" werden. Reden und Schweigen sind beides mögliche Tätigkeiten mit denen ich im Sinne Berne's "durch die Zeit gehen kann" kann. Schweigend kann ich mich zurückziehen, und, so absurd sich das lesen mag, ich kann mich auch redend zurückziehen, indem ich einfach rede, ohne mit den anderen Menschen in Kontakt zu sein. Schweigen und Reden sind wichtige Bestandteile eines Rituals. Die Regelung wer, wann, was sagt oder eben schweigt und wie die gemeinsame Zeit gestaltet wird, machen den Kern eines Rituals aus. Dass Zeitvertreib aus einem wohlausgewogenen Wechsel von Reden und Schweigen besteht, den niemanden vor den Kopf stösst, versteht sich fast von selbst. Ebenso, dass Reden und Schweigen wichtige Elemente von Aktivität sind. In diesem Falle dienen beide Möglichkeiten die Zeit zu "füllen" dem gemeinsamen Ziel. Vom Zeitpunkt her gesehen unpassendes Reden und/oder unpassendes Schweigen können beide Auslöser für psychologische Spiele sein. Reden oder Schweigen im falschen Moment sind Einladungen, die dazu führen, dass sich meine Vorstellungen von mir selbst, den anderen und der Welt bestätigen. Gemeinsam vertraut schweigen kann ein Ausdruck von tiefer Verbundenheit und Intimität sein, ja kann sogar etwas Beglückendes haben. Genau so wie ein gutes Wort zur guten Zeit berühren und Beziehung entstehen lassen kann.
Kommunikationsraum und Macht
Wenn zwei Personen miteinander in Kontakt kommen, entsteht ein gemeinsamer Begegnungsraum, für den beide Gesprächsteilnehmende Verantwortung tragen, wie sie ihn gestalten wollen. Eine Begegnung ist in diesem Sinn ein sich gemeinsam in diesem Kommunikationsraum aufhalten. Wenn zwei Personen sich in einem Raum befinden, dann kommt es zu Raumansprüchen. Und Raumansprüche sind auch Machtansprüche. Wird der gemeinsame Raum mit Reden und Schweigen gefüllt, so können Reden und Schweigen als Machtfaktoren einer Begegnung angesehen werden, die es sorgsam zu handhaben gilt.
Auf den ersten Blick gilt: Wer redet, nimmt Raum ein, beansprucht Raum und wer schweigt, gibt Raum. Es gibt eine Macht des Redens: wer redet, fokussiert die Aufmerksamkeit auf sich, bestimmt die Inhalte, den Rhythmus und den Ton eines Gesprächs. Und zugleich gibt es auch eine Macht des Schweigens: wer schweigt, zwingt den anderen zum Reden, entzieht sich dem anderen, macht sich unangreifbar und unbegreiflich, auch das ist ein Form Macht auszuüben.
Umso wichtiger erscheint es mir den bewussten und konstruktiven Umgang mit Reden und Schweigen einzuüben und zu vertiefen.
Schweigen als "Raum geben"
Ich erinnere mich an ein Coaching, das ich in französischer Sprache durchgeführt habe. Aus meinem Gegenüber sprudelten die Worte nur so hervor und das erst noch auf französisch, ich verstand nur die Hälfte und bin das eine oder andere Mal stumm geblieben, weil ich gar nicht recht wusste, was ich mit meinem Halbverstehen anfangen sollte. Am Schluss des Gesprächs war die Klientin äusserst zufrieden und dankte mir für mein wertvolles Schweigen, das ihr half, ihre Gedanken zu ordnen.
Aus dieser (unfreiwilligen) Erfahrung habe ich gelernt, wie hilfreich und weiterführend in einem Gespräch das Schweigen sein kann. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, so habe ich den Raum offen gelassen, dass mein Gegenüber Gelegenheit bekam, nachzudenken und Lösungen zu kreieren. Dank meinem sprachlichen Unvermögen, habe ich sie nicht beim inneren Arbeiten gestört. Daraus habe ich gelernt wie Schweigen Raum schafft, dass Lösungen gefunden und Wege entwickelt werden können. Im Schweigen nimmt sich die beratende Person zurück, hört zu, beansprucht möglichst wenig eigenen Raum. Wenn ich nach einer Frage schweige, lasse ich sie wirken, gebe Zeit, dass eine Antwort überlegt werden kann. Vorzeitiges Reden beraubt einer guten Intervention ihrer Wirkkraft. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, wenn mein Schweigen nicht aus sprachlichem Unvermögen entsteht, sondern aus dem Vertrauen, das ich in meine Intervention setze.5 In meinen TA-Ausbildungsgruppen beobachte ich immer wieder, wie in den Live-Beratungssequenzen die Auszubildenden hilfreiche Interventionen machen oder öffnende Fragen formulieren und dann, wenn das Gegenüber darüber nachzudenken beginnt, und vielleicht einen Moment innehält, sie das kaum aushalten und gleich mit einer weiteren Frage nachdoppeln oder ein neues Thema anbieten. Sie stören oder unterbrechen mit ihrer verfrühten Intervention die Denkarbeit der zu beratenden Person. Schweigen im Sinne von Pause verhilft meinem Gegenüber zu denken. "Pausen sind der beste Teil vom Coaching. Sie werden für's Nichtstun bezahlt. Und dabei sind Sie jedem Rappen Ihres Honorars wert, weil dieses Nichtstun dem Coachee viel wertvolle Reflexionszeit gibt. Pausen verstehen wir als die 'heilige Denkzeit der Kunden'"6
Angemessenes Schweigen
"Und sie setzten sich zu ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte, und keiner sagte ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr gross war."7 So reagieren die Freunde des von Unglück gebeutelten Hiob. Sie kommen ihm nicht mit billigen Verströstungen und klugen Ratschlägen (das machen sie dann unglücklicherweise später), sie setzen sich zu ihm und schweigen. Es gibt gute Gründe für eine beratende Person zu schweigen. Manchmal ist Schweigen ein angemessenes Zeichen von Betroffenheit und Mitgefühl. Im Schweigen kann ich mit dem anderen mitschwingen, ihn ernst nehmen, das was ich höre, würdigen. Zu einer wichtigen Einsicht schweigen kann das Gewicht der Aussage bekräftigen und bestärken. Schweigen verhilft einer Aussage zu einem Nachhall, das dem Gesagten den nötigen Nachdruck verleiht. Und da tue ich gut daran, eine bedeutsame Einsicht meines Gegenübers nicht mit flachen Worten zu zerreden. Schweigen kann heilsam wirken, beruhigen, einen Moment vertiefen. Diese hellen Dimensionen des Schweigens gilt es vielleicht wieder zu entdecken und einzuüben.8
Und manchmal schweige ich auch, weil ich schlichtweg nicht weiss, was ich sagen kann oder sagen soll. In dem Moment brauche ich als Beratender manchmal eine hilfreiche Pause, um mir zu überlegen, was eine weiterführende Reaktion von meiner Seite sein könnte. Da ist schweigen allemal angemessener als mit irgendwelchen Floskeln meine Unsicherheit zu überspielen. Es gibt vielleicht auch so etwas wie eine "heilige Denkzeit des Beraters".
Ein weiterer Aspekt, den ich hier anfügen möchte, ohne ihn zu vertiefen, ist die Frage des Schutzes. Manchmal hat Schweigen auch eine wichtige Schutzfunktion. Ich muss nicht alles aussprechen, was ich denke oder weiss. Der Leitbegriff dazu ist "Verschwiegenheit".9 "Im Schweigen und Verschweigen kann eine respektvolle Distanz (wir nennen das dann 'Takt' oder 'Diskretion') ihren Ausdruck finden, die eine Schutzfunktion für alle Teilnehmerinnen einer Kommunikation erfüllt: für den Sender, die Empfänger und abwesende Dritte, von denen die Rede sein könnte."10
Schweigen als Gestaltungsmoment
Schweigemomente können Gespräche strukturieren. Pausen ordnen meinen Gedankengang und machen ihn anderen zugänglich. Schweigen kann die Spannung erhöhen, die Aufmerksamkeit fokussieren oder einer Aussage Nachdruck verleihen. Kleine Atempausen wirken wie die Interpunktion in der schriftlichen Sprache. Jemandem zu folgen, der ohne Punkt und Komma fortlaufend spricht, ist sehr anspruchsvoll bis nahezu unmöglich, sogar wenn er in meiner Muttersprache spricht. Schweigen ist nicht einfach nur eine Redepause, sondern ist ein wichtiges Gestaltungsmoment in der Konstruktion des gemeinsamen Gesprächsraums. Schweigen kann Einklang, Verbindung und Verständnis schaffen.
Schweigen kann auch ein Element von Enthaltsamkeit beinhalten, das gilt vor allem in den Momenten, in denen mein Gegenüber unpassende Strokes erwartet. Zur Professionalität eines Beraters gehört es, Einladungen zu ignorieren, die für skriptförderndes Verhaltung Strokes erheischen, und es braucht viel innere Bewusstheit, darauf nicht zu reagieren und wirklich nichts zu sagen.
Fragwürdiges Schweigen
Schweigen kann auch unangebracht und fragwürdig sein. Mit schweigen kann ich eine ethische Fehlhaltung decken. Schweigen kann auch als ein falsch verstandenes Zeichen von Zustimmung gelesen werden. Da macht es Sinn, das Schweigen mutig zu brechen und eine Sache in ihrer Schwere oder Gefährlichkeit beim Namen zu nennen. "Manchmal muss man die Katze 'Katze" nennen und nicht nur 'Busseli'" pflegte ein Kirchgemeinderatspräsident zu sagen, mit dem ich eine Zeit lang zu tun hatte.
"Silence like a cancer grows"11, manchmal wird Schweigen auch zu einer Last, die eine Beziehung krank macht wie ein Krebsgeschwür. Schweigen im Sinne von Verstummen kann viele Facetten haben, sei es wegen erlernter Hilflosigkeit oder sei es, weil ein frühes Sprechverbot einem Menschen verbietet seine Stimme zu erheben. Darüber hinaus gibt es noch weitere "dunkle Seiten des Schweigens".12
Schweigen kann auch Element eines Machtspiels sein, indem ich mit meinem Schweigen den anderen zwinge zu reden. Oder ich drücke damit subtil mein Desinteresse aus. Und Ich erachte es ebenfalls als wichtig, zu überprüfen ob der Grund meines Schweigens als Berater in einer Befangenheit liegt, oder ob das Thema, zu dem ich nichts sage, bei mir mit Scham behaftet ist. Beides wären Hinweise darauf, mir selbst in einer Supervision Hilfe zu holen.
Konstruktives Reden
Manchmal hat Schweigen seine Zeit und manchmal hat Reden seine Zeit. Ich habe auch schon in Beratungssituationen erlebt, dass ein treffendes Wort "alles" sagt, dass gelingendes Reden im rechten Moment in einer "verhockten" Situation neue Wege öffnet, ja manchmal so trifft, dass sich das Problem fast von selbst löst. Manchmal kommt es in einem professionellen Gespräch auch vor, dass es für mich als Berater an der Zeit ist, etwas in aller Klarheit zu benennen, was da "in der Luft liegt". Manchmal ist es richtig, recht-zeitig einen Sachverhalt beim Namen zu nennen. Ich erinnere mich an eine Teamsupervision, in der es wichtig war, genau zu benennen, was geschah, als ein Teammitglied versuchte, ein anderes emotional unter Druck zu setzen. Es war ein Durchbruch in der Teamkultur von dieser Team-Untugend reden zu lernen.
Reden ist das Mittel, um mich verständlich zu machen. Mit meinem Reden zeige ich mich und mache mich in meiner Haltung und in meinem Denken sichtbar und lesbar. Reden ist verbindlich. Wenn ich rede, wage ich Begegnung, an meinen Worten kann man mich behaften, meine Rede gibt mir ein Profil und ich werde meinem Gegenüber ein greifbarer Partner, mit dem er oder sie sich auseinandersetzen kann. Manchmal transportiere ich mit Reden auch einen neuen Inhalt, ich gebe Wissen und Erfahrung weiter, öffne neue Türen und zeige Pfade auf, die weiterführen. Meine Rede kann Teil eines Kontextes sein, der neue Erkenntnisse ermöglicht und damit auch neue Optionen sichtbar macht.13
In respektvoller Wechselrede, kann Neues gedacht werden, ja Neues geschaffen werden. Neue Begriffe und Sätze schaffen eine neue Wirklichkeit.
Entscheidend dabei ist es, dass dieses Reden immer ein Angebot bleibt, eine Möglichkeit, eine Einladung zum Dialog, in dem gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Isaacs schlägt dazu den Begriff des "Suspendierens" vor. Damit meint er: "Suspendieren bedeutet, die eigene Meinung weder zu unterdrücken noch stur dafür zu plädieren, sondern auf eine Weise vorzutragen, die es einem selbst und anderen ermöglicht, sie wahrzunehmen und zu begreifen."14 Suspendierende Sprechweise verlangt nach Pausen und übt sich im bescheidenen schweigen, damit wird "eine ungeheure Menge an kreativer Energie freigesetzt".15 Diese Art der Kommunikation erfordert, dass die redende Person sich darauf einlässt, "die Richtung zu wechseln, inne zu halten, einen Schritt zurückzutreten, und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten."16 Damit dies geschehen kann, braucht meine Rede immer wieder Schweigemomente.
Fragwürdiges Reden
Reden wird immer dann fragwürdig, wenn ihm der Dialogcharakter abhanden kommt. Wenn ich mit meinem Reden den Kommunikationsraum monopolisiere, wenn ich den gemeinsamen Begegnungsraum mit meinen Inhalten besetze. Fragwürdiges Reden ist Machtanspruch ohne Vereinbarung. Ich werde belehrt, unterrichtet, zurechtgewiesen, ohne dass ich etwas dazutun kann. Das kann dann auch zu einem - vor allem unter Männer beliebten - Hahnenkampf ausarten, bei dem es nicht mehr um die Inhalte geht, sondern darum, welcher Gockel lauter kräht und somit den Kommunikationsraum beanspruchen kann.
Eine andere Form fragwürdigen Redens ist das Geschwätz: "In seinem Zentrum steht die höchstpersönliche Bedeutung des Redners selbst, seines Wissens, seiner Energie, seiner wichtigen Erfahrungen und Überlegungen. ... Der geschwätzige Monolog kolonisiert den Kommunikationsraum und degradiert die Empfängerinnen zur leblosen Kulisse".17
Ebenso fragwürdig ist, was auch vorkommen kann, dass jemand redet, weil er das Schweigen nicht aushält. Damit werden Begegnungsmomente vermieden und heiklen Themen aus dem Weg gegangen. In der Transaktionanalyse kann solches Reden als Agitation verstanden werden, einer Form von passiven Verhaltens, die der Abwehr dient. So wird mit Reden zugedeckt, was Schweigen vielleicht ans Licht führen würde.
Ein jegliches zu seiner Zeit
Mit Reden und Schweigen gestalte ich meine Zeit, im Rückzug, mit Ritualen, im Zeitvertreib, bei Aktivitäten und in psychologischen Spielen. Mit Reden und Schweigen konstruiere ich mit meinem Gegenüber auch Momente der Intimität. Dabei geht es um die Ausgewogenheit. Ausgewogenheit nicht im Sinne eines statischen Mittelweges, sondern im Sinne eines dynamischen Ausbalancierens dessen, was in jedem einzelnen Moment angemessen ist. Bohm18 spricht davon, dass es in einem gelingenden Dialog darum geht, möglichst Vieles möglichst lange "in der Schwebe zu halten", damit dann, zur rechten Zeit, etwas Neues entstehen kann. In-der-Schwebe-halten hat meines Erachtens viel mit dem ausgewogenen Gleichgewicht von Reden und Schweigen zu tun. Es besteht auch eine gewisse Nähe zum oben beschriebenen suspendieren. Ein Gespräch gelingt, wenn Reden und Schweigen so aufeinander abgestimmt sind, dass der Kommunikationsraum zu einem Begegnungsraum wird, wo nicht um Macht oder Anerkennung gerungen wird, wo es nicht darum geht, Recht zu haben oder sich zu behaupten. Ein Begegnungsraum ermöglicht Dialog. Dialog ist kein Kampf, sondern "der Dialog bleibt offen und frei, ein leerer Raum. Das englische Wort leisure (Musse, freie Zeit) hat diese Bedeutung von einer Art leerem Raum. Das Gegenteil von leisure ist occupied (Raum einnehmend, belegt, besetzt sein), und hier ist der Raum gefüllt. Im Dialog haben wir also eine Art leeren Raum, wo alles mögliche hineinkommen kann."19
Und dieser leere (Zeit-)Raum kann in einem jeden Gespräch - ob professionell oder privat - gemeinsam gestaltet werden. So werden Begegnungen möglich und damit solche Begegnungen glücken können, gilt es mit Bewusstheit und Achtsamkeit auf ein förderliches Wechselspiel von Reden und Schweigen zu achten. Wer sich darin einübt, ein jegliches zu seiner Zeit zu tun, an dem wird die Zeit nicht einfach vorübergehen sondern er und sie werden sie formen und gestalten.
Der Titel dieses Workshops und auch dieses Textes leitet sich vom biblischen Buch Prediger ab. Unter dem Leitwort "Alles hat seine Zeit"1 werden da ganz verschiedene und sogar gegensätzliche Handlungen beschrieben, wie Menschen ihre Zeit verbringen können. Ein Wortpaar dieser umfassenden und eindrücklichen Liste lautet "Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit".
Zeitgestaltung
Zeit im Sinne von Lebenszeit kann nicht nur qualitativ verschieden gestaltet werden, sondern auch mit verschiedenen Tätigkeiten "gefüllt" werden. Reden und Schweigen sind beides mögliche Tätigkeiten mit denen ich im Sinne Berne's "durch die Zeit gehen kann" kann. Schweigend kann ich mich zurückziehen, und, so absurd sich das lesen mag, ich kann mich auch redend zurückziehen, indem ich einfach rede, ohne mit den anderen Menschen in Kontakt zu sein. Schweigen und Reden sind wichtige Bestandteile eines Rituals. Die Regelung wer, wann, was sagt oder eben schweigt und wie die gemeinsame Zeit gestaltet wird, machen den Kern eines Rituals aus. Dass Zeitvertreib aus einem wohlausgewogenen Wechsel von Reden und Schweigen besteht, den niemanden vor den Kopf stösst, versteht sich fast von selbst. Ebenso, dass Reden und Schweigen wichtige Elemente von Aktivität sind. In diesem Falle dienen beide Möglichkeiten die Zeit zu "füllen" dem gemeinsamen Ziel. Vom Zeitpunkt her gesehen unpassendes Reden und/oder unpassendes Schweigen können beide Auslöser für psychologische Spiele sein. Reden oder Schweigen im falschen Moment sind Einladungen, die dazu führen, dass sich meine Vorstellungen von mir selbst, den anderen und der Welt bestätigen. Gemeinsam vertraut schweigen kann ein Ausdruck von tiefer Verbundenheit und Intimität sein, ja kann sogar etwas Beglückendes haben. Genau so wie ein gutes Wort zur guten Zeit berühren und Beziehung entstehen lassen kann.
Kommunikationsraum und Macht
Auf den ersten Blick gilt: Wer redet, nimmt Raum ein, beansprucht Raum und wer schweigt, gibt Raum. Es gibt eine Macht des Redens: wer redet, fokussiert die Aufmerksamkeit auf sich, bestimmt die Inhalte, den Rhythmus und den Ton eines Gesprächs. Und zugleich gibt es auch eine Macht des Schweigens: wer schweigt, zwingt den anderen zum Reden, entzieht sich dem anderen, macht sich unangreifbar und unbegreiflich, auch das ist ein Form Macht auszuüben.
Umso wichtiger erscheint es mir den bewussten und konstruktiven Umgang mit Reden und Schweigen einzuüben und zu vertiefen.
Schweigen als "Raum geben"
Aus dieser (unfreiwilligen) Erfahrung habe ich gelernt, wie hilfreich und weiterführend in einem Gespräch das Schweigen sein kann. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, so habe ich den Raum offen gelassen, dass mein Gegenüber Gelegenheit bekam, nachzudenken und Lösungen zu kreieren. Dank meinem sprachlichen Unvermögen, habe ich sie nicht beim inneren Arbeiten gestört. Daraus habe ich gelernt wie Schweigen Raum schafft, dass Lösungen gefunden und Wege entwickelt werden können. Im Schweigen nimmt sich die beratende Person zurück, hört zu, beansprucht möglichst wenig eigenen Raum. Wenn ich nach einer Frage schweige, lasse ich sie wirken, gebe Zeit, dass eine Antwort überlegt werden kann. Vorzeitiges Reden beraubt einer guten Intervention ihrer Wirkkraft. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, wenn mein Schweigen nicht aus sprachlichem Unvermögen entsteht, sondern aus dem Vertrauen, das ich in meine Intervention setze.5 In meinen TA-Ausbildungsgruppen beobachte ich immer wieder, wie in den Live-Beratungssequenzen die Auszubildenden hilfreiche Interventionen machen oder öffnende Fragen formulieren und dann, wenn das Gegenüber darüber nachzudenken beginnt, und vielleicht einen Moment innehält, sie das kaum aushalten und gleich mit einer weiteren Frage nachdoppeln oder ein neues Thema anbieten. Sie stören oder unterbrechen mit ihrer verfrühten Intervention die Denkarbeit der zu beratenden Person. Schweigen im Sinne von Pause verhilft meinem Gegenüber zu denken. "Pausen sind der beste Teil vom Coaching. Sie werden für's Nichtstun bezahlt. Und dabei sind Sie jedem Rappen Ihres Honorars wert, weil dieses Nichtstun dem Coachee viel wertvolle Reflexionszeit gibt. Pausen verstehen wir als die 'heilige Denkzeit der Kunden'"6
Angemessenes Schweigen
Und manchmal schweige ich auch, weil ich schlichtweg nicht weiss, was ich sagen kann oder sagen soll. In dem Moment brauche ich als Beratender manchmal eine hilfreiche Pause, um mir zu überlegen, was eine weiterführende Reaktion von meiner Seite sein könnte. Da ist schweigen allemal angemessener als mit irgendwelchen Floskeln meine Unsicherheit zu überspielen. Es gibt vielleicht auch so etwas wie eine "heilige Denkzeit des Beraters".
Ein weiterer Aspekt, den ich hier anfügen möchte, ohne ihn zu vertiefen, ist die Frage des Schutzes. Manchmal hat Schweigen auch eine wichtige Schutzfunktion. Ich muss nicht alles aussprechen, was ich denke oder weiss. Der Leitbegriff dazu ist "Verschwiegenheit".9 "Im Schweigen und Verschweigen kann eine respektvolle Distanz (wir nennen das dann 'Takt' oder 'Diskretion') ihren Ausdruck finden, die eine Schutzfunktion für alle Teilnehmerinnen einer Kommunikation erfüllt: für den Sender, die Empfänger und abwesende Dritte, von denen die Rede sein könnte."10
Schweigen als Gestaltungsmoment
Schweigen kann auch ein Element von Enthaltsamkeit beinhalten, das gilt vor allem in den Momenten, in denen mein Gegenüber unpassende Strokes erwartet. Zur Professionalität eines Beraters gehört es, Einladungen zu ignorieren, die für skriptförderndes Verhaltung Strokes erheischen, und es braucht viel innere Bewusstheit, darauf nicht zu reagieren und wirklich nichts zu sagen.
Fragwürdiges Schweigen
"Silence like a cancer grows"11, manchmal wird Schweigen auch zu einer Last, die eine Beziehung krank macht wie ein Krebsgeschwür. Schweigen im Sinne von Verstummen kann viele Facetten haben, sei es wegen erlernter Hilflosigkeit oder sei es, weil ein frühes Sprechverbot einem Menschen verbietet seine Stimme zu erheben. Darüber hinaus gibt es noch weitere "dunkle Seiten des Schweigens".12
Schweigen kann auch Element eines Machtspiels sein, indem ich mit meinem Schweigen den anderen zwinge zu reden. Oder ich drücke damit subtil mein Desinteresse aus. Und Ich erachte es ebenfalls als wichtig, zu überprüfen ob der Grund meines Schweigens als Berater in einer Befangenheit liegt, oder ob das Thema, zu dem ich nichts sage, bei mir mit Scham behaftet ist. Beides wären Hinweise darauf, mir selbst in einer Supervision Hilfe zu holen.
Konstruktives Reden
Reden ist das Mittel, um mich verständlich zu machen. Mit meinem Reden zeige ich mich und mache mich in meiner Haltung und in meinem Denken sichtbar und lesbar. Reden ist verbindlich. Wenn ich rede, wage ich Begegnung, an meinen Worten kann man mich behaften, meine Rede gibt mir ein Profil und ich werde meinem Gegenüber ein greifbarer Partner, mit dem er oder sie sich auseinandersetzen kann. Manchmal transportiere ich mit Reden auch einen neuen Inhalt, ich gebe Wissen und Erfahrung weiter, öffne neue Türen und zeige Pfade auf, die weiterführen. Meine Rede kann Teil eines Kontextes sein, der neue Erkenntnisse ermöglicht und damit auch neue Optionen sichtbar macht.13
In respektvoller Wechselrede, kann Neues gedacht werden, ja Neues geschaffen werden. Neue Begriffe und Sätze schaffen eine neue Wirklichkeit.
Entscheidend dabei ist es, dass dieses Reden immer ein Angebot bleibt, eine Möglichkeit, eine Einladung zum Dialog, in dem gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Isaacs schlägt dazu den Begriff des "Suspendierens" vor. Damit meint er: "Suspendieren bedeutet, die eigene Meinung weder zu unterdrücken noch stur dafür zu plädieren, sondern auf eine Weise vorzutragen, die es einem selbst und anderen ermöglicht, sie wahrzunehmen und zu begreifen."14 Suspendierende Sprechweise verlangt nach Pausen und übt sich im bescheidenen schweigen, damit wird "eine ungeheure Menge an kreativer Energie freigesetzt".15 Diese Art der Kommunikation erfordert, dass die redende Person sich darauf einlässt, "die Richtung zu wechseln, inne zu halten, einen Schritt zurückzutreten, und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten."16 Damit dies geschehen kann, braucht meine Rede immer wieder Schweigemomente.
Fragwürdiges Reden
Eine andere Form fragwürdigen Redens ist das Geschwätz: "In seinem Zentrum steht die höchstpersönliche Bedeutung des Redners selbst, seines Wissens, seiner Energie, seiner wichtigen Erfahrungen und Überlegungen. ... Der geschwätzige Monolog kolonisiert den Kommunikationsraum und degradiert die Empfängerinnen zur leblosen Kulisse".17
Ebenso fragwürdig ist, was auch vorkommen kann, dass jemand redet, weil er das Schweigen nicht aushält. Damit werden Begegnungsmomente vermieden und heiklen Themen aus dem Weg gegangen. In der Transaktionanalyse kann solches Reden als Agitation verstanden werden, einer Form von passiven Verhaltens, die der Abwehr dient. So wird mit Reden zugedeckt, was Schweigen vielleicht ans Licht führen würde.
Ein jegliches zu seiner Zeit
Und dieser leere (Zeit-)Raum kann in einem jeden Gespräch - ob professionell oder privat - gemeinsam gestaltet werden. So werden Begegnungen möglich und damit solche Begegnungen glücken können, gilt es mit Bewusstheit und Achtsamkeit auf ein förderliches Wechselspiel von Reden und Schweigen zu achten. Wer sich darin einübt, ein jegliches zu seiner Zeit zu tun, an dem wird die Zeit nicht einfach vorübergehen sondern er und sie werden sie formen und gestalten.
Fussnoten
1 Die Bibel: Prediger 3,1-92 Berne (1970) p 155
3 so wörtlich übersetzt. In Berne (1974) S. 110 wird diese Passage mit "nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen in der Zeit" widergegeben
4 Eine hilfreiche Zusammenstellung der verschiedenen Versionen der "Zeitgestaltung"bei Berne findet sich im Handwörterbuch von Schlegel (2022) S. 442ff
5 vgl. Liechti-Genge (2022) S. 237f
6 Meier / Szabo (2008), S. 44
7 Die Bibel: Hiob 2,13
8 Betz / Reichel (2021) S.39f
9 a.a.O. S. 91 ff
10 a.a.O. S.82
11 Paul Simon, "The sound of silence", 1965
12 Betz / Reichel (2021) S. 40ff
13 Mohr (2022)
14 Isaacs (2002) S. 123
15 a.a.O. S. 123
16 a.a.O. S.123
17 Betz / Reichel (2021) S. 82
18 Bohm (2017) S. 139ff
19 a.a.O. S. 50
Literaturverzeichnis
Berne, Eric (1967): Spiele der Erwachsenen. Reinbek b.H.: Rowohlt TB (Original englisch 1963)
Berne, Eric (1970): Sex in Human Loving. New York: Simon and Schuster (deutsch: Berne, Eric (1974): Spielarten und Spielregeln der Liebe. Reinbek b.H.: Rowohlt TB)
Betz, Fritz / Reichel, René (2021): Schweigen macht Sinn. Wien: facultas Universitätsverlag
Bohm, David (82017): Der Dialog - Das offene Gespräch am Ende der Diskussion. Stuttgart: J.G. Cotta'sche Buchhandlung (Original englisch 1996)
Isaacs, William (2002): Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Bergisch Gladbach: EHP-Verlag Andreas Kohlhage (Original englisch 1999)
Liechti-Genge, Franz (2022): Supervision, Kontingenz und die Neugier – ein Essay und daraus folgend ein paar praktische Ermutigungen; in: Brunner, Karola / Sell, Matthias (2022) Transaktionsanalytische Supervision in Theorie und Praxis. Paderborn: Junfermann Verlag
Meier, Daniel / Szabo, Peter (2008): Coaching- erfrischend einfach - Einführung ins lösungsorientierte Kurzzeitcoaching. Luzern: Solutionsurfers GmbH (book on demand)
Mohr, Günther (2022): Kontextuale Transaktionsanalyse; in: ZTA Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 39. Jg. | H. 4; Weinheim: Beltz Juventa
Schlegel, Leonhard (32022): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Sämtliche Begriffe der TA praxisnah erklärt. Zürich: DSGTA
Franz Liechti-Genge
Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor und Coach bso; Theologe;bis 2023 Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich: www.ebi-zuerich.ch
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