artikelnovember2023

Unternehmensstrukturen: geronnene Beziehungen?

// Autoren: Armin Ziesemer & Thomas Böhlefeld //
Führungskräfte, Unternehmensberatungen, Strategieentwicklungen und nach wie vor die überwiegende Fachliteratur beziehen sich bei der Visualisierung sowie der Unternehmensentwicklung vornehmlich auf strukturelle und prozessorientierte Perspektiven. Die beziehungsorientierte Transaktionsanalyse richtet den Fokus auf eine konstruktiv gelingende Betrachtung von Organisation unter dem Aspekt der in ihr gepflegten Beziehungsqualitäten. Die Co-Podcaster von “Mit Brille und Bart” Armin Ziesemer und Thomas Böhlefeld sind überzeugt: Es ist Zeit für mehr Beziehungsarbeit in Unternehmen. In diesem Beitrag wagen sie einen Blick in den Raum zwischen Struktur und Beziehung. Als Grundlage dafür dienen die Impulse aus dem Workshop auf dem 42. Kongress der DGTA 2023 in Lindau.
Abb. 1 Post-It-Sammlung aus dem Workshop zum Spannungsfeld Struktur - Beziehung
“Moin, Hallo und herzlich willkommen an dich da draussen an den Empfangsgeräten”, begrüsst Thomas regelmässig unsere Zuhörerinnen und Zuhörer im Podcast. Schon Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, stellte der Begrüssungsformel “Guten Tag” alle existenziellen Grundfragen des menschlichen Lebens nach1. Und er stellt die “etwas provozierende Frage[…] [W]as tun die Leute nur alle[s], statt guten Tag zu sagen?”2.

Seit die Arbeit mechanisiert und Fabriken geschaffen wurden, wird sie durch die Entkopplung von Person und Handlung rationalisiert und verwissenschaftlicht. Im “Scientific Management” von Frederick W. Taylor (1856–1915) fand dieser Abstraktionsprozess seinen Höhepunkt. Auch bei allen Bemühungen der New Work-Bewegung domniniert also zielgerichtet organisiertes Verhalten, das der Rationalität des Maschinenmodells entspricht. Durch diese Bilder von Arbeit wird sie von einem ursprünglich Naturphänomen aus dem Zwang zu überleben, im Laufe der Neuzeit zu einem dem Menschen entfremdeten “Kulturphänomen”3, in dem ein “Guten Tag” nicht notwendig ist.
Üblicherweise lassen sich Phänomene eher vage beschreiben als konkret abbilden. Seit der Industrialisierung bestehen vielfältige Versuche, Beziehungen, Hierarchie und Kommunikationswege in Organisationen darzustellen. Daher gilt die Hypothese, dass es in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt von entscheidender Bedeutung ist, wie wir zunehmend komplexe Strukturen am besten darstellen können.

Vorweg: Uns ist es auf unserer Forschungsreise bisher nicht gelungen. Dennoch können wir daraus Erkenntnisse teilen.

BWL: das Beziehungsauge blind
Die klassische Organisationslehre spricht in der Darstellung und Zusammenfassung von Organisationseinheiten von “Konfiguration”. Denn in der Unternehmenswirklichkeit stehen diese nicht zusammenhangslos im Raum, sondern werden “anhand von bestimmten Kriterien geordnet und gegebenenfalls im Zuge der sogenannten Abteilungsbildung zu übergeordneten Organisationseinheiten zusammengefasst4.” Durch eine Strukturformalisierung werden organisatorische Regeln und Gültigkeiten schriftlich fixiert. Neben Organigrammen gehören dazu Stellenbeschreibungen und Richtlinien. “Die sogenannte Formalisierung ist ein Instrument, mit dem sich das Verhalten der Organisationsmitglieder besser steuern und kontrollieren lässt”5, lesen wir bei der Recherche. Dies lässt darauf schliessen, dass das Organigramm als Kontrollinstrument dienen soll. Tatsächlich werden diesem zwei Hauptgründe zugeschrieben: Entlastung der Unternehmensführung und die Bildung geschlossener Verantwortungsbereiche.

Auch bei ausführlicher Recherche in Stichwortlisten und Indizes zu “Beziehung” in der betriebswirtschaftlichen Literatur wird man wenig befriedigt. Es dominieren mechanistische Formulierungen. Denn Beziehungen werden “bewusst und personenunabhängig gestaltet und dienen dazu, das Verhalten der Organisationsmitglieder auf die Organisationsziele hin auszurichten”6.

Es scheint, Beziehung bzw. das transaktionale Geschehen im Sinne von Denken, Fühlen und Verhalten findet in der Betriebswirtschaft ausserhalb der Gestaltung von Stakeholderbeziehungen,
der Relational View-Theorie des Strategischen Managements und den informalen Beziehungen7 keinen Raum.

Schliesslich sind es Strukturen, die häufig in Linien-, Matrix- oder sonstigen Organisationen durch Organigramme und ähnliche Darstellungsformen abgebildet werden. Für beziehungsorientierte Aspekte ist die Betriebswirtschaft blind, weil Strukturen und Prozesse seit der frühen Industrialisierung Denk- und Entscheidungsmuster dominieren.

Neuer Blick
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Organisation deutlichere Konturen. “Im Mittelalter war ein besonderer Begriff für das, was wir heute Organisationen nennen, unnötig gewesen.”8 Ursprünglich war die soziale Ordnung durch Stände, Familienhaushalte und Korporationen gewährleistet und Tradition sowie gemeinsame Geschichte bestimmten das Zugehörigkeitsgefühl9. Die Abgrenzung der Vorstellung eines Innen und Aussen sozialer Systeme ist demnach ein relativ junger Begriff, auf den heutige Wirklichkeitskonstruktionen bauen. Als Beitrag zu einer zukunftsträchtigen Arbeitswelt wie z.B. für die New Work-Bewegung sehen wir die beziehungsorientierte Organisation als zu erforschendes Studienobjekt in der Betriebswirtschaft und in weiteren Sozialwissenschaften.

Unserer Ansicht nach besch­reibt der Begriff "beziehungsorientierte Organisation" soziale Systeme wie Unternehmen, die besonderen Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen legen – sei es zwischen den Mitarbeitenden, zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften oder zwischen der Organisation und ihren Kunden oder anderen Interessengruppen. Eine einheitliche Definition konnten wir nicht finden10.

Als Grundlage für einen weiterführenden Dialog skizzieren wir einige Haltungen und Qualitäten derartiger Organisationen: Sie

ermutigen zu einer offenen, angstfreien Kommunikation und fördern kooperative und kokreative Arbeitshaltungen.

schaffen Strukturen und Prozesse, die den Austausch von Wissen und Erfahrungen angemessen fördern.

fördern gelingende Arbeitsbeziehungen aus der Überzeugung, dass diese entscheidend für den Erfolg von Teams und die Gesundheit von Teammitgliedern sind.

schaffen eine Vertrauenskultur durch bewusste Rituale während des gesamten Human Relation Cycles von On- bis Offboarding.

haben verstanden, dass gelingende, stabile Beziehungen am Arbeitsplatz zum allgemeinen Wohlbefinden der Mitarbeitenden beitragen.

pflegen das Empfinden von Verbundenheit ohne Zwang und Einschüchterung sowie ein hohes Mass an ethischer Unternehmensführung und soziale Verantwortung.

ermöglichen Einzelcoachings, Super- & Intervisionsformate als Entlastungsräume zur Prävention und Frühintervention.

implementieren allfällige Zertifizierungen hinsichtlich Employer Branding oder Nachhaltigkeit wie ESG-Zertifizierungen aus einem Selbst­verständnis und nicht aus nutzenorientiertem Kalkül heraus.

Inspiration FIFA Ultimate Team
Auslöser für unsere Forschungsreise, bei der der Workshop am 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse (DGTA) einen kokreativen Austausch schaffte11, war die Entdeckung einer bemerkenswerten Parallele zur FIFA Ultimate Team (FUT) Spielvariante. Darin bringen Experten aus verschiedenen Disziplinen Ideen und Ansätze zur Abbildung von Organisationsstrukturen zusammen. Dabei spielen beziehungsorientierte Aspekte der Transaktionsanalyse eine wichtige Rolle. Denn das Chemiesystem in FUT betont die Bedeutung von Beziehungen und Kooperation für die Teamleistung. Es handelt es sich um einen Spielmodus der FIFA-Serie, bei dem die Spieler ein Team aus Fussballspieler:innen zusammenstellen. 

Die "Teamchemie" ist wichtig, um sicherzustellen, dass die Spieler:innen gut zusammenarbeiten. Sie entwickeln Kommunikationsstrategien und Taktiken, um auf dem Spielfeld erfolgreich zu sein. Und je mehr Attribute wie Tempo, Schiessen, Passen, Dribbling oder Physis sich in kreativen Verbindungen innerhalb des zusammengestellten Teams verstärken, werden Spieler und Teams geboostet. Auf dem Computerbildschirm wird die Stärke der Beziehungen zwischen den Kompetenzen der einzelnen Spieler mit Verbindungslinien dargestellt.

Diese Betrachtungsweise von Teambuilding brachte uns Impulse, über die dominante Struktur- und Prozessbetrachtung einerseits und die beziehungsorientierten Dimensionen für Unternehmen andererseits zu reflektieren.

Praxistransfer
Bereits vor dem Workshop setzen wir uns in der “Road to Lindau” in unseren Folgen mit Gästen zum Thema “Beziehungsorientierte Organisation” auseinander. Mit unseren Gedanken und Überlegungen stiegen wir in den Workshop ein, ohne zu wissen, was sich zeigen wird. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind wir für ihre Beiträge sehr dankbar.

Was stellten wir fest?

Die Grundfrage, ob es so eine Visualisierung in Organisationen überhaupt braucht, beschäftigte ebenso wie die Frage, was der Nutzen einer beziehungsorientierten Abbildung sein könnte. Als Ansatz kann das Grundbedürfnis nach Struktur des Menschen die Frage beantworten. Visualisierungen schaffen Bilder. Und Bilder “sind nicht nur interpretative Konstrukte oder Sichtweisen, sondern sie liefern uns auch Handlungsrahmen.”12 Im Gegensatz zu einer ursprünglichen Bedeutung des Organisationsverständnisses, das auf dem griechischen Wort organon (Werkzeug, Instrument) beruht, sehen wir den Nutzen einer beziehungsorientierten Visualisierung der Unternehmensbeziehungen als Denkweise, um alte Bilder, Metaphern und Vorstellungen der Organisation neu zu interpretieren und zu gestalten.

Insbesondere das Grundbedürfnis der Position, mit der Frage “Wo finde ich in meiner Organisation statt?” sowie Stabilität und Sicherheit sind Bedürfnisse, die Unternehmen in einem ausreichenden Mass sichern sollten, um den von Claude Steiner beschriebenen “Positionshunger”13 zu stillen.
Als betriebswirtschaftliche Grundannahme gilt eine hohe Erwartung an die Messbarkeit von Resultaten und wie z.B. bei Konzepten wie Balanced Score Card (BSC) oder Objectives and Key Results (OKR). Diese werden aufgrund vielfältiger gegenseitiger Beeinflussungen und Abhängigkeiten oft enttäuscht. Mit unseren Überlegungen wurden wir auch mit der Frage der Messbarkeit und Einordnung in die organisationale Realität der Bewertung konfrontiert. Dies ist aus zwei Perspektiven interessant. Wohl wäre es attraktiv, ein Steuerungssystem für die Wertigkeit von Beziehungen zu entwickeln, was realisierbar erscheint. Auf der anderen Seite führt dies zu einer grundsätzlichen Frage über den Wert von Beziehungen, die von philosophischer Natur ist. Um es mit den Worten von Georg Simmel zu beantworten: “Wenn es eine Philosophie des Geldes geben soll, so kann sie nur diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde liegen.”14 Eine neue Denkhaltung in der Unternehmenssteuerung ist hier wünschenswert, wo Trends und Entwicklungen Dimensionen wie Resilienz- oder Future Skillsparameter als Controllingtrends eingebracht werden15.

Zugegeben: Die gewählte Fragestellung mag visionär und weit weg von einer heute realisierbaren Lösung sein, wie über das Organigramm hinaus Beziehungsgefüge in Organisationen abgebildet werden können. Dennoch: Wir sind überzeugt, dass sich mehr Beziehungsorientierung und deren Abbildung in Unternehmen für wirtschaftliches wie menschliches Wachstum in vielfältiger Weise lohnen.
Auf die von Eric Berne gestellte Frage, was die Menschen tun, anstatt guten Tag zu sagen antwortet er selbst, dass es darum gehe, den “Ballast” dessen abzuwerfen “von den Dingen, die Leute sich wechselseitig antun, anstatt guten Tag zu sagen”16. Und er schreibt es in der Hoffnung, dass der Mensch erkennt, was “Ballast” sei und was nicht.

Die Auseinandersetzung während unserer Forschungsreise bringt uns zur Überzeugung, dass mehr Beziehungsorientierung in Organisationen Not tut. An der Schwelle von einer strukturellen und prozessualen Organisationsbetrachtung hin zu einem vielfältigen Wirrwar an Organisationsabbildungen wie Bubbles etc. können wir erkennen, das neue Bilder der Organisation gesucht werden.

Dadurch geht wohl auch teilweise die notwendig Orientierung verloren und im erhofften Paradigmenwechsel aus einer “alten” in eine “neue” Arbeitswelt wird verkannt, dass nach wie vor das starre Festhalten an Stellenbeschreibungen und mechanistischen Bildern der Organisation die “zone of indifference” weiter unterhalten wird: Es genügt vielfach lediglich die Anerkennung, dass der Mitarbeiter die Bedingungen der Mitgliedschaft durch einen gültigen Arbeitsvertrag erfüllt.

Beziehungsorientierte Organisation und Anstrengungen Wege zu finden, Beziehungen in Organisationen abzubilden oder gar zu bewerten, erscheint uns im Sinne der humanistischen Unternehmensführung wertvoll und wertschöpfend. Die verantwortungsvolle und achtsame Führungsaufgabe liegt darin, ein gutes Mass an Struktur und Beziehung zu gestalten. Bereits aus den in 75 Minuten gesammelten Impulsen (Abb. 1) der Workshopteilnehmer:innen liesse sich ein Buch verfassen.17

Einige Aspekte können wir in diesem Beitrag vertiefen:

Die Sinnhaftigkeit und Machbarkeit der Darstellung von Beziehungen ist von der Organisationsstruktur, der Unternehmenskultur und verfügbaren Ressourcen beeinflusst. Im Allgemeinen kann man festhalten, dass die Darstellung von Beziehungen umso schwieriger wird, je grösser und komplexer die Organisation ist.

Die Darstellung von Beziehungen ist in kleinen bis mittelgrossen Organisationen tendenziell einfacher und sinnvoller, da die Anzahl der Mitarbeiter, damit die Anzahl der Beziehungen untereinander und die Komplexität der Hierarchie geringer sind. In kleineren Organisationen kann man oft persönliche Beziehungen besser überblicken. Eine Überlegung im Workshop war, ob es genügen würde, in Stichproben oder ausgewählten Teams die Beziehungen nach definierten Parametern (siehe Analogie FUT) abzubilden und daraus Ableitungen für die Gesamtorganisation zu machen.

In grossen Unternehmen und Konzernen gibt es viele, auch länderübergreifende Abteilungen oder Geschäftseinheiten, die unabhängig voneinander arbeiten. Dies kann zu Silo-Mentalitäten18 führen, bei denen die Kommunikation zwischen den Abteilungen ungeeignet ist.

Strukturen entwickeln
Strukturen schaffen Orientierung und geben Halt. Gerade in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten können sie zu Strohhalmen werden, nach denen man greift, wenn sie wegbrechen. Jedes Unternehmen verfügt über formelle und gewachsene Strukturen, die nach wie vor gültig und beständig sind. Bewahren Sie sie. Stellen Sie sich aber auch der Herausforderung, dort, wo Sie eine Maschinenmetapher als Bild Ihrer Organisation pflegen, Alternativen zu suchen.

Im Zeitgeist geniessen Metaphern aus den Neurowissenschaften eine hohe Aufmerksamkeit. Wir unterstützen diese Entwicklungen aus der transaktionsanalystischen Perspektive. Denn es ist nachweislich möglich, Prozesse in Organisationen auszulösen, bei denen das Ganze in allen Einzelteilen entschlüsselt werden kann, so dass jeder einzelne Teil das Ganze repräsentiert und für sich leistungsfähig, verantwortungsvoll und selbstähnlich bleibt.

In der Diskussion der Strukturentwicklung eingeschlossen ist oftmals auch direkt die Frage nach der Abflachung von Hierarchien. In unserem Workshop wurde die These geäussert, dass Strukturen nicht flacher, sondern lediglich dynamischer werden. Klären Sie, welche Strukturen Ihnen taugen und welches Hierarchieverständnis Sie lernfähig hält. In sich dynamisierenden Organisationen ist es wesentlich, Schnittstellen sichtbar zu machen und an bewusst gestalteten Übergabepunkten transparente Übereinkünfte zu treffen.

In der Transaktionsanalyse spielen Übereinkünfte und soziale Vertragsklärungen eine wichtige Rolle, da sie dazu beitragen, die Kommunikation und Beziehungen in der Arbeitsumgebung zu verbessern.

Seien Sie besorgt darum, dass Übereinkünfte in Ihren Strukturen regelmässig überprüft und aktualisiert werden, um sicherzustellen, dass sie immer noch relevant und passend sind. Dies ermöglicht es, auf Änderungen und neue Anforderungen angemessen zu reagieren.

Zudem führt die Auseinandersetzung über soziale Vertragsklärungen dazu, dass die Beteiligten ihr eigenes Verhalten und ihre Erwartungen reflektieren. Dies entwickelt das gesunde Selbstbewusstsein.

Schaffen Sie Struktur und Orientierung, indem Sie Stellen und Rollen abbilden und in einem geeigneten Mass beschreiben. Achten Sie darauf, dass sie bei Änderungen möglichst aktualisiert und den Neuerungen angepasst werden.

Das Dazwischen
Traditionelle Organigramme stossen an Grenzen, wenn es darum geht, die tatsächlichen Beziehungen, Kommunikationswege und Hierarchien in Organisationen kombiniert aufzuzeigen. Unabhängig davon, welche Darstellung Sie für Ihre Organisation wählen, braucht es einen Blick für

die geltenden Spielregeln Fragen Sie danach, was Ihr Purpose ist und welche Spielregeln Sie für seine Verwirklichung benötigen. Dabei ist zu beachten, dass die Unternehmenssteuerung kontextbezogen und nicht rein finanziell erfolgt. Und - entsprechen die Spielregeln Ihrem Geschäftsmodell? Falls nicht: vereinbaren Sie sie neu.
eine bewusste Differenzierung. Klären Sie Ihre Rollenbilder hinsichtlich Funktionalität und menschlichen Bedürfnissen. Gerade jüngere Arbeitnehmende möchten ganz gesehen werden.
das rechte Tempo. Schnelligkeit mag das Paradigma der Stunde sein. Auch wenn die Veränderungszeit immer schneller wird, dauern die Gefühle der Menschen immer noch so lange wie früher.
eine gemeinsame Sprache. Bedeutungszumessung und Sinn können nicht verordnet werden. Dazu benötigen Sie eine ebenbürtige Kommunikation und eine Beziehungsgestaltung, die den Menschen ernst nimmt.
diverse Bedürfnisse. Erstmals sind gleichzeitig fünf Generationen auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere Human Relations-Kompetenzen sind gefragt. Fragen Sie, ob Ihre HR-Abteilung noch in Humankapital denkt oder Kompetenzen für Persönlichkeitsentwicklungen besitzt, einkauft oder danach sucht, damit sich Führung und Mitarbeitende auch in Krisenzeiten resilient verhalten und konfliktfähig werden. Bauen Sie Brücken - nicht undurchlässige Silos!

Beziehung gestalten
In der Auseinandersetzung mit dem Grundanliegen unserer Forschungsreise, wie Beziehungen in Organisationen abgebildet werden könnten, waren die Lösungsansätze durchwegs futuristisch. Von Hologrammen und implantierten Befindlichkeits-Chips war die Rede. Im Kern kamen wir hier nicht weiter.
Vielleicht liegt es daran, dass Beziehung etwas sehr Fluides und Flüchtiges ist. Etwas, das aus ihrer Natur heraus aus einem gelingenden, vertrauensvollen und bezogen gestaltetem Moment lebt. Etwas, das Strukturen scheut, weil dadurch die Lebendigkeit und Aktivität verloren geht. Etwas, das nicht gerinnen, sondern beweglich bleiben will.

Wohl kann es nicht genügend wiederholt werden: Beziehung lebt von Wertschätzung, sowohl remote als auch bei physischer Anwesenheit. Ein oft gepflegtes Missverständnis dabei ist, zu glauben, man wisse, was für das Gegenüber Wertschätzung bedeutet. Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Arbeitskollegin gefragt, was für sie Wertschätzung bedeutet? Probieren Sie es doch wieder einmal aus.

Die Transaktionsanalyse bietet passende Modelle für die Beziehungsgestaltung. In unserem Workshop wurde das Konzept der Erlaubnisse genannt. Fragen Sie sich doch selbst bei nächster Gelegenheit: Wann habe ich mir für mein Wohlbefinden in meiner Arbeit zuletzt etwas erlaubt und wer hat mir zuletzt eine mir wirklich wertvolle Erlaubnis gegeben?

Und was ebenfalls noch auffällig war, dass der Aspekt, sich füreinander Zeit zu nehmen, als wesentlich bewertet wurde. Nehmen Sie sich doch bei nächster Gelegenheit die Zeit und lauschen Sie achtsam einer Erzählung einer Kollegin oder eines Kollegen.

Und bleiben Sie gut in Kontakt mit sich – und Ihren Mitmenschen.

Guten Tag.
Fussnoten
1 Berne, E. (2010: 17): Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben – Psychologie des menschlichen Verhaltens. 21. Aufl. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main.
2 Ebd: 19
3 Assländer, M. S. (2005: 255): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Metropolis. Marburg.
4 Vahs, D. (2007: 96): Organisation – Einführung in die Organisationstheorie und -praxis. 6. Aufl. Schäffer-Poeschel. Stuttgart.
5 Ebd: 120
6 Ebd: 122
7 Informale Beziehungen beruhen, so definiert es Vahs, auf den persönlichen Zielen, Wünschen, Einstellungen und Verhaltensmustern der Organisationsmitglieder und sind jedoch nicht Gegenstand einer geplanten organisatorischen Gestaltung. Jedoch kann das Informale nicht unberücksichtigt gelassen werden, „denn schliesslich sind die Menschen und ihr Verhalten für die Effizienz einer Organisation von grösster Bedeutung“ (ebd: 122).
8 Luhmann, N. (2011: 13): Organisation und Entscheidung. 3. Aufl. VS Springer. Wiesbaden.
9 Auf die Bedeutung der nationalgeschichtlichen Entwicklungen sei verwiesen auf www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/280566/nationalgeschichte-und-globalgeschichte/
10 Gerne lassen wir uns weiter inspirieren, um den Begriff inhaltlich zu vertiefen und eine gemeingültige Definition zu erarbeiten. Als transaktionsanalytisches Modell, das dieses Thema in Unternehmen bearbeitbar macht, wird auf Functional Fluency von Susannah Temple und Jutta Kreyenberg verwiesen.
11 Die Nachschau zum DGTA-Workshop als Podcast-Folge kannst du hier oder dort, wo du dir sonst etwas auf die Ohren holst, anhören: open.spotify.com/episode/5DWhddBaLCZDrHTAMxZeIo?si=bab92bef8e114497
12 Morgan, G. (1997: 505): Bilder der Organisation. Klett-Cotta. Stuttgart.
13 Der Positionshunger stellt das Grundbedürfnis dar, eine einmal eingenommene Haltung aufrechtzuerhalten. In Situationen, in denen intensive Transformationen stattfinden, gilt es, dieses Bedürfnis bewusst wahrzunehmen und bei Veränderungsprozessen angemessen zu würdigen.
14 Simmel, G. (2009: 14):Philosophie des Geldes. 2. verm. Aufl. Anaconda. Köln.
15 https://hub.hslu.ch/financialmanagement/2022/12/20/controlling-trends-2023/ [28.10.2023]
16 Berne, E. (2010: 19): Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben – Psychologie des menschlichen Verhaltens. 21. Aufl. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main.
17 Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop für Ihre Beiträge und Impulse.
18 Über Aspekte zu Silodenken tauschen wir uns mit unseren Gästen im Sprint “Silodenken” aus.



Armin Ziesemer & Thomas Böhlefeld
Armin Ziesemer und Thomas Böhlefeld sind Co-Podcaster von “Mit Brille und Bart”.
Seit Oktober 2021 veröffentlichten sie mit Gästen oder zu zweit mehr als 100 praxisorientierte Folgen zu den Themen Organisationsentwicklung und Business Coaching mit der Transaktionsanalyse. Regelmässig laden Sie online im Durchblicker-Meetup zum Austausch ein.

mitbrilleundbart@gmail.com
instagram: mitbrilleundbart


artikeldezember2023

Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit

// Autor: Franz Liechti-Genge //
© Franz Liechti-Genge
"Es ist Zeit" lautete der Titel des Kongress 2023 der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse in Lindau (D). Dieser vorliegende Text basiert auf einem Workshop, den ich dort gehalten habe. Ziel des Workshops war es, einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Schweigen und Reden auf die Spur zukommen. Es geht hier also nicht um eine systematisch umfassende Abhandlung über das Schweigen und Reden sondern um eine Sammlung von Gedanken und Anregungen, wie insbesondere auch dem Schweigen als wirksame Intervention die nötige Bedeutung beigemessen werden kann. Es geht mir darum, dem "sound of silence" und dem "sound of speaking" nachzuspüren. Wie tönt schweigen? wie tönt reden? Wie fühlt sich das eine und das andere an? Und wie setze ich die beiden Elemente in einem Gespräch bewusst ein?
Der Titel dieses Workshops und auch dieses Textes leitet sich vom biblischen Buch Prediger ab. Unter dem Leitwort "Alles hat seine Zeit"1 werden da ganz verschiedene und sogar gegensätzliche Handlungen beschrieben, wie Menschen ihre Zeit verbringen können. Ein Wortpaar dieser umfassenden und eindrücklichen Liste lautet "Reden hat seine Zeit und Schweigen hat seine Zeit".

Zeitgestaltung
Wahrscheinlich hat Eric Berne als Jude diesen bekannten Text aus dem Ersten Testament gekannt und es würde mich nicht wundern, wenn er ihn im Hinterkopf gehabt hätte, als er folgende Sätze formulierte: "For the truth of the matter is not that time is passing, but that we are passing through time. It is not what they said in olden days, a river on whose banks we stand and watch, but a sea we have to cross."2 Für Eric Berne ist Zeit nicht etwas, das wie ein Fluss an uns vorbeizieht, sondern ein Meer, das es zu überqueren gilt. Die Zeit vergeht nicht, sondern wir gehen durch die Zeit.3 Er versteht Zeit als einen Raum, den es zu durchqueren gilt, noch präziser, zu gestalten gilt. Wie im Buch Prediger wird Zeit mit Handlungen konstituiert. In anderem Zusammenhang spricht er sogar von einem psychologischen Grundbedürfnis (Hunger nach Struktur) des Menschen, diesen Zeitraum zu gestalten. Berne unterscheidet dabei sechs menschliche Umgangsformen, wie die Zeit gestaltet werden kann: Rückzug, Rituale, Zeitvertreib, Aktivität, Psychologische Spiele und Intimität.4

Zeit im Sinne von Lebenszeit kann nicht nur qualitativ verschieden gestaltet werden, sondern auch mit verschiedenen Tätigkeiten "gefüllt" werden. Reden und Schweigen sind beides mögliche Tätigkeiten mit denen ich im Sinne Berne's "durch die Zeit gehen kann" kann. Schweigend kann ich mich zurückziehen, und, so absurd sich das lesen mag, ich kann mich auch redend zurückziehen, indem ich einfach rede, ohne mit den anderen Menschen in Kontakt zu sein. Schweigen und Reden sind wichtige Bestandteile eines Rituals. Die Regelung wer, wann, was sagt oder eben schweigt und wie die gemeinsame Zeit gestaltet wird, machen den Kern eines Rituals aus. Dass Zeitvertreib aus einem wohlausgewogenen Wechsel von Reden und Schweigen besteht, den niemanden vor den Kopf stösst, versteht sich fast von selbst. Ebenso, dass Reden und Schweigen wichtige Elemente von Aktivität sind. In diesem Falle dienen beide Möglichkeiten die Zeit zu "füllen" dem gemeinsamen Ziel. Vom Zeitpunkt her gesehen unpassendes Reden und/oder unpassendes Schweigen können beide Auslöser für psychologische Spiele sein. Reden oder Schweigen im falschen Moment sind Einladungen, die dazu führen, dass sich meine Vorstellungen von mir selbst, den anderen und der Welt bestätigen. Gemeinsam vertraut schweigen kann ein Ausdruck von tiefer Verbundenheit und Intimität sein, ja kann sogar etwas Beglückendes haben. Genau so wie ein gutes Wort zur guten Zeit berühren und Beziehung entstehen lassen kann.

Kommunikationsraum und Macht
Wenn zwei Personen miteinander in Kontakt kommen, entsteht ein gemeinsamer Begegnungsraum, für den beide Gesprächsteilnehmende Verantwortung tragen, wie sie ihn gestalten wollen. Eine Begegnung ist in diesem Sinn ein sich gemeinsam in diesem Kommunikationsraum aufhalten. Wenn zwei Personen sich in einem Raum befinden, dann kommt es zu Raumansprüchen. Und Raumansprüche sind auch Machtansprüche. Wird der gemeinsame Raum mit Reden und Schweigen gefüllt, so können Reden und Schweigen als Machtfaktoren einer Begegnung angesehen werden, die es sorgsam zu handhaben gilt.

Auf den ersten Blick gilt: Wer redet, nimmt Raum ein, beansprucht Raum und wer schweigt, gibt Raum. Es gibt eine Macht des Redens: wer redet, fokussiert die Aufmerksamkeit auf sich, bestimmt die Inhalte, den Rhythmus und den Ton eines Gesprächs. Und zugleich gibt es auch eine Macht des Schweigens: wer schweigt, zwingt den anderen zum Reden, entzieht sich dem anderen, macht sich unangreifbar und unbegreiflich, auch das ist ein Form Macht auszuüben.
Umso wichtiger erscheint es mir den bewussten und konstruktiven Umgang mit Reden und Schweigen einzuüben und zu vertiefen.

Schweigen als "Raum geben"
Ich erinnere mich an ein Coaching, das ich in französischer Sprache durchgeführt habe. Aus meinem Gegenüber sprudelten die Worte nur so hervor und das erst noch auf französisch, ich verstand nur die Hälfte und bin das eine oder andere Mal stumm geblieben, weil ich gar nicht recht wusste, was ich mit meinem Halbverstehen anfangen sollte. Am Schluss des Gesprächs war die Klientin äusserst zufrieden und dankte mir für mein wertvolles Schweigen, das ihr half, ihre Gedanken zu ordnen.

Aus dieser (unfreiwilligen) Erfahrung habe ich gelernt, wie hilfreich und weiterführend in einem Gespräch das Schweigen sein kann. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, so habe ich den Raum offen gelassen, dass mein Gegenüber Gelegenheit bekam, nachzudenken und Lösungen zu kreieren. Dank meinem sprachlichen Unvermögen, habe ich sie nicht beim inneren Arbeiten gestört. Daraus habe ich gelernt wie Schweigen Raum schafft, dass Lösungen gefunden und Wege entwickelt werden können. Im Schweigen nimmt sich die beratende Person zurück, hört zu, beansprucht möglichst wenig eigenen Raum. Wenn ich nach einer Frage schweige, lasse ich sie wirken, gebe Zeit, dass eine Antwort überlegt werden kann. Vorzeitiges Reden beraubt einer guten Intervention ihrer Wirkkraft. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, wenn mein Schweigen nicht aus sprachlichem Unvermögen entsteht, sondern aus dem Vertrauen, das ich in meine Intervention setze.5 In meinen TA-Ausbildungsgruppen beobachte ich immer wieder, wie in den Live-Beratungssequenzen die Auszubildenden hilfreiche Interventionen machen oder öffnende Fragen formulieren und dann, wenn das Gegenüber darüber nachzudenken beginnt, und vielleicht einen Moment innehält, sie das kaum aushalten und gleich mit einer weiteren Frage nachdoppeln oder ein neues Thema anbieten. Sie stören oder unterbrechen mit ihrer verfrühten Intervention die Denkarbeit der zu beratenden Person. Schweigen im Sinne von Pause verhilft meinem Gegenüber zu denken. "Pausen sind der beste Teil vom Coaching. Sie werden für's Nichtstun bezahlt. Und dabei sind Sie jedem Rappen Ihres Honorars wert, weil dieses Nichtstun dem Coachee viel wertvolle Reflexionszeit gibt. Pausen verstehen wir als die 'heilige Denkzeit der Kunden'"6

Angemessenes Schweigen
"Und sie setzten sich zu ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte, und keiner sagte ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr gross war."7 So reagieren die Freunde des von Unglück gebeutelten Hiob. Sie kommen ihm nicht mit billigen Verströstungen und klugen Ratschlägen (das machen sie dann unglücklicherweise später), sie setzen sich zu ihm und schweigen. Es gibt gute Gründe für eine beratende Person zu schweigen. Manchmal ist Schweigen ein angemessenes Zeichen von Betroffenheit und Mitgefühl. Im Schweigen kann ich mit dem anderen mitschwingen, ihn ernst nehmen, das was ich höre, würdigen. Zu einer wichtigen Einsicht schweigen kann das Gewicht der Aussage bekräftigen und bestärken. Schweigen verhilft einer Aussage zu einem Nachhall, das dem Gesagten den nötigen Nachdruck verleiht. Und da tue ich gut daran, eine bedeutsame Einsicht meines Gegenübers nicht mit flachen Worten zu zerreden. Schweigen kann heilsam wirken, beruhigen, einen Moment vertiefen. Diese hellen Dimensionen des Schweigens gilt es vielleicht wieder zu entdecken und einzuüben.8
Und manchmal schweige ich auch, weil ich schlichtweg nicht weiss, was ich sagen kann oder sagen soll. In dem Moment brauche ich als Beratender manchmal eine hilfreiche Pause, um mir zu überlegen, was eine weiterführende Reaktion von meiner Seite sein könnte. Da ist schweigen allemal angemessener als mit irgendwelchen Floskeln meine Unsicherheit zu überspielen. Es gibt vielleicht auch so etwas wie eine "heilige Denkzeit des Beraters".
Ein weiterer Aspekt, den ich hier anfügen möchte, ohne ihn zu vertiefen, ist die Frage des Schutzes. Manchmal hat Schweigen auch eine wichtige Schutzfunktion. Ich muss nicht alles aussprechen, was ich denke oder weiss. Der Leitbegriff dazu ist "Verschwiegenheit".9 "Im Schweigen und Verschweigen kann eine respektvolle Distanz (wir nennen das dann 'Takt' oder 'Diskretion') ihren Ausdruck finden, die eine Schutzfunktion für alle Teilnehmerinnen einer Kommunikation erfüllt: für den Sender, die Empfänger und abwesende Dritte, von denen die Rede sein könnte."10

Schweigen als Gestaltungsmoment
Schweigemomente können Gespräche strukturieren. Pausen ordnen meinen Gedankengang und machen ihn anderen zugänglich. Schweigen kann die Spannung erhöhen, die Aufmerksamkeit fokussieren oder einer Aussage Nachdruck verleihen. Kleine Atempausen wirken wie die Interpunktion in der schriftlichen Sprache. Jemandem zu folgen, der ohne Punkt und Komma fortlaufend spricht, ist sehr anspruchsvoll bis nahezu unmöglich, sogar wenn er in meiner Muttersprache spricht. Schweigen ist nicht einfach nur eine Redepause, sondern ist ein wichtiges Gestaltungsmoment in der Konstruktion des gemeinsamen Gesprächsraums. Schweigen kann Einklang, Verbindung und Verständnis schaffen.

Schweigen kann auch ein Element von Enthaltsamkeit beinhalten, das gilt vor allem in den Momenten, in denen mein Gegenüber unpassende Strokes erwartet. Zur Professionalität eines Beraters gehört es, Einladungen zu ignorieren, die für skriptförderndes Verhaltung Strokes erheischen, und es braucht viel innere Bewusstheit, darauf nicht zu reagieren und wirklich nichts zu sagen.

Fragwürdiges Schweigen
Schweigen kann auch unangebracht und fragwürdig sein. Mit schweigen kann ich eine ethische Fehlhaltung decken. Schweigen kann auch als ein falsch verstandenes Zeichen von Zustimmung gelesen werden. Da macht es Sinn, das Schweigen mutig zu brechen und eine Sache in ihrer Schwere oder Gefährlichkeit beim Namen zu nennen. "Manchmal muss man die Katze 'Katze" nennen und nicht nur 'Busseli'" pflegte ein Kirchgemeinderatspräsident zu sagen, mit dem ich eine Zeit lang zu tun hatte.
"Silence like a cancer grows"11, manchmal wird Schweigen auch zu einer Last, die eine Beziehung krank macht wie ein Krebsgeschwür. Schweigen im Sinne von Verstummen kann viele Facetten haben, sei es wegen erlernter Hilflosigkeit oder sei es, weil ein frühes Sprechverbot einem Menschen verbietet seine Stimme zu erheben. Darüber hinaus gibt es noch weitere "dunkle Seiten des Schweigens".12

Schweigen kann auch Element eines Machtspiels sein, indem ich mit meinem Schweigen den anderen zwinge zu reden. Oder ich drücke damit subtil mein Desinteresse aus. Und Ich erachte es ebenfalls als wichtig, zu überprüfen ob der Grund meines Schweigens als Berater in einer Befangenheit liegt, oder ob das Thema, zu dem ich nichts sage, bei mir mit Scham behaftet ist. Beides wären Hinweise darauf, mir selbst in einer Supervision Hilfe zu holen.

Konstruktives Reden
Manchmal hat Schweigen seine Zeit und manchmal hat Reden seine Zeit. Ich habe auch schon in Beratungssituationen erlebt, dass ein treffendes Wort "alles" sagt, dass gelingendes Reden im rechten Moment in einer "verhockten" Situation neue Wege öffnet, ja manchmal so trifft, dass sich das Problem fast von selbst löst. Manchmal kommt es in einem professionellen Gespräch auch vor, dass es für mich als Berater an der Zeit ist, etwas in aller Klarheit zu benennen, was da "in der Luft liegt". Manchmal ist es richtig, recht-zeitig einen Sachverhalt beim Namen zu nennen. Ich erinnere mich an eine Teamsupervision, in der es wichtig war, genau zu benennen, was geschah, als ein Teammitglied versuchte, ein anderes emotional unter Druck zu setzen. Es war ein Durchbruch in der Teamkultur von dieser Team-Untugend reden zu lernen.

Reden ist das Mittel, um mich verständlich zu machen. Mit meinem Reden zeige ich mich und mache mich in meiner Haltung und in meinem Denken sichtbar und lesbar. Reden ist verbindlich. Wenn ich rede, wage ich Begegnung, an meinen Worten kann man mich behaften, meine Rede gibt mir ein Profil und ich werde meinem Gegenüber ein greifbarer Partner, mit dem er oder sie sich auseinandersetzen kann. Manchmal transportiere ich mit Reden auch einen neuen Inhalt, ich gebe Wissen und Erfahrung weiter, öffne neue Türen und zeige Pfade auf, die weiterführen. Meine Rede kann Teil eines Kontextes sein, der neue Erkenntnisse ermöglicht und damit auch neue Optionen sichtbar macht.13

In respektvoller Wechselrede, kann Neues gedacht werden, ja Neues geschaffen werden. Neue Begriffe und Sätze schaffen eine neue Wirklichkeit.

Entscheidend dabei ist es, dass dieses Reden immer ein Angebot bleibt, eine Möglichkeit, eine Einladung zum Dialog, in dem gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Isaacs schlägt dazu den Begriff des "Suspendierens" vor. Damit meint er: "Suspendieren bedeutet, die eigene Meinung weder zu unterdrücken noch stur dafür zu plädieren, sondern auf eine Weise vorzutragen, die es einem selbst und anderen ermöglicht, sie wahrzunehmen und zu begreifen."14 Suspendierende Sprechweise verlangt nach Pausen und übt sich im bescheidenen schweigen, damit wird "eine ungeheure Menge an kreativer Energie freigesetzt".15 Diese Art der Kommunikation erfordert, dass die redende Person sich darauf einlässt, "die Richtung zu wechseln, inne zu halten, einen Schritt zurückzutreten, und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten."16 Damit dies geschehen kann, braucht meine Rede immer wieder Schweigemomente.

Fragwürdiges Reden
Reden wird immer dann fragwürdig, wenn ihm der Dialogcharakter abhanden kommt. Wenn ich mit meinem Reden den Kommunikationsraum monopolisiere, wenn ich den gemeinsamen Begegnungsraum mit meinen Inhalten besetze. Fragwürdiges Reden ist Machtanspruch ohne Vereinbarung. Ich werde belehrt, unterrichtet, zurechtgewiesen, ohne dass ich etwas dazutun kann. Das kann dann auch zu einem - vor allem unter Männer beliebten - Hahnenkampf ausarten, bei dem es nicht mehr um die Inhalte geht, sondern darum, welcher Gockel lauter kräht und somit den Kommunikationsraum beanspruchen kann.

Eine andere Form fragwürdigen Redens ist das Geschwätz: "In seinem Zentrum steht die höchstpersönliche Bedeutung des Redners selbst, seines Wissens, seiner Energie, seiner wichtigen Erfahrungen und Überlegungen. ... Der geschwätzige Monolog kolonisiert den Kommunikationsraum und degradiert die Empfängerinnen zur leblosen Kulisse".17

Ebenso fragwürdig ist, was auch vorkommen kann, dass jemand redet, weil er das Schweigen nicht aushält. Damit werden Begegnungsmomente vermieden und heiklen Themen aus dem Weg gegangen. In der Transaktionanalyse kann solches Reden als Agitation verstanden werden, einer Form von passiven Verhaltens, die der Abwehr dient. So wird mit Reden zugedeckt, was Schweigen vielleicht ans Licht führen würde.

Ein jegliches zu seiner Zeit
Mit Reden und Schweigen gestalte ich meine Zeit, im Rückzug, mit Ritualen, im Zeitvertreib, bei Aktivitäten und in psychologischen Spielen. Mit Reden und Schweigen konstruiere ich mit meinem Gegenüber auch Momente der Intimität. Dabei geht es um die Ausgewogenheit. Ausgewogenheit nicht im Sinne eines statischen Mittelweges, sondern im Sinne eines dynamischen Ausbalancierens dessen, was in jedem einzelnen Moment angemessen ist. Bohm18 spricht davon, dass es in einem gelingenden Dialog darum geht, möglichst Vieles möglichst lange "in der Schwebe zu halten", damit dann, zur rechten Zeit, etwas Neues entstehen kann. In-der-Schwebe-halten hat meines Erachtens viel mit dem ausgewogenen Gleichgewicht von Reden und Schweigen zu tun. Es besteht auch eine gewisse Nähe zum oben beschriebenen suspendieren. Ein Gespräch gelingt, wenn Reden und Schweigen so aufeinander abgestimmt sind, dass der Kommunikationsraum zu einem Begegnungsraum wird, wo nicht um Macht oder Anerkennung gerungen wird, wo es nicht darum geht, Recht zu haben oder sich zu behaupten. Ein Begegnungsraum ermöglicht Dialog. Dialog ist kein Kampf, sondern "der Dialog bleibt offen und frei, ein leerer Raum. Das englische Wort leisure (Musse, freie Zeit) hat diese Bedeutung von einer Art leerem Raum. Das Gegenteil von leisure ist occupied (Raum einnehmend, belegt, besetzt sein), und hier ist der Raum gefüllt. Im Dialog haben wir also eine Art leeren Raum, wo alles mögliche hineinkommen kann."19
Und dieser leere (Zeit-)Raum kann in einem jeden Gespräch - ob professionell oder privat - gemeinsam gestaltet werden. So werden Begegnungen möglich und damit solche Begegnungen glücken können, gilt es mit Bewusstheit und Achtsamkeit auf ein förderliches Wechselspiel von Reden und Schweigen zu achten. Wer sich darin einübt, ein jegliches zu seiner Zeit zu tun, an dem wird die Zeit nicht einfach vorübergehen sondern er und sie werden sie formen und gestalten.
Fussnoten
1 Die Bibel: Prediger 3,1-9
2 Berne (1970) p 155
3 so wörtlich übersetzt. In Berne (1974) S. 110 wird diese Passage mit "nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen in der Zeit" widergegeben
4 Eine hilfreiche Zusammenstellung der verschiedenen Versionen der "Zeitgestaltung"bei Berne findet sich im Handwörterbuch von Schlegel (2022) S. 442ff
5 vgl. Liechti-Genge (2022) S. 237f
6 Meier / Szabo (2008), S. 44
7 Die Bibel: Hiob 2,13
8 Betz / Reichel (2021) S.39f
9 a.a.O. S. 91 ff
10 a.a.O. S.82
11 Paul Simon, "The sound of silence", 1965
12 Betz / Reichel (2021) S. 40ff
13 Mohr (2022)
14 Isaacs (2002) S. 123
15 a.a.O. S. 123
16 a.a.O. S.123
17 Betz / Reichel (2021) S. 82
18 Bohm (2017) S. 139ff
19 a.a.O. S. 50
Literaturverzeichnis
Berne, Eric (1967): Spiele der Erwachsenen. Reinbek b.H.: Rowohlt TB (Original englisch 1963)
Berne, Eric (1970): Sex in Human Loving. New York: Simon and Schuster (deutsch: Berne, Eric (1974): Spielarten und Spielregeln der Liebe. Reinbek b.H.: Rowohlt TB)
Betz, Fritz / Reichel, René (2021): Schweigen macht Sinn. Wien: facultas Universitätsverlag
Bohm, David (82017): Der Dialog - Das offene Gespräch am Ende der Diskussion. Stuttgart: J.G. Cotta'sche Buchhandlung (Original englisch 1996)
Isaacs, William (2002): Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Bergisch Gladbach: EHP-Verlag Andreas Kohlhage (Original englisch 1999)
Liechti-Genge, Franz (2022): Supervision, Kontingenz und die Neugier – ein Essay und daraus folgend ein paar praktische Ermutigungen; in: Brunner, Karola / Sell, Matthias (2022) Transaktionsanalytische Supervision in Theorie und Praxis. Paderborn: Junfermann Verlag
Meier, Daniel / Szabo, Peter (2008): Coaching- erfrischend einfach - Einführung ins lösungsorientierte Kurzzeitcoaching. Luzern: Solutionsurfers GmbH (book on demand)
Mohr, Günther (2022): Kontextuale Transaktionsanalyse; in: ZTA Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 39. Jg. | H. 4; Weinheim: Beltz Juventa
Schlegel, Leonhard (32022): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Sämtliche Begriffe der TA praxisnah erklärt. Zürich: DSGTA


Franz Liechti-Genge
Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor und Coach bso; Theologe;bis 2023 Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich: www.ebi-zuerich.ch

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