artikeloktober2023

Die Zeit ist reif ... für Regenerierung

// Autorin: Valérie Perret //
© Pixabay
Einführung
Als ich die ersten Zeilen dieses Artikels schrieb, stand ich kurz vor meinem 50. Geburtstag. Diese Reflexion über die Zeit, die mir die Schweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse vorgeschlagen hat, kam gerade wie ein Geschenk, das es mir ermöglichte, über die vergehende Zeit, das Leben und insbesondere den Sinn des Lebens nachzudenken. Ich frage mich, wie ich die mir bleibende "Lebenszeit" nutzen kann, um einen echten Sinn zu finden.

In diesem Artikel möchte ich diese Frage anhand der Phasen der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson erörtern. Diese Theorie beschreibt detailliert und entwicklungsorientiert, wie der Mensch im Laufe seines Wachstums zu dem gelangt, was Berne Autonomie nennt; die Autonomie beinhaltet drei Eigenschaften, die für das reibungslose Funktionieren des Menschen wesentlich sind: klares Bewusstsein, Spontaneität und die Fähigkeit zur Intimität. Diese Theorie erklärt mit anderen Worten den Übergang von der Abhängigkeit zur gegenseitigen Abhängigkeit, den Nola Katherine Symor mit ihrem Konzept des Abhängigkeitszyklus beschreibt. Ich schlage Ihnen daher vor, Verbindungen zwischen der Transaktionsanalyse, unserem gemeinsamen Bezugsrahmen, und der Entwicklungspsychologie herzustellen.

Eriksons Stadien der psychosozialen Entwicklung beschreiben die Phasen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens aus psychologischer Sicht auf dem Weg zur Autonomie durchlaufen muss. Acht Stufen, von denen jede einen inneren Kampf widerspiegelt, bei dem die Person zwischen zwei gegensätzlichen Kräften wählen muss: existieren oder sich anpassen oder vielmehr irgendwo dazwischen ein Gleichgewicht finden. Ziel ist, das achte Stadium, das "Alter", mit einem Gefühl der Erfüllung zu erreichen.

Bei der Beschreibung dieser verschiedenen Lebensabschnitte werde ich mehr auf das 7. Stadium eingehen, das "Erwachsenenalter", in dem ich selbst mich derzeit befinde. Es ist das Stadium der Regenerierung, eine echte Chance, sich selbst wiederherzustellen, «zu reparieren». Ich werde meine Erfahrungen und persönlichen Überlegungen zu dieser Phase und ihrer Bedeutung für mich mit Ihnen teilen.

Die Stadien der psycho­sozialen Entwicklung
Während seines Wachstums will das Kind wie die anderen sein, dazugehören (Angepasstes Kind) und gleichzeitig möchte es sich selbst sein (Freies Kind). Es will in der Normalität leben UND seine Besonderheit ausleben. Das hat einen inneren Kampf zur Folge.

Ich schlage Ihnen vor, diese Lektüre mit einer Reise durch die Zeit fortzusetzen. Lassen Sie sich durch diese verschiedenen Etappen führen, indem Sie sich durch eine innere Erkundung an Ihre Kindheit erinnern. Stellen Sie sich vor ... stellen Sie sich das Baby vor, das Sie waren, dann das Kind, den Jugendlichen und schliesslich den Erwachsenen. Lassen Sie sich spüren, welche Schritte im Laufe Ihrer Geschichte gut verlaufen sind und welche schwieriger waren.

Stadium 1: (0 bis 18 Monate) SÄUGLINGSALTER
In diesem 1. Stadium durchläuft das Baby den folgenden Kampf: Vertrauen versus Misstrauen.

Wenn diese Phase gut verläuft, d. h. mit einer ausreichend guten Bemutterung, wie Donald Winnicott sagt, entwickelt das Baby ein solides Gefühl des Vertrauens,
zunächst in den anderen und dann durch die Erkundung in sich selbst. Es entwickelt einen Sinn für die Hoffnung auf das Leben, und lernt, dass andere Menschen verlässlich und beständig sind. Wenn diese Beziehung scheitert,
sieht das Baby die Welt mit Misstrauen. Es erlebt Angst, Hoffnungslosigkeit und Rückzug, da die anderen unzuverlässig und unbeständig sind. Die daraus resultierenden Szenario-Überzeugungen lauten: "Ich bin ganz allein, ich kann mich auf niemanden verlassen, ich bin nicht gut genug, dass man sich um mich kümmert ...".

Ergebnis eines zufriedenstellenden Gleichgewichts: Sicherheit, Hoffnung ins Leben.
Ergebnis eines unbefriedigenden Gleichgewichts: Verzweiflung.

Stadium 2: (18 Monate bis 3 Jahre) KLEINKINDHEIT
In diesem 2. Stadium durchläuft das Kleinkind den folgenden Kampf: Autonomie versus Scham, Selbstzweifel.

Die Autonomie erscheint auf der Bildfläche. Das häufigste Wort ist NEIN. In diesem Alter baut das Kind seine Selbstdefinition auf. Es kämpft darum, sich selbst zu definieren. Wenn das Kind von seinen Elternfiguren in seiner Einzigartigkeit bestätigt wird, baut es in sich seinen Willen und einen kohärenten Sinn für seine Selbstdefinition auf. Wenn dieser Schritt misslingt, wenn die Elternfiguren zu viel und zu früh von ihm verlangen, es demütigen oder gleichgültig sind, entwickelt es ein Gefühl der Scham und der inneren Leere. Schlimmer noch: Wenn ein Elternteil auch nur unbewusst mit ihm konkurriert, wird es von tiefer Scham erfüllt, ohne dass es die Ursache dafür verstehen kann.
Diese Bestätigung oder Nichtbestätigung wird sich das ganze Leben des Kindes hindurch fortsetzen, insbesondere durch die Lehrer in der Schulzeit.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Wille, kohärenter Sinn für Selbstdefinition.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Scham, Selbstzweifel, Beginn von Zwängen und Obsessionen.

Stadium 3: (3 bis 6 Jahre) PERIODE DER INITIATIVE, SPIELALTER
In diesem dritten Stadium durchläuft das Kind den folgenden Kampf: Initiative versus Schuldgefühl.

Das Kind entwickelt seine Fähigkeit zu spielen, zu gestalten und zu erforschen. Es baut und kreiert Sachen. Es entwickelt seinen Sinn für Initiative. Wenn seine Initiativen nicht gut ankommen, fühlt es sich schuldig. Die Eltern sind in dieser Zeit wichtig, aber auch die anderen Kinder, die Cousins ... das Kind experimentiert mit ihnen. Papa ist in dieser Phase wichtiger als Mama, er ist das Spielobjekt.

Befriedigendes Gleichgewicht: Lebensziel, Gefühl, ein Ziel zu haben, Überzeugung.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Hemmung.
Das Kind pendelt zwischen den verschiedenen Etappen hin und her. Jede Stufe baut auf den vorherigen auf, und jedes Mal, wenn es eine Stufe durchläuft, arbeitet es wieder an den alten Stufen. Das Kind verwertet wieder, um weiterzukommen. Das Neue verstärkt oder beeinträchtigt Vorangegangenes.

Stadium 4: (6 bis 12 Jahre) SCHULALTER
In diesem vierten Stadium durchläuft das Kind den folgenden Kampf: Harte Arbeit versus Minderwertigkeitsgefühl.

Das Kind entwickelt seine Fähigkeiten. Lernschwierigkeiten zeigen sich. Die Schule entspricht bestimmten Lernstilen, anderen nicht. In dieser Phase sind für das Kind die Schule, die Lehrer, das Verhalten der Freunde und Nachbarn wichtig. Gleichaltrige und Lehrer haben einen grossen Einfluss. Konkurrenz- und Vergleichsprozesse (zwischen Kindern, durch Lehrer oder Eltern) können giftig sein. Sie können das Leben mancher Kinder so vergiften, dass sie aufgeben.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Gefühl von Kompetenz.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Trägheit, Isolation, Minderwertigkeitsgefühle.

Stadium 5: (12 bis 25 Jahre) JUGENDALTER
In diesem fünften Stadium durchläuft der Jugendliche den folgenden Kampf: Identität versus
Verwirrung.

Diese Zeit ist dadurch gekennzeichnet, dass der Jugendliche seine Fähigkeiten, Überzeugungen und Werte in Frage stellt, mit dem Ziel, eine eigene Identität zu entwickeln.
Wer bin ich? Wohin gehe ich? Wenn es dem Jugendlichen gelingt, seiner Person einen Sinn zu geben, wird er eine starke Identität aufbauen, anstatt zu versuchen, etwas zu werden, was er nicht ist. In dieser Phase ist Zugehörigkeit wichtig. Er baut seine Identität auf seinem Fundament auf, das stabil sein muss. Dieser Moment ist wichtig für die Loyalität: Wem gegenüber werde ich loyal sein? Meinen Gleichaltrigen und/oder mir selbst?

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Loyalität, Identität.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Rollenverwirrung.

Stadium 6: (25 bis 35 Jahre) JUNGES ERWACHSENENALTER
In diesem 6. Stadium erlebt der junge Erwachsene den folgenden Kampf: Intimität versus Isoliertheit.

Er entwickelt seine Fähigkeit, zu kooperieren, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er entwickelt auch seine Fähigkeit zu lieben. Er findet einen Partner und lässt sich auf eine Liebesbeziehung ein. Es gelingt ihm, die Unterschiede seines Partners zu schätzen. Er ist von engen Freunden umgeben. Gelingt es ihm, ein befriedigendes Arbeits- und Gefühlsleben aufzubauen? Gelingt es ihm, sich zu binden oder scheitert er? Ermöglicht ihm diese Zeit, mit anderen intim und solidarisch zu sein?
Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Fähigkeit zu lieben und sich zu binden.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Einsamkeit und Isolation.

Stadium 7: (35-65 Jahre) ERWACHSENENALTER
In diesem 7. Stadium durchläuft der Erwachsene den folgenden Kampf: Fähigkeit etwas aufzubauen versus mit sich Selbst beschäftig sein.

Dies ist die Zeit der Regenerierung, die folgendermassen definiert ist: Die Fähigkeit eines Lebewesens, sich nach der Zerstörung eines Teils von sich selbst wiederherzustellen. Ich werde diesen Prozess weiter unten im Artikel näher beschreiben. Diese Zeit ist auch eine Zeit des Schaffens, d.h. der Fortpflanzung, der Fürsorge für die Familie, der sozialen Einbindung oder der Freude am Geben. Es ist auch die Zeit, um ein Gefühl des Stolzes auf die Arbeit zu entwickeln. Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist oder finanzielle Schwierigkeiten auftreten, können junge Erwachsene nicht in diese Phase eintreten und diese Phase wird verzögert.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Produktivität, Erfüllung.
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Stillstand, Unzufriedenheit.

Stadium 8: (65 Jahre und älter) ALTER
In diesem 8. Stadium durchläuft die Person den folgenden Kampf: Integrität versus Hoffnungs­losigkeit.

Dies ist das Stadium der Rückschau. Wer bin ich? Wer bin ich mit dem anderen, mit der Welt? Wie habe ich dazu beigetragen? Habe ich ein erfülltes Leben gelebt? Habe ich etwas in meinem Leben getan, auf das ich stolz bin? Die Art und Weise, wie die Person diese Fragen beantworten kann, lässt sie entweder Vertrauen, Autonomie, Erfüllung, Zufriedenheit, Beruhigung, oder aber Verbitterung, Wut und Einsamkeit empfinden.

Zufriedenstellendes Gleichgewicht: Weisheit
Unbefriedigendes Gleichgewicht: Verzweiflung, Verbitterung, Depression

Der Entwicklungsprozess ist keine gradlinige Entwicklung. In jeder Etappe wird das, was in den vorherigen Schritten nicht erfolgreich war, mit dem Ziel der Wiedergutmachung erneut durchgespielt.

Nachdem Sie diese verschiedenen Schritte gelesen haben, mobilisieren Sie weiter Ihre Vorstellungskraft ... Stellen Sie sich vor, Sie wären alt und lägen auf dem Sterbebett. Welche Befriedigung würden Sie in diesem Moment am Ende Ihres Lebens gerne empfinden? Welche Person würden Sie gerne sein? Was würden Sie auf keinen Fall bereuen? Was möchten Sie, dass man über Sie sagt? Es ist noch Zeit ...

Erkundung der siebten Entwicklungsstufe, dem "Erwachsenenalter", anhand meiner persönlichen Erfahrung
Als ich mit meiner Ausbildung in Transaktionsanalyse begann, war ich 33 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren. Ich arbeitete als medizinische Laborantin in einem Krankenhaus und hatte ein Haus auf dem Land. Ich hatte von aussen gesehen alles, was ich brauchte, um zufrieden zu sein. Dennoch langweilte ich mich in meinem Leben und fühlte mich schrecklich leer. Ich wünschte mir eine berufliche Neuorientierung, um der Langeweile zu entfliehen. Im Nachhinein betrachtet hatte ich eine sehr gute Intuition, als ich mich für diesen Weg entschied, getrieben von einem dringenden Wunsch nach Veränderung, ohne etwas über TA zu wissen. Ich stürzte mich ins Ungewisse. Ich wusste damals nicht, dass ich etwas erleben würde, das unendlich viel wichtiger und reicher war als eine berufliche Umschulung: Ich fand mich selbst, indem ich meine Ganzheit wieder aufbaute und so meinem Leben einen Sinn gab.

All die Zeit, die ich damit verbracht habe, mich intensiv weiterzubilden, in Therapie und Supervision zu gehen, intensive Gruppenprozesse zu erleben und mich anderen Strömungen zu öffnen, körperlichen, energetischen, neuro-emotionalen, sehe ich jetzt als einen Weg der Selbstfindung und dann der Öffnung für den anderen und die Welt. Ein Weg zur Autonomie. Mit 50 Jahren befinde ich mich in der siebten Entwicklungsstufe, dem "Erwachsenenalter". Diese Phase hat zwei Ziele: sich selbst zu regenerieren und die Fähigkeit etwas aufzubauen, zu entwickeln. Ohne sich selbst zu regenerieren, ist es meiner Meinung nach nicht möglich, die Fähigkeit, selbstständig zu schaffen, wirklich zu entwickeln.

So bin ich seit vielen Jahren auf dem Weg, um meine physische und psychische Integrität wiederherzustellen und die Teile von mir wiederzufinden, die auf dem Weg des Wachstums verloren gegangen oder verletzt worden sind. Dabei durchlaufe ich die Entwicklungsstufen meines Lebens erneut, um die inneren Kämpfe und die erlebten Beziehungen wiederzufinden. Das ist der Sinn meines derzeitigen Lebens, die Aufgabe, die ich vor dem Alter zu erfüllen habe, meine Verletzungen aus der Vergangenheit zu heilen, um meine Ganzheit und Kraft wiederzufinden. Das ist mein Antrieb, meine Lebensaufgabe, meine Leidenschaft.

Diese Regenerierung hat mir bereits geholfen, viele Qualen und zahlreiche Ressourcen in mir wiederzufinden, die beide eng miteinander verknüpft sind; Qualen, die ich verdrängt und durch starke szenische Abwehr maskiert hatte; Vitalität, die ich durch die Verdrängung ausgelöscht hatte. Durch die Auseinandersetzung mit diesem Thema konnte ich wieder eine gesunde, lebendige und bewusste Beziehung zu mir selbst, meinen Eltern, meinem Mann und meinen Kindern herstellen. Lebendig bedeutet nicht immer bequem!

Diese Regenerierung ermöglichte es mir auch, bestimmte transgenerationelle Traumata, deren Trägerin ich war, wiederzufinden. Dank tiefer therapeutischer Arbeit durch das Unbewusste habe ich meine Familiengeschichte kennengelernt, die Geschichte meiner Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern. Ich habe sowohl ihre Verletzungen als auch ihre Ressourcen entdeckt. Ich habe mich kognitiv, emotional und körperlich mit ihnen verbunden. Auf diese Weise konnte ich eine Verbindung zwischen Körperlichkeit und Psychologie herstellen.
Diese Arbeit ermöglicht es mir, die Stimmigkeit meines Familiensystems sowie meinen richtigen Platz in diesem System wiederzufinden. Sie hat auch eine Öffnung meines Bezugsrahmens, eine emotionale Beruhigung und eine Verringerung meiner körperlichen Spannungen zur Folge.

Da sie Teil des Systems sind, wurden auch meine Kinder durch meine therapeutische Arbeit von bestimmten Blockaden befreit (Befreiung von Symbiosen). So können sie sich individualisieren und ihre eigene Identität in der Andersartigkeit aufbauen. Jeder tut dies auf seine Weise, je nach seiner Persönlichkeit und der Intensität der bestehenden Symbiose.

Auch wenn wir die Traumata, die unsere Vorfahren erlitten haben, nicht kennen, tragen wir sie unbewusst in uns, in unserem Körper und in unserem Herzen, sie schränken uns ein, sie behindern uns, und wir halten die Hoffnung aufrecht, dass sie sich eines Tages auflösen. Sie sind sowohl die Ursache als auch die Lösung unserer Probleme, wenn wir uns für diesen unbewussten Raum in uns "der viel weiss"öffnen und versuchen, ihn bewusst zu machen. Wir sind alle Kinder einer Linie, und wenn wir unsere Zugehörigkeit zu dieser Linie, ihre Verletzungen wie auch ihre Ressourcen akzeptieren, können wir uns mit einem schlüssigen und lebendigen emotionalen System verbunden fühlen.

Laut Eric Erikson ermöglicht uns das Wiedererlangen unserer Ganzheit durch den Prozess der Regenerierung, zu erzeugen, d. h. zu produzieren, zur Welt beizutragen, anstatt in uns selbst versunken, isoliert oder deprimiert zu bleiben. Diese Phase ist die Zeit der Fürsorge, der Freude am Geben, der Zusammenarbeit, der Kooperation, der Weitergabe von Wissen, des Beitrags zur Gesellschaft und zur Welt. Sie entspricht der Phase der Interdependenz, von der Nola Katherine Symor in "Der Zyklus der Abhängigkeit" spricht.

Mit 50 Jahren trage ich durch meine Arbeit als psychosoziale Beraterin, meine TA-Schule, meine Artikel usw. zur Menschheit bei.
Ich schätze es, Klienten und Schüler in ihrem Wachstum zu unterstützen, damit sie die Freude empfinden, sich selbst zu entdecken und den Sinn ihres Lebens zu erkennen; damit sie sich wieder mit ihren tiefsten Impulsen und Sehnsüchten, ihrer Selbstdefinition und ihrer Identität in Einklang bringen. Diese spannende Aufgabe erfüllt mich täglich mit Freude und Dankbarkeit und ist in keiner Weise belastend. Danke, Regenerierung! Ich lebe sie aus meinem Erwachsenen-Ich-Zustand heraus und nicht mehr mit dem Ziel, mich selbst zu heilen. Meine Motivation hat jedoch ihren Ursprung in meiner Geschichte: die defekten Bindungen der Familiensysteme durch Bewusstsein und Menschlichkeit zu heilen, um mehr Freude und Lebendigkeit zu erlangen.
Ich habe von der Verbindung zu mir selbst gesprochen, von der Beziehung zu anderen, und wie sieht es mit der Verbindung zur Welt und insbesondere zu unserem Planeten aus? Heute wächst mein Bewusstsein für den Planeten und für meinen aktiven Beitrag, um ihn zu beschützen. Früher hatte ich zu viel mit mir selbst zu tun und konzentrierte mich darauf, meine inneren Kämpfe aus der Vergangenheit zu lösen und eine authentischere Persönlichkeit aufzubauen. Meine Sensibilität für die Sorge um den Planeten nimmt im Zuge meiner Regenerierung zu. Ich ändere mit Freude und Engagement meine Art zu konsumieren und zu essen. Auch wenn diese Veränderung eine gewisse Energie erfordert, kostet sie mich wenig Anstrengung, da mein Handeln selbst und frei gewählt ist und dem Leben dient. Allerdings beobachte ich immer noch, dass trotz aller Regenerierung, die ich vollzogen habe, meine selbstbezogene Sichtweise manchmal die Oberhand über den Schutz des Planeten gewinnt.

Und die Zeit vergeht …

Je mehr ich mich regeneriere, je präsenter ich in meinem Körper bin, desto mehr stabilisiert sich mein Zeitgefühl. Die Zeit im Alltag vergeht weder schnell noch langsam, im Gegensatz zu dem, was ich früher erleben konnte. Ich renne ihr nicht mehr hinterher oder versuche, sie zu beschleunigen, sondern lebe sie einfach, von Tag zu Tag, und geniesse sie. Ich bin mir mehr bewusst, dass die Zeit vergeht, indem ich mich selbst spüre und mich selbst bewohne. Das ist es wahrscheinlich, was der Ausdruck "im Augenblick leben" bedeutet. Berne sprach vom klaren Bewusstsein.

Schlusswort
Meiner Erfahrung nach reicht der Wille nicht aus, um die verrinnende Zeit auszukosten, um sie mit Präsenz und Leidenschaft zu leben. Es reicht nicht aus, sich zu sagen: "Jetzt geniesse ich das Leben". Das ist das Ergebnis eines langen Entwicklungsweges und das Stadium der Regenerierung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin.

In diesem Artikel habe ich Ihnen einen Teil meiner Erfahrungen und Überlegungen zu den Themen "Zeit des Lebens" und "Sinn des Lebens" unterbreitet. Wenn Sie möchten, schlage ich Ihnen vor, die Überlegungen auf Ihrer Seite fortzusetzen, indem Sie sich folgende Fragen stellen:

Und ich, welche Bedeutung messe ich meiner "Lebenszeit" bei? Wo stehe ich in meinem persönlichen Regenerierungsprozess? Was möchte ich noch regenerieren und schaffen? Wo stehe ich auf meinem Weg zu Weisheit und Erfüllung, oder TA-mässig ausgedrückt, zu Autonomie? …

Viel Freude beim Nachdenken
Fussnoten
1 Erik Erikson ist ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe (1902 – 1994)
2 N. K. Symor, « Le Cycle de la dépendance » (Der Zyklus der Abhängigkeit), Actualités en Analyse Transactionnelle n°27, pp. 140 – 145, Les Classiques de l’Analyse Transactionnelle n° 3, pp. 241 – 246
3 D. W. Winnicott britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker (1896 – 1971)

Valérie Perret
Valérie Perret ist Ausbilderin und Supervisorin in Transaktionsanalyse (TSTA-C) und integrativer Psychotherapie (R. Erskine). Sie ist ausserdem in neuro-emotionaler Integration und gewaltfreier Kommunikation ausgebildet. Sie ist Beraterin im psycho­sozialen Bereich und Erwachsenenbildnerin. Sie empfängt Jugendliche und Erwachsene in Einzelsitzungen, in Gruppen und in Paartherapie. Zusammen mit ihrer Kollegin Maryline Authier hat sie eine Schule für Transaktions­analyse in den Bereichen Beratung und Erziehung gegründet. Sie berät, unterrichtet und supervidiert in Donneloye in der Nähe von Yverdon.

pv@bizzini.ch
www.ecoleanalysetransactionnelle.ch
079 405 30 21

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artikelnovember2023

Unternehmensstrukturen: geronnene Beziehungen?

// Autoren: Armin Ziesemer & Thomas Böhlefeld //
Führungskräfte, Unternehmensberatungen, Strategieentwicklungen und nach wie vor die überwiegende Fachliteratur beziehen sich bei der Visualisierung sowie der Unternehmensentwicklung vornehmlich auf strukturelle und prozessorientierte Perspektiven. Die beziehungsorientierte Transaktionsanalyse richtet den Fokus auf eine konstruktiv gelingende Betrachtung von Organisation unter dem Aspekt der in ihr gepflegten Beziehungsqualitäten. Die Co-Podcaster von “Mit Brille und Bart” Armin Ziesemer und Thomas Böhlefeld sind überzeugt: Es ist Zeit für mehr Beziehungsarbeit in Unternehmen. In diesem Beitrag wagen sie einen Blick in den Raum zwischen Struktur und Beziehung. Als Grundlage dafür dienen die Impulse aus dem Workshop auf dem 42. Kongress der DGTA 2023 in Lindau.
Abb. 1 Post-It-Sammlung aus dem Workshop zum Spannungsfeld Struktur - Beziehung
“Moin, Hallo und herzlich willkommen an dich da draussen an den Empfangsgeräten”, begrüsst Thomas regelmässig unsere Zuhörerinnen und Zuhörer im Podcast. Schon Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, stellte der Begrüssungsformel “Guten Tag” alle existenziellen Grundfragen des menschlichen Lebens nach1. Und er stellt die “etwas provozierende Frage[…] [W]as tun die Leute nur alle[s], statt guten Tag zu sagen?”2.

Seit die Arbeit mechanisiert und Fabriken geschaffen wurden, wird sie durch die Entkopplung von Person und Handlung rationalisiert und verwissenschaftlicht. Im “Scientific Management” von Frederick W. Taylor (1856–1915) fand dieser Abstraktionsprozess seinen Höhepunkt. Auch bei allen Bemühungen der New Work-Bewegung domniniert also zielgerichtet organisiertes Verhalten, das der Rationalität des Maschinenmodells entspricht. Durch diese Bilder von Arbeit wird sie von einem ursprünglich Naturphänomen aus dem Zwang zu überleben, im Laufe der Neuzeit zu einem dem Menschen entfremdeten “Kulturphänomen”3, in dem ein “Guten Tag” nicht notwendig ist.
Üblicherweise lassen sich Phänomene eher vage beschreiben als konkret abbilden. Seit der Industrialisierung bestehen vielfältige Versuche, Beziehungen, Hierarchie und Kommunikationswege in Organisationen darzustellen. Daher gilt die Hypothese, dass es in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt von entscheidender Bedeutung ist, wie wir zunehmend komplexe Strukturen am besten darstellen können.

Vorweg: Uns ist es auf unserer Forschungsreise bisher nicht gelungen. Dennoch können wir daraus Erkenntnisse teilen.

BWL: das Beziehungsauge blind
Die klassische Organisationslehre spricht in der Darstellung und Zusammenfassung von Organisationseinheiten von “Konfiguration”. Denn in der Unternehmenswirklichkeit stehen diese nicht zusammenhangslos im Raum, sondern werden “anhand von bestimmten Kriterien geordnet und gegebenenfalls im Zuge der sogenannten Abteilungsbildung zu übergeordneten Organisationseinheiten zusammengefasst4.” Durch eine Strukturformalisierung werden organisatorische Regeln und Gültigkeiten schriftlich fixiert. Neben Organigrammen gehören dazu Stellenbeschreibungen und Richtlinien. “Die sogenannte Formalisierung ist ein Instrument, mit dem sich das Verhalten der Organisationsmitglieder besser steuern und kontrollieren lässt”5, lesen wir bei der Recherche. Dies lässt darauf schliessen, dass das Organigramm als Kontrollinstrument dienen soll. Tatsächlich werden diesem zwei Hauptgründe zugeschrieben: Entlastung der Unternehmensführung und die Bildung geschlossener Verantwortungsbereiche.

Auch bei ausführlicher Recherche in Stichwortlisten und Indizes zu “Beziehung” in der betriebswirtschaftlichen Literatur wird man wenig befriedigt. Es dominieren mechanistische Formulierungen. Denn Beziehungen werden “bewusst und personenunabhängig gestaltet und dienen dazu, das Verhalten der Organisationsmitglieder auf die Organisationsziele hin auszurichten”6.

Es scheint, Beziehung bzw. das transaktionale Geschehen im Sinne von Denken, Fühlen und Verhalten findet in der Betriebswirtschaft ausserhalb der Gestaltung von Stakeholderbeziehungen,
der Relational View-Theorie des Strategischen Managements und den informalen Beziehungen7 keinen Raum.

Schliesslich sind es Strukturen, die häufig in Linien-, Matrix- oder sonstigen Organisationen durch Organigramme und ähnliche Darstellungsformen abgebildet werden. Für beziehungsorientierte Aspekte ist die Betriebswirtschaft blind, weil Strukturen und Prozesse seit der frühen Industrialisierung Denk- und Entscheidungsmuster dominieren.

Neuer Blick
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Organisation deutlichere Konturen. “Im Mittelalter war ein besonderer Begriff für das, was wir heute Organisationen nennen, unnötig gewesen.”8 Ursprünglich war die soziale Ordnung durch Stände, Familienhaushalte und Korporationen gewährleistet und Tradition sowie gemeinsame Geschichte bestimmten das Zugehörigkeitsgefühl9. Die Abgrenzung der Vorstellung eines Innen und Aussen sozialer Systeme ist demnach ein relativ junger Begriff, auf den heutige Wirklichkeitskonstruktionen bauen. Als Beitrag zu einer zukunftsträchtigen Arbeitswelt wie z.B. für die New Work-Bewegung sehen wir die beziehungsorientierte Organisation als zu erforschendes Studienobjekt in der Betriebswirtschaft und in weiteren Sozialwissenschaften.

Unserer Ansicht nach besch­reibt der Begriff "beziehungsorientierte Organisation" soziale Systeme wie Unternehmen, die besonderen Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen legen – sei es zwischen den Mitarbeitenden, zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften oder zwischen der Organisation und ihren Kunden oder anderen Interessengruppen. Eine einheitliche Definition konnten wir nicht finden10.

Als Grundlage für einen weiterführenden Dialog skizzieren wir einige Haltungen und Qualitäten derartiger Organisationen: Sie

ermutigen zu einer offenen, angstfreien Kommunikation und fördern kooperative und kokreative Arbeitshaltungen.

schaffen Strukturen und Prozesse, die den Austausch von Wissen und Erfahrungen angemessen fördern.

fördern gelingende Arbeitsbeziehungen aus der Überzeugung, dass diese entscheidend für den Erfolg von Teams und die Gesundheit von Teammitgliedern sind.

schaffen eine Vertrauenskultur durch bewusste Rituale während des gesamten Human Relation Cycles von On- bis Offboarding.

haben verstanden, dass gelingende, stabile Beziehungen am Arbeitsplatz zum allgemeinen Wohlbefinden der Mitarbeitenden beitragen.

pflegen das Empfinden von Verbundenheit ohne Zwang und Einschüchterung sowie ein hohes Mass an ethischer Unternehmensführung und soziale Verantwortung.

ermöglichen Einzelcoachings, Super- & Intervisionsformate als Entlastungsräume zur Prävention und Frühintervention.

implementieren allfällige Zertifizierungen hinsichtlich Employer Branding oder Nachhaltigkeit wie ESG-Zertifizierungen aus einem Selbst­verständnis und nicht aus nutzenorientiertem Kalkül heraus.

Inspiration FIFA Ultimate Team
Auslöser für unsere Forschungsreise, bei der der Workshop am 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse (DGTA) einen kokreativen Austausch schaffte11, war die Entdeckung einer bemerkenswerten Parallele zur FIFA Ultimate Team (FUT) Spielvariante. Darin bringen Experten aus verschiedenen Disziplinen Ideen und Ansätze zur Abbildung von Organisationsstrukturen zusammen. Dabei spielen beziehungsorientierte Aspekte der Transaktionsanalyse eine wichtige Rolle. Denn das Chemiesystem in FUT betont die Bedeutung von Beziehungen und Kooperation für die Teamleistung. Es handelt es sich um einen Spielmodus der FIFA-Serie, bei dem die Spieler ein Team aus Fussballspieler:innen zusammenstellen. 

Die "Teamchemie" ist wichtig, um sicherzustellen, dass die Spieler:innen gut zusammenarbeiten. Sie entwickeln Kommunikationsstrategien und Taktiken, um auf dem Spielfeld erfolgreich zu sein. Und je mehr Attribute wie Tempo, Schiessen, Passen, Dribbling oder Physis sich in kreativen Verbindungen innerhalb des zusammengestellten Teams verstärken, werden Spieler und Teams geboostet. Auf dem Computerbildschirm wird die Stärke der Beziehungen zwischen den Kompetenzen der einzelnen Spieler mit Verbindungslinien dargestellt.

Diese Betrachtungsweise von Teambuilding brachte uns Impulse, über die dominante Struktur- und Prozessbetrachtung einerseits und die beziehungsorientierten Dimensionen für Unternehmen andererseits zu reflektieren.

Praxistransfer
Bereits vor dem Workshop setzen wir uns in der “Road to Lindau” in unseren Folgen mit Gästen zum Thema “Beziehungsorientierte Organisation” auseinander. Mit unseren Gedanken und Überlegungen stiegen wir in den Workshop ein, ohne zu wissen, was sich zeigen wird. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind wir für ihre Beiträge sehr dankbar.

Was stellten wir fest?

Die Grundfrage, ob es so eine Visualisierung in Organisationen überhaupt braucht, beschäftigte ebenso wie die Frage, was der Nutzen einer beziehungsorientierten Abbildung sein könnte. Als Ansatz kann das Grundbedürfnis nach Struktur des Menschen die Frage beantworten. Visualisierungen schaffen Bilder. Und Bilder “sind nicht nur interpretative Konstrukte oder Sichtweisen, sondern sie liefern uns auch Handlungsrahmen.”12 Im Gegensatz zu einer ursprünglichen Bedeutung des Organisationsverständnisses, das auf dem griechischen Wort organon (Werkzeug, Instrument) beruht, sehen wir den Nutzen einer beziehungsorientierten Visualisierung der Unternehmensbeziehungen als Denkweise, um alte Bilder, Metaphern und Vorstellungen der Organisation neu zu interpretieren und zu gestalten.

Insbesondere das Grundbedürfnis der Position, mit der Frage “Wo finde ich in meiner Organisation statt?” sowie Stabilität und Sicherheit sind Bedürfnisse, die Unternehmen in einem ausreichenden Mass sichern sollten, um den von Claude Steiner beschriebenen “Positionshunger”13 zu stillen.
Als betriebswirtschaftliche Grundannahme gilt eine hohe Erwartung an die Messbarkeit von Resultaten und wie z.B. bei Konzepten wie Balanced Score Card (BSC) oder Objectives and Key Results (OKR). Diese werden aufgrund vielfältiger gegenseitiger Beeinflussungen und Abhängigkeiten oft enttäuscht. Mit unseren Überlegungen wurden wir auch mit der Frage der Messbarkeit und Einordnung in die organisationale Realität der Bewertung konfrontiert. Dies ist aus zwei Perspektiven interessant. Wohl wäre es attraktiv, ein Steuerungssystem für die Wertigkeit von Beziehungen zu entwickeln, was realisierbar erscheint. Auf der anderen Seite führt dies zu einer grundsätzlichen Frage über den Wert von Beziehungen, die von philosophischer Natur ist. Um es mit den Worten von Georg Simmel zu beantworten: “Wenn es eine Philosophie des Geldes geben soll, so kann sie nur diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde liegen.”14 Eine neue Denkhaltung in der Unternehmenssteuerung ist hier wünschenswert, wo Trends und Entwicklungen Dimensionen wie Resilienz- oder Future Skillsparameter als Controllingtrends eingebracht werden15.

Zugegeben: Die gewählte Fragestellung mag visionär und weit weg von einer heute realisierbaren Lösung sein, wie über das Organigramm hinaus Beziehungsgefüge in Organisationen abgebildet werden können. Dennoch: Wir sind überzeugt, dass sich mehr Beziehungsorientierung und deren Abbildung in Unternehmen für wirtschaftliches wie menschliches Wachstum in vielfältiger Weise lohnen.
Auf die von Eric Berne gestellte Frage, was die Menschen tun, anstatt guten Tag zu sagen antwortet er selbst, dass es darum gehe, den “Ballast” dessen abzuwerfen “von den Dingen, die Leute sich wechselseitig antun, anstatt guten Tag zu sagen”16. Und er schreibt es in der Hoffnung, dass der Mensch erkennt, was “Ballast” sei und was nicht.

Die Auseinandersetzung während unserer Forschungsreise bringt uns zur Überzeugung, dass mehr Beziehungsorientierung in Organisationen Not tut. An der Schwelle von einer strukturellen und prozessualen Organisationsbetrachtung hin zu einem vielfältigen Wirrwar an Organisationsabbildungen wie Bubbles etc. können wir erkennen, das neue Bilder der Organisation gesucht werden.

Dadurch geht wohl auch teilweise die notwendig Orientierung verloren und im erhofften Paradigmenwechsel aus einer “alten” in eine “neue” Arbeitswelt wird verkannt, dass nach wie vor das starre Festhalten an Stellenbeschreibungen und mechanistischen Bildern der Organisation die “zone of indifference” weiter unterhalten wird: Es genügt vielfach lediglich die Anerkennung, dass der Mitarbeiter die Bedingungen der Mitgliedschaft durch einen gültigen Arbeitsvertrag erfüllt.

Beziehungsorientierte Organisation und Anstrengungen Wege zu finden, Beziehungen in Organisationen abzubilden oder gar zu bewerten, erscheint uns im Sinne der humanistischen Unternehmensführung wertvoll und wertschöpfend. Die verantwortungsvolle und achtsame Führungsaufgabe liegt darin, ein gutes Mass an Struktur und Beziehung zu gestalten. Bereits aus den in 75 Minuten gesammelten Impulsen (Abb. 1) der Workshopteilnehmer:innen liesse sich ein Buch verfassen.17

Einige Aspekte können wir in diesem Beitrag vertiefen:

Die Sinnhaftigkeit und Machbarkeit der Darstellung von Beziehungen ist von der Organisationsstruktur, der Unternehmenskultur und verfügbaren Ressourcen beeinflusst. Im Allgemeinen kann man festhalten, dass die Darstellung von Beziehungen umso schwieriger wird, je grösser und komplexer die Organisation ist.

Die Darstellung von Beziehungen ist in kleinen bis mittelgrossen Organisationen tendenziell einfacher und sinnvoller, da die Anzahl der Mitarbeiter, damit die Anzahl der Beziehungen untereinander und die Komplexität der Hierarchie geringer sind. In kleineren Organisationen kann man oft persönliche Beziehungen besser überblicken. Eine Überlegung im Workshop war, ob es genügen würde, in Stichproben oder ausgewählten Teams die Beziehungen nach definierten Parametern (siehe Analogie FUT) abzubilden und daraus Ableitungen für die Gesamtorganisation zu machen.

In grossen Unternehmen und Konzernen gibt es viele, auch länderübergreifende Abteilungen oder Geschäftseinheiten, die unabhängig voneinander arbeiten. Dies kann zu Silo-Mentalitäten18 führen, bei denen die Kommunikation zwischen den Abteilungen ungeeignet ist.

Strukturen entwickeln
Strukturen schaffen Orientierung und geben Halt. Gerade in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten können sie zu Strohhalmen werden, nach denen man greift, wenn sie wegbrechen. Jedes Unternehmen verfügt über formelle und gewachsene Strukturen, die nach wie vor gültig und beständig sind. Bewahren Sie sie. Stellen Sie sich aber auch der Herausforderung, dort, wo Sie eine Maschinenmetapher als Bild Ihrer Organisation pflegen, Alternativen zu suchen.

Im Zeitgeist geniessen Metaphern aus den Neurowissenschaften eine hohe Aufmerksamkeit. Wir unterstützen diese Entwicklungen aus der transaktionsanalystischen Perspektive. Denn es ist nachweislich möglich, Prozesse in Organisationen auszulösen, bei denen das Ganze in allen Einzelteilen entschlüsselt werden kann, so dass jeder einzelne Teil das Ganze repräsentiert und für sich leistungsfähig, verantwortungsvoll und selbstähnlich bleibt.

In der Diskussion der Strukturentwicklung eingeschlossen ist oftmals auch direkt die Frage nach der Abflachung von Hierarchien. In unserem Workshop wurde die These geäussert, dass Strukturen nicht flacher, sondern lediglich dynamischer werden. Klären Sie, welche Strukturen Ihnen taugen und welches Hierarchieverständnis Sie lernfähig hält. In sich dynamisierenden Organisationen ist es wesentlich, Schnittstellen sichtbar zu machen und an bewusst gestalteten Übergabepunkten transparente Übereinkünfte zu treffen.

In der Transaktionsanalyse spielen Übereinkünfte und soziale Vertragsklärungen eine wichtige Rolle, da sie dazu beitragen, die Kommunikation und Beziehungen in der Arbeitsumgebung zu verbessern.

Seien Sie besorgt darum, dass Übereinkünfte in Ihren Strukturen regelmässig überprüft und aktualisiert werden, um sicherzustellen, dass sie immer noch relevant und passend sind. Dies ermöglicht es, auf Änderungen und neue Anforderungen angemessen zu reagieren.

Zudem führt die Auseinandersetzung über soziale Vertragsklärungen dazu, dass die Beteiligten ihr eigenes Verhalten und ihre Erwartungen reflektieren. Dies entwickelt das gesunde Selbstbewusstsein.

Schaffen Sie Struktur und Orientierung, indem Sie Stellen und Rollen abbilden und in einem geeigneten Mass beschreiben. Achten Sie darauf, dass sie bei Änderungen möglichst aktualisiert und den Neuerungen angepasst werden.

Das Dazwischen
Traditionelle Organigramme stossen an Grenzen, wenn es darum geht, die tatsächlichen Beziehungen, Kommunikationswege und Hierarchien in Organisationen kombiniert aufzuzeigen. Unabhängig davon, welche Darstellung Sie für Ihre Organisation wählen, braucht es einen Blick für

die geltenden Spielregeln Fragen Sie danach, was Ihr Purpose ist und welche Spielregeln Sie für seine Verwirklichung benötigen. Dabei ist zu beachten, dass die Unternehmenssteuerung kontextbezogen und nicht rein finanziell erfolgt. Und - entsprechen die Spielregeln Ihrem Geschäftsmodell? Falls nicht: vereinbaren Sie sie neu.
eine bewusste Differenzierung. Klären Sie Ihre Rollenbilder hinsichtlich Funktionalität und menschlichen Bedürfnissen. Gerade jüngere Arbeitnehmende möchten ganz gesehen werden.
das rechte Tempo. Schnelligkeit mag das Paradigma der Stunde sein. Auch wenn die Veränderungszeit immer schneller wird, dauern die Gefühle der Menschen immer noch so lange wie früher.
eine gemeinsame Sprache. Bedeutungszumessung und Sinn können nicht verordnet werden. Dazu benötigen Sie eine ebenbürtige Kommunikation und eine Beziehungsgestaltung, die den Menschen ernst nimmt.
diverse Bedürfnisse. Erstmals sind gleichzeitig fünf Generationen auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere Human Relations-Kompetenzen sind gefragt. Fragen Sie, ob Ihre HR-Abteilung noch in Humankapital denkt oder Kompetenzen für Persönlichkeitsentwicklungen besitzt, einkauft oder danach sucht, damit sich Führung und Mitarbeitende auch in Krisenzeiten resilient verhalten und konfliktfähig werden. Bauen Sie Brücken - nicht undurchlässige Silos!

Beziehung gestalten
In der Auseinandersetzung mit dem Grundanliegen unserer Forschungsreise, wie Beziehungen in Organisationen abgebildet werden könnten, waren die Lösungsansätze durchwegs futuristisch. Von Hologrammen und implantierten Befindlichkeits-Chips war die Rede. Im Kern kamen wir hier nicht weiter.
Vielleicht liegt es daran, dass Beziehung etwas sehr Fluides und Flüchtiges ist. Etwas, das aus ihrer Natur heraus aus einem gelingenden, vertrauensvollen und bezogen gestaltetem Moment lebt. Etwas, das Strukturen scheut, weil dadurch die Lebendigkeit und Aktivität verloren geht. Etwas, das nicht gerinnen, sondern beweglich bleiben will.

Wohl kann es nicht genügend wiederholt werden: Beziehung lebt von Wertschätzung, sowohl remote als auch bei physischer Anwesenheit. Ein oft gepflegtes Missverständnis dabei ist, zu glauben, man wisse, was für das Gegenüber Wertschätzung bedeutet. Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Arbeitskollegin gefragt, was für sie Wertschätzung bedeutet? Probieren Sie es doch wieder einmal aus.

Die Transaktionsanalyse bietet passende Modelle für die Beziehungsgestaltung. In unserem Workshop wurde das Konzept der Erlaubnisse genannt. Fragen Sie sich doch selbst bei nächster Gelegenheit: Wann habe ich mir für mein Wohlbefinden in meiner Arbeit zuletzt etwas erlaubt und wer hat mir zuletzt eine mir wirklich wertvolle Erlaubnis gegeben?

Und was ebenfalls noch auffällig war, dass der Aspekt, sich füreinander Zeit zu nehmen, als wesentlich bewertet wurde. Nehmen Sie sich doch bei nächster Gelegenheit die Zeit und lauschen Sie achtsam einer Erzählung einer Kollegin oder eines Kollegen.

Und bleiben Sie gut in Kontakt mit sich – und Ihren Mitmenschen.

Guten Tag.
Fussnoten
1 Berne, E. (2010: 17): Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben – Psychologie des menschlichen Verhaltens. 21. Aufl. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main.
2 Ebd: 19
3 Assländer, M. S. (2005: 255): Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Metropolis. Marburg.
4 Vahs, D. (2007: 96): Organisation – Einführung in die Organisationstheorie und -praxis. 6. Aufl. Schäffer-Poeschel. Stuttgart.
5 Ebd: 120
6 Ebd: 122
7 Informale Beziehungen beruhen, so definiert es Vahs, auf den persönlichen Zielen, Wünschen, Einstellungen und Verhaltensmustern der Organisationsmitglieder und sind jedoch nicht Gegenstand einer geplanten organisatorischen Gestaltung. Jedoch kann das Informale nicht unberücksichtigt gelassen werden, „denn schliesslich sind die Menschen und ihr Verhalten für die Effizienz einer Organisation von grösster Bedeutung“ (ebd: 122).
8 Luhmann, N. (2011: 13): Organisation und Entscheidung. 3. Aufl. VS Springer. Wiesbaden.
9 Auf die Bedeutung der nationalgeschichtlichen Entwicklungen sei verwiesen auf www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/280566/nationalgeschichte-und-globalgeschichte/
10 Gerne lassen wir uns weiter inspirieren, um den Begriff inhaltlich zu vertiefen und eine gemeingültige Definition zu erarbeiten. Als transaktionsanalytisches Modell, das dieses Thema in Unternehmen bearbeitbar macht, wird auf Functional Fluency von Susannah Temple und Jutta Kreyenberg verwiesen.
11 Die Nachschau zum DGTA-Workshop als Podcast-Folge kannst du hier oder dort, wo du dir sonst etwas auf die Ohren holst, anhören: open.spotify.com/episode/5DWhddBaLCZDrHTAMxZeIo?si=bab92bef8e114497
12 Morgan, G. (1997: 505): Bilder der Organisation. Klett-Cotta. Stuttgart.
13 Der Positionshunger stellt das Grundbedürfnis dar, eine einmal eingenommene Haltung aufrechtzuerhalten. In Situationen, in denen intensive Transformationen stattfinden, gilt es, dieses Bedürfnis bewusst wahrzunehmen und bei Veränderungsprozessen angemessen zu würdigen.
14 Simmel, G. (2009: 14):Philosophie des Geldes. 2. verm. Aufl. Anaconda. Köln.
15 https://hub.hslu.ch/financialmanagement/2022/12/20/controlling-trends-2023/ [28.10.2023]
16 Berne, E. (2010: 19): Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben – Psychologie des menschlichen Verhaltens. 21. Aufl. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main.
17 Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop für Ihre Beiträge und Impulse.
18 Über Aspekte zu Silodenken tauschen wir uns mit unseren Gästen im Sprint “Silodenken” aus.



Armin Ziesemer & Thomas Böhlefeld
Armin Ziesemer und Thomas Böhlefeld sind Co-Podcaster von “Mit Brille und Bart”.
Seit Oktober 2021 veröffentlichten sie mit Gästen oder zu zweit mehr als 100 praxisorientierte Folgen zu den Themen Organisationsentwicklung und Business Coaching mit der Transaktionsanalyse. Regelmässig laden Sie online im Durchblicker-Meetup zum Austausch ein.

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