artikeljanuar2023

Vertrauen trauen – die Kunst zu vertrauen

// Autor: Stefan Marti //
Vertrauen ist in allen Lebensbereichen von hoher Bedeutung. Vertrauen ist das Fundament produktiver Zusammenarbeit und die Basis guter Führung. Gute Beziehungen sind ohne Vertrauen nicht vorstellbar. Vertrauen ist Kitt in Beziehungen und wohl der wichtigste Bestandteil guter Kommunikation. Vertrauen ist einerseits eine starke und verbindende Kraft und andererseits auch sehr zerbrechlich: leicht zu brechen, leicht zu verlieren und schwierig wieder aufzubauen. Mit diesem Artikel möchte ich zu einem differenzierten Verständnis des vielschichtigen Begriffes des Vertrauens beitragen. Ausgehend von der Frage, was unter Vertrauen überhaupt verstanden werden kann, werde ich drei Ebenen des Vertrauens beschreiben. Der Fokus der Ausführungen liegt auf der Beschreibung der Tiefenstruktur des Vertrauens, welche ich aus der Perspektive der Existenzanalyse (EA) und der Transaktionsanalyse (TA) beleuchten werde.
VERTRAUEN - DIE BRÜCKE ÜBER DEN FLUSS DER UNSICHERHEIT
Ich möchte Vertrauen aus der Perspektive der Existenzanalyse (EA) beschreiben, denn diese hat ein besonders griffiges Verständnis von Vertrauen. Vertrauen ist die Einwilligung, sich einer haltgebenden Struktur zu überlassen, um die wahrgenommene Unsicherheit (Risiko) zu überbrücken. Vertrauen steht in einem engen Zusammenhang mit der Angst: wo Vertrauen weicht, nimmt die Angst zu. Vertrauen ist - bildlich gesprochen - die Brücke über den Fluss der Unsicherheit. Die Basis des Vertrauens ist die Tragfähigkeit, die Festigkeit bzw. die Konstanz. Es muss etwas da sein und stark oder gross genug, um mich zu halten oder auffangen zu können. Darin besteht die Vertrauens-Würdigkeit (z.B. der Halt eines Seiles oder die Verlässlichkeit des Anästhesisten). Unsicherheit kann nur in der Haltung des Vertrauens überwunden werden. Ist Vertrauenswürdigkeit gegeben, kann die Prüfung und Kontrolle – das heisst die innere Zurückhaltung zur eigenen Sicherheit - abgegeben werden und es entsteht Vertrauen (Längle/Bürgi 2014). Ganz praktisch zeigt sich Vertrauen beispielsweise auch in der Gewissheit, dass getroffene Vereinbarungen vom Gegenüber eingehalten werden. Oder in der Erwartung, dass ein Gegenüber wohlwollendes Verhalten zeigen wird, obwohl dieses die Möglichkeit hätte, andere, nicht wohlwollende Verhaltensweisen zu wählen. Wer vertraut, verzichtet auf Sicherheit. Damit macht man sich verwundbar. So gesehen ist Vertrauen eine (riskante) Vorleistung. Es zeigt sich erst im Nachhinein, ob das Vertrauen gerechtfertigt war oder nicht. Vertrauen ohne 'Risiko' ist kein Vertrauen. Unsicherheit ist im Vertrauen immer präsent. Vertrauen hat zwei Pole: Den Mut auf der subjektiven Seite und den Halt auf der objektiven, äusseren Seite. Der subjektive Pol bezieht sich auf sich selbst: der Mut und das Selbstvertrauen. Selbstvertrauen ist das Vertrauen in den Halt in sich selbst, in die eigenen Fähigkeiten und ein Vertrauen in das Durchhaltevermögen der eigenen Fähigkeiten. Aus diesem Selbstvertrauen resultiert auch der Mut, sich auf das Restrisiko einzulassen. Vertrauen geschieht nicht automatisch, ist kein Reflex, sondern eine Entscheidung auf der Basis eines Gefühls (Längle 2009).

Auf der Basis dieses Verständnisses von Vertrauen werde ich nun - in Anlehnung die Metapher des Eisberges - drei Ebenen des Vertrauens beschreiben.
Abb. 1 Vertrauen – die Brücke über den Fluss der Unsicherheit
Eigene Darstellung an Anlehnung an Längle (2009)
ERSTE EBENE: DIE VERTRAUENSBASIS UND IHRE WIRKUNG
Vertrauen ist das Fundament gelingender Zusammenarbeit. Eine starke Vertrauensbasis äussert sich sowohl in Form von tragfähigen Beziehungen als durch eine Vertrauenskultur. Vertrauen macht Beziehungen robust, belastbar und damit auch fehlerverzeihend. Vertrauen ist die ‘einfachste’ Art der Komplexitätsreduktion in Beziehungen und senkt die Transaktionskosten in der Kommunikation, da unproduktives Kontroll- und Absicherungsverhalten ausbleiben kann. Eine starke Vertrauensbasis zeigt sich in einer offenen Feedback- und Konfliktkultur sowie in einem konstruktiven Umgang mit Fehlern. Auf der individuellen Ebene äussert sich Vertrauen auch in der Erfahrung, dass man sich für mich einsetzt, dass ich respektvoll behandelt, nicht fallen gelassen oder missachtet werde. Fehlendes Vertrauen oder Misstrauen führt zur Angst, sich mit seiner Meinung zu exponieren oder Fehler zu machen. Dies führt zu Absicherungsverhalten und einer Kultur der ‘Friedhöflichkeit’. Angst ist wohl der grösste Killer für Kreativität und Verantwortungsübernahme. Es ist daher eine zentrale Führungsaufgabe, ein angstfreies Klima zu schaffen.
ZWEITE EBENE: WAS VERTRAUEN STÄRKT UND SCHWÄCHT
Vertrauen ist das Resultat von Haltungen und von konkretem Verhalten. An dieser Stelle möchte ich mich auf ein paar generelle Hinweise beschränken. Weitergehende Ausführungen zur Schaffung einer Vertrauenskultur im Führungskontext finden Sie auf meiner Website in einem separaten Artikel.
Vertrauen bringt Vertrauen hervor
Vertrauen ist die Folge von Ehrlichkeit, Redlichkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Wer Vertrauen schaffen will, muss charakterliche Integrität haben. Darüber hinaus ist Vertrauen auch eine Frage des guten Willens. Wir vertrauen dort, wo ein grundsätzliches gegenseitiges Wohlwohlen und eine Wohlgesinntsein spürbar ist. Wir misstrauen denen, die für unsere Anliegen taub erscheinen. Wer Vertrauen will, muss Vertrauen säen! Vertrauen setzt eine positive Spirale in Gang. Menschen, denen man zu Recht und in vollem Umfang vertraut, werden das Vertrauen zurückgeben. Zu vertrauen ist auch eine Entscheidung: Vertrauen zu schenken, einen Vertrauensvorschluss zu geben. Der vielleicht beste Weg, um herauszufinden, ob man jemandem vertrauen kann, ist, ihm zu vertrauen (Ernest Hemingway). Ängstlichkeit, Übervorsichtigkeit, generelles Misstrauen oder Kontrollwahn sind ‘sichere’ Wege, Vertrauen zu verhindern. Ebenso blindes Vertrauen, also ein Vertrauen ohne Prüfung der Vertrauenswürdigkeit.
Vertrauen ist auch ein zerbrechliches Gut
Vertrauen kann man nicht ‘machen’ - echtes Vertrauen kann man nur durch Erfahrung gewinnen. So zeigt sich beispielsweise in Konflikten oder Krisen, wie tragfähig eine Beziehung wirklich ist. Vertrauen gründet in der Realität – in der Erfahrung, dass der Halt trägt. Vertrauen wird mit Beständigkeit aufgebaut und beinhaltet eine Paradoxie: Vertrauen ist einerseits eine starke Kraft – kräftig wie ein Baumstamm. Und andererseits ist Vertrauen auch sehr zerbrechlich: leicht zu brechen, leicht zu verlieren und schwierig wieder aufzubauen. Vertrauen ist daher auch wie eine zarte Pflanze. Vertrauen zu verlieren, dauert Sekunden, es kann jedoch Jahre dauern, bis sich das Vertrauensgefühl wieder verankert hat (Längle 2009). Missbrauchtes Vertrauen kann Vertrauen zerstören. Eine Entschuldigung genügt in aller Regel bei erschüttertem Vertrauen nicht. Nur durch erneute positive Erfahrungen, die man immer wieder erlebt, kann das erschütterte Vertrauen wiederaufgebaut werden. Vertrauen nachhaltig aufzubauen ist daher eine Frage der sozialen und emotionalen Kompetenz. Diese Kompetenzen stehen insbesondere in Stress- und Konfliktsituationen sowie bei Fehlern auf dem Prüfstand. In kritischen Situationen zu überreagieren, aus der Haut zu fahren, emotional zu entgleisen und verletzendes Verhalten zu zeigen, führen mit grosser Sicherheit zu Vertrauenseinbrüchen.
Ich-Zustände: Ressourcen und persönliche ‘Aufpassfelder

In diesem Zusammenhang ist das Modell der Ich-Zustände, ein Kernkonzept der TA, sehr aufschlussreich. Dabei werden gemäss Stewart/Joines fünf verschiedene Ich-Zustände unterschieden: Das kritische und das fürsorgliche Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich sowie das freie und das angepasste Kind. Für Vertrauen und Selbstvertrauen sind die grundlegenden Qualitäten aller Ich-Zustände notwendig. Und: alle fünf Ich-Zustände weisen sowohl produktive als auch unproduktive Anteile auf. Während die positiven Aufprägungen vertrauensbildend wirken, können die negativen Ausprägungen aller fünf Ich-Zustände zum Verlust von Vertrauen führen. Das Modell der Ich-Zustände der TA bietet daher eine gute Grundlage für die persönliche Selbstreflexion und zeigt persönliche Neigungen, Aufpassfelder und ‘Fallgruben’ auf. Sehr kopflastig argumentierende Personen – um ein Beispiel zu nennen – kommen ohne Vertrauen meist an eine Grenze. Vertrauen als eine Beziehungsqualität braucht die vertrauenden Qualitäten aus dem fürsorglichen Eltern-Ich oder aus dem Kind-Ich. Damit Vertrauen nicht blind, sondern ‘sehend’ erfolgt, braucht es ein gutes Erwachsenen-Ich. So führt – um ein weiteres Beispiel zu nennen – unbeherrschtes, aggressives oder strafendes Verhalten aus dem kritischen Eltern-Ich zur Irritation des Vertrauens. Ängstliche oder konfliktvermeidende Persönlichkeitsanteile aus dem angepassten Kind – um ein letztes Beispiel zu nennen – sind für das eigene Selbstvertrauen nicht förderlich. Die negativen Anteile der Ich-Zustände kommen vor allem auch in Stress- und Konfliktsituationen zum Vorschein. Und gerade in konfliktären und spannungsgeladenen Schlüsselsituationen steht – wie oben beschrieben - das Vertrauen besonders auf dem Prüfstand. Deshalb ist es von hoher Bedeutung, seine persönlichen Konflikt- und Stressmuster sowie Triggerpunkte und Vulnerabilitäten zu kennen. Wer diese kennt, ist eher in der Lage, sich in Drucksituationen selbst zu steuern und damit vertrauenszerstörendes Verhalten zu vermeiden.
DRITTE EBENE: DIE TIEFENSTRUKTUR
Die dritte Ebene ist die Tiefenstruktur des Vertrauens. Es ist der Sockel des persönlichen Vertrauens oder - um in einer Metapher zu sprechen - der untere Teil des Eisberges. Dieser Teil ist nicht direkt sichtbar. Während das Verhalten gelernt und eingeübt werden kann, geht es beim unteren Teil des Eisberges eher darum, ein gutes Bewusstsein darüber zu entwickeln. Denn dieser wirkt in Drucksituationen auch als ‘Autopilot’. Abb. 2 gibt einen Überblick über die Inhalte des Eisbergs. Diese Tiefenstruktur zu kennen, ist gerade auch im Zusammenhang mit Vertrauen entscheidend. Der Sockel besteht sowohl aus Ressourcen als auch aus persönlichen Prägungen und Mustern, welche negativen Einfluss auf Vertrauen und Selbstvertrauen haben können. Aus dem vielfältigen Themenkreis der Tiefenstruktur möchte ich einige besonders wesentliche Aspekte herausgreifen und beschreiben.
Persönliche Prägungen und Trübungen
Vertrauen ist ein Beziehungsthema. Daher erachte ich es als sehr bedeutsam, meine persönlichen Beziehungserfahrungen und Prägungen zu kennen. So ist es wichtig zu wissen, wie meine persönliche Geschichte mich geprägt hat und wie diese mein heutiges Verhalten als erwachsene Person beeinflusst. Nicht wenige Menschen tragen eher negative Beziehungserfahrungen in sich, was es schwierig machen kann, als erwachsene Person dann wirklich zu vertrauen. Für die Entwicklung eines Kindes ist das erlebte Vertrauen zentral. Ohne Vertrauen und Zutrauen ist die Entwicklung eines guten Selbstvertrauens erschwert. Aus der im Laufe der eigenen Lebensgeschichte gemachten Beziehungserfahrungen resultieren Überzeugungen und Glaubenssätze. Diese sind jedoch nicht selten auch getrübt. Mit dem Begriff ‘Trübungen’ meint die TA unüberprüft übernommene und für wahr gehaltene Glaubenssätze oder Vorurteile wie beispielsweise: „Man darf niemandem wirklich trauen“ oder „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ oder „Wenn ich die Zügel zu locker in der Hand habe, laufe ich Gefahr, dass mein Vertrauen missbraucht wird“ oder „Wenn ich einen Fehler mache, denkt man schlecht über mich“. Überzeugungen dieser Art beeinflussen massgeblich das persönliche Verhalten. Deshalb ist es wichtig, seine persönlichen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand zu legen im Sinne von: «Stimmt es eigentlich, dass…?». Dies hilft, auf eine innere Distanz zu seinen Meinungsgewohnheiten und vermeintlichen Überzeugungen zu kommen.
Abb. 2 Eisberg des Vertrauens. Eigene Darstellung in Anlehnung an Göpf Hasenfratz
Einschärfungen
Besonders einschränkend können auch sogenannte Einschärfungen wirken. Unter Einschärfungen versteht man in der TA Grundverbote und destruktive Botschaften, die in früher Kindheit meist in nonverbaler Weise auf uns eingewirkt haben und von unseren Eltern oder deren Ersatzpersonen unbewusst vermittelt wurden. Im Zusammenhang mit Vertrauen und Selbstvertrauen sind die folgenden Einschärfungen besonders beeinträchtigend: «Vertraue nicht! Trau niemandem!» oder «Schaff es nicht - nichts wird dir gelingen!» oder «Unternimm nichts, entscheide nichts - sonst endet es mit einer Katastrophe» oder «Werde nicht erwachsen - werde nicht selbständig!». Dass Einschärfungen dieser Art massiven Einfluss auf das persönliche Verhalten als erwachsene Person haben, ist selbstsprechend.
Selbstvertrauen und das tiefe Vertrauen
Ein weiterer sehr bedeutsamer Themenkreis innerhalb der Tiefenstruktur sind die Themen Selbstvertrauen sowie das tiefe Vertrauen. Selbstvertrauen ist das Vertrauen in sich selbst, in das eigene Können und das Vertrauen in das Durchhaltevermögen der eigenen Fähigkeit. Wie weiter oben im Zusammenhang mit der Vertrauensbrücke dargestellt, stellen Mut und Selbstvertrauen den unverzichtbaren Innenpol des Vertrauens dar. Die Basis des Vertrauens ist das tiefe Vertrauen. Der letzte Grund des Vertrauens – die Tiefe des Vertrauens, besteht aus Sicht der Existenzanalyse aus den drei Komponenten: Unbedingte Selbsttreue, Urvertrauen und Grundvertrauen (Längle 2009 und 2014). Die unbedingte Selbsttreue ist ein Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst unbedingt treu zu sein und unter allen Umständen zu sich zu stehen. Die unbedingte Selbsttreue äussert sich im Gefühl: «Ich bin bei mir aufgehoben». Das Urvertrauen stammt aus prägenden Früherfahrungen der ersten Lebensjahre, dass Menschen in lebenswichtigen Zeiten bedingungslos zu einem gehalten haben. Es ist ein anhaltendes Grundgefühl des Versorgtseins; dass jemand da ist, wenn man ihn braucht. Das Grundvertrauen ist der letzte Grund von allem Vertrauen und bezieht sich auf die Erfahrung, dass immer etwas da ist, das auffängt und Halt gibt. Das Grundvertrauen läuft auf das Gefühl hinaus, dass es «nie aus ist, sondern immer irgendwie weitergeht.» Bei gutem Ur- und Grundvertrauen fällt das Vertrauen leichter. Der im tiefen Vertrauen geborgene Mensch ist geborgen – komme, was wolle. Das tiefe Vertrauen hat eine spirituelle Dimension: Ein Vertrauen auf etwas Unsichtbares, mich Überschreitendes (Transzendenz). Für die Stärkung des tiefen Vertrauens bestehen in allen Weisheitstraditionen kraftvolle Übungswege.

Dies waren einige Hinweise zur Tiefenstruktur des Vertrauens. Wie einleitend ausgeführt genügt es nicht, sich des adäquaten Verhaltens bewusst zu sein bzw. Verhalten einzuüben. Vielmehr geht es darum die ‘Innenseite des Verhaltens’ – die Tiefenstruktur zu kennen. Denn Verhalten lässt sich zwar einüben, aber die inneren Vorgänge folgen nicht demselben Lernmodell, und gerade sie bestimmen ‘im Ernstfall’ entscheidend mit über die Qualität des Zwischenmenschlichen. Wer Spielball seiner psychischen Kräfte ist, kann schwerlich gelassen und umsichtig handeln. Deshalb erachte ich eine gute Selbstkenntnis sowie das Investieren in das eigene persönliche Wachstum als unerlässlich, wenn es das Thema Vertrauen geht.


Abb. 3 Vertrauenskreuz, eigene Darstellung in Anlehnung an Bernhard Schibalski (Seminarunterlagen)
DAS VERTRAUENSKREUZ NACH SCHIBALSKI
Abschliessend möchte ich noch auf das Konzept der Grundpositionen eingehen. Grundpositionen sind die grundlegenden Überzeugungen, die jemand über sich selbst und die anderen Menschen gewinnt. Besonders deutlich zeigen sich die Grundpositionen in Krisen und bei grösseren Herausforderungen. Die Grundpositionen sind entscheidend dafür, wie wir im Zusammenspiel mit unseren Mitmenschen unser Leben gestalten. Die TA unterscheidet die vier Grundpositionen: (1) Ich bin ok / du bist ok, (2) Ich bin ok / du bist nicht ok, (3) Ich bin nicht ok / du bist ok, (4) Ich bin nicht ok / du bist nicht ok. Das Konzept der Grundpositionen ist mit Blick auf das Thema Vertrauen besonders aufschlussreich. Mein langjähriger Ausbildner Bernhard Schibalski, lehrberechtigter Transaktionsanalytiker im Bereich Organisation, hat das Konzept der Grundpositionen in den Kontext von Vertrauen und Selbstvertrauen gestellt und in der Form des ‘Vertrauenskreuzes’ ausdifferenziert. Dieses aufschlussreiche Konzept möchte ich – auch im Sinne einer Zusammenfassung dieses Artikels – näher ausführen.
Entscheidend für gute oder schlechte Kommunikation ist die Vertrauensorientierung des Kommunikators: Vertrauen in sich selbst, also Selbstvertrauen, und Vertrauen in die Umwelt, mit der er kommuniziert. Wie Abb. 3 zeigt, müssen die Dimensionen Vertrauen und Selbstvertrauen in einem Zusammenhang gesehen werden. Ein autonomes, offenes Kommunikationsverhalten ist nur in der Kombination von Vertrauen und Selbstvertrauen möglich. Alle anderen Kombinationen führen zu unproduktiver Kommunikation und Zusammenarbeit.

Bei grossem Selbstvertrauen und Vertrauen in andere ist unser Verhalten autonom und unabhängig und wir sind für andere offen. Wir nehmen unsere Bedürfnisse wie auch die Bedürfnisse anderer wahr und sind bestrebt, sie in unseren Handlungen zu berücksichtigen. In Verbindung mit Misstrauen gegenüber anderen wird das Selbstvertrauen zur Überheblichkeit. Wenn die Missbilligung der anderen dazu dient, das Selbstvertrauen hochzuhalten, empfinden wir dieses Verhalten als arrogant-aggressiv. Ich muss den anderen klein machen, um mich überlegen fühlen zu können. Die Gegenposition ergibt sich aus der Kombination von Selbstzweifeln und Vertrauen in andere bzw. Hoffnung auf andere. Aus dieser Position des ‘Ich bin nicht o.k. – du bist o.k.’ werten wir uns selbst ab und empfinden uns als abhängig von anderen und ihrer Hilfe. Wir machen uns selbst klein, um anderen zu gefallen bzw. ihre Zuneigung zu bekommen. In der Kombination von Selbstzweifeln und Misstrauen in andere empfinden wir uns in einer hoffnungslosen Situation, in der uns alles sinn- und nutzlos erscheint.

Auch wenn wir uns zeitweilig in allen vier Grundpositionen erleben können, so werden wir möglicherweise dennoch entdecken, dass uns eine der Positionen vertrauter erscheint, wir diese Position häufiger bzw. intensiver einnehmen als die anderen Positionen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir diese Position im Konfliktfall einnehmen, wenn das Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere in Frage gestellt werden. Pauschale Einschätzungen wie: «Im Grossen und Ganzen habe ich schon genügend Selbstvertrauen und Vertrauen in andere» sollten vermieden werden, denn sie sind wertlos, da sie die tatsächliche Situation tröstend verschleiern. Besser ist es, sich zu fragen: «In welchen spezifischen Situationen, im Zusammenhang mit welchen Personen, fühle ich mich besonders stark und fähig?» bzw. «Wann schwindet mein Vertrauen schlagartig?» Antworten auf diese Fragen bringen uns vermutlich weiter, weil sie näher an die Ursachen für Vertrauenseinbrüche führen.

Mit diesem Artikel ging es mir darum, ein differenziertes Verständnis zum vielschichtigen Begriff des Vertrauens zu entwickeln. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass der Weg zu vertrauensvollen Beziehungen kaum über das Einüben von neuen Verhaltensweisen gelingen kann. Vielmehr braucht es dazu Bewusstsein, Entschiedenheit und – vor allem – die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, den eigenen Prägungen und Mustern. Dies bedeutet ein Investieren in persönliches Wachstum. Für die persönliche Lebensführung ist es eine entscheidende Frage, ob ich aus dem Vertrauen und der Gelassenheit oder eher aus der Angst lebe. Zweiteres tendiert immer wieder dazu, sich Sicherheiten zu schaffen und die Kontrolle behalten zu wollen. Da Vertrauen in allen Lebensbereichen von höchster Bedeutung ist, könnte die Arbeit an sich selbst durchaus auch als ‘seelische Vermögensbildung’ aufgefasst werden.
Literaturverzeichnis
Längle A (2009): Lernskriptum zur Existenzanalyse – die 1. Grundmotivation. GLE-International, Wien
Längle A / Bürgi D (2014): Existentielles Coaching. Facultas Verlag, Wien
Längle A (2013): Lehrbuch zur Existenzanalyse – Grundlagen. Facultas Verlag, Wien
Marti S (2019): Herausforderung Selbstführung. Eigenverlag, Winterthur
Marti S (2019): Toolbox Führung, 13. Auflage. Eigenverlag, Winterthur
Marti S (2020): Kompetent und wirkungsvoll Wandel gestalten. Eigenverlag, Winterthur
Schibalski B (1984): Persönlichkeitsentwicklung und Organisationsziele. In: Zeitschrift für Transaktionsanalyse. Junfermann Verlag, Paderbron
Schibalski B (1989): Transaktionsanalytische Ansätze der Führungskräfte-Entwicklung. In: Zeitschrift für Transaktionsanalyse. Junfermann Verlag, Paderbron
Schlegel L (2002): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse. 2. Auflage. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau
Stewart I / Joines V (1990): Die Transaktionsanalyse. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau
Stefan Marti
Freiberuflicher Organisationsberater und Coach bso
Dipl. phil. II. Naturwissenschaftliches und ökonomisches Studium
Mehrjährige Aus- und Fortbildungen in systemischer Beratung, Transaktionsanalyse und Existenzanalyse
Arbeitsschwerpunkte: Organisations-, Team- und Führungsentwicklung, Supervision, Persönlichkeitsentwicklung, Coaching und persönliche Wegbegleitung
Dozent an der Kalaidos Fachhochschule in Organisationsentwicklung und Führung
Buchautor
www.st-marti.ch
info@st-marti.ch
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artikelfebruar2023

Vertrauen in die eigene Kraft

// Autorin: Eva Bobst //
Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei beeinträchtigten Lernprozessen in der Schule.
In meiner langjährigen Tätigkeit als schulische Heilpädagogin arbeite ich auch mit Kindern mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gearbeitet. Diese Kinder in ihrer Kommunikation zu unterstützen und sie zu einer guten Selbstwirksamkeit zu führen sind mir wichtige Ziele. Selbstwirksamkeit setzt Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in die Beziehung zu den Bezugspersonen voraus. Als integrativ arbeitende Heilpädagogin in der Regelschule halte ich mich auch an den Lehrplan 21, wenn ich den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung als Schwerpunkt in meiner pädagogischen Arbeit setze.

Im Folgenden beschreibe ich, wie ich mit den TA-Konzepten der Vertragsarbeit, des funktionalen Ich-Zustandsmodells und des Functional-Fluency Modells Vertrauen und Selbstwirksamkeit bei den Schulkindern fördere Im Weiteren zeige ich auf, wie ich diese TA-Konzepte mit der Marte-Meo-Methode und dem TEACCH-Ansatz verbinde.
Lehrplan 21
Der Aufbau einer Beziehung, die von gegenseitigem Vertrauen gekennzeichnet ist, erscheint im Schulalltag grundlegend für die Arbeit der Lehrpersonen mit Schülerinnen und Schülern. So finden sich auch in der Einleitung zum Lehrplan 21 die Schlüsselwörter «Vertrauen» und «Selbstwirksamkeit».

«Mit der Ausrichtung an Kompetenzen geht der Lehrplan 21 über die Formulierung von stoffinhaltlichen Vorgaben hinaus.» «Die Facetten von Kompetenzen sind sowohl fachlicher als auch überfachlicher Natur.» « Mit überfachlichen Kompetenzen ist jenes Wissen und Können gemeint, das über die Fachbereiche hinweg für das Lernen in und ausserhalb der Schule eine wichtige Rolle spielt.»
Neben den Kompetenzen werden auch die Rolle des Lehrers und des Schülers in der Einleitung festgehalten. «Auch in einem Unterricht, der sich am Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen orientiert, sind Lehrpersonen absolut zentral.» «Dabei ist eine Beziehung zwischen Lehrperson und Kind, die auf persönlicher Zuwendung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen basiert, grundlegend.»
«Durch den Aufbau eines Repertoires von Lernstrategien und der Fähigkeit, ihr Lernen zu reflektieren, erfahren sich Schülerinnen und Schüler idealerweise als zunehmend kompetent und handlungsfähig (selbstwirksam)…»(1)
Vertrauen als Voraussetzung der pädagogischen Arbeit
Im Zentrum der pädagogischen Arbeit steht eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern. Dies gilt sowohl für Kinder und Jugendliche im Regelschulbereich als auch für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. In einem integrativen Schulmodell profitieren alle Kinder von der erhöhten Aufmerksamkeit und Kompetenz der Lehrpersonen und der Heilpädagogen und Heilpädagoginnen. Lernprozesse werden in diesem Rahmen sorgfältig und bewusst gestaltet.

Besonders anspruchsvoll ist der Aufbau einer Beziehung zu Schülerinnen und Schülern mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung. Darunter versteht man eine neurologische Störung, die tiefgreifende Entwicklungsstörungen betreffen kann. Diese Entwicklungsstörungen können unterschiedlich stark und in unterschiedlichen Formen auftreten. Menschen aus dem Autismus-Spektrum weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Diese betreffen den Kernbereich der Funktionsstörung, die sogenannte Symptom-Triade:
Beeinträchtigung in der sozialen
Interaktion
Beeinträchtigung in der Kommunikation
Eingeschränkte und stereotype
Interessen und Aktivitäten

Zum Aufbau von Vertrauen bei Regelklassenschülern und im Besonderen bei Kindern mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung können sich neben den Konzepten der TA auch Konzepte von Marte Meo und der TECCH Ansatz als hilfreich erweisen.
Grundüberzeugungen der TA
Die wichtigste Überzeugung der TA besagt, dass die Menschen in Ordnung, okay (ok) sind. Daraus ergibt sich dann die +/ + Haltung, ich bin ok / du bist ok. Auf dieser vertrauensfördernden Haltung bauen die weiteren Grundüberzeugungen auf:
Jeder Mensch, jedes Kind kann entsprechen seiner angeborenen Fähigkeiten denken und ist folglich lern- und veränderungsfähig.
Jeder Mensch, jedes Kind kann im Rahmen seiner Möglichkeiten Entscheidungen treffen und die Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Die Grundlage der Arbeit mit TA sind klare Abmachungen (Verträge) und eine freie und offene Kommunikation. Dies dient in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern der konkreten Umsetzung der oben erwähnten Grundüberzeugungen.
Die Marte-Meo-Methode
Die Marte-Meo-Methode ist grundsätzliche eine videobasierte Beratungsmethode. Der Schüler oder die Schülerin wird im schulischen Umfeld oder auch zu Hause gefilmt. Die Marte Meo Therapeutin wählt dann kurze Sequenzen aus, die bezüglich der Zielsetzung (hier Selbstwirksamkeit) positive Verhaltensweisen des Schulkinds enthalten. Im sogenannten Review werden dem Schüler einzelne Filmsequenzen gezeigt, mit dem Ziel, dass er seine positiven Verhaltensweisen selbst wahrnehmen und würdigen kann.
Die Haltung von Marte Meo lässt sich neben der eigentlichen Beratung von Lehrpersonen, Eltern und Schülern auch auf die tägliche Arbeit mit den Schulkindern anwenden. Einzelne Handlungen (Initiativen) der Kinder werden benannt. Unter Handlung (Initiative) wird eine beobachtbare Aktion einer Person verstanden. Als Lehrperson oder Heilpädagogin „benenne“ ich dann diese Handlung oder Initiative. Ich teile meine Beobachtung ohne Interpretation mit. Auf dieses Weise erhalten die Kinder Worte und Bestätigung für ihre Handlung. Sie fühlen sich wahrgenommen und ihre kommunikativen Fähigkeiten werden erweitert. Es können auch Handlungen von anderen Personen (Mitschülern, Lehrpersonen) benannt werden, was wiederum zur Verbesserung der Kommunikation beiträgt.
Die gute Kommunikation dient dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen den Schülern/Schülerinnen und den Lehrpersonen/Heilpädagogen. Die pädagogischen Fachpersonen sind verantwortlich für den Aufbau und die Aufrechterhaltung dieses positiven Kontakts. Ganz im Sinne der humanistischen Psychologie steht hinter Marte Meo die Grundüberzeugung, dass alle Kinder und damit auch Kinder mit speziellen Bedürfnissen grundsätzlich gut sind und soziales Lernen gefördert werden kann. Die guten Handlungsmöglichkeiten werden benannt und weiterentwickelt. In der Bezeichnung „Marte Meo“ vom lateinischen „aus eigener Kraft“ kommt im Weiteren zum Ausdruck, dass die Eigenverantwortung der Kinder gestärkt wird.
TA: Die funktionelle Analyse der Ich-Zustände
Ein grundlegendes Konzept der Transaktionsanalyse ist das Ich-Zustandsmodell. Es werden drei Ich-Zustände definiert: EL (Eltern-Ich), ER (Erwachsenen-Ich) und K (Kind-Ich). Diese drei Ausdrücke werden wie Etiketten verwendet, um die drei unterschiedlichen Komplexe von Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen zu benennen, welche die menschliche Persönlichkeit ausmachen. Im Funktionsmodell wird beschrieben, wie sich diese drei Ich-Zustände jeweils im Verhalten beobachten lassen. Der Erwachsenen-Ich Zustand entspricht einem Verhalten, Denken und Fühlen, das im Hier und Jetzt begründet ist. Der Eltern-Ich Zustand wird in zwei Aspekte unterteilt, einerseits das kritische Eltern-Ich und andererseits das fürsorgliche oder auch nährende Eltern-Ich. Beim Kind-Ich unterscheidet man auch zwei Ausprägungen, nämlich das angepasste Kind-Ich und das freie Kind-Ich. Jeder Mensch befindet sich immer in einem dieser Ich-Zustände und bewegt sich, oft ohne es zu bemerken, von einem in den anderen Ich-Zustand.

Während der Erwachsenen-Ich Zustand neutral bleibt, können sowohl der kritische und der fürsorgliche Eltern-Ich Zustand als auch der Ich-Zustand des angepassten und des freien Kindes positive und negative Aspekte aufweisen. Dies beschreibt Susanne Tempel im „Funktional-Fluency-Model“ sehr anschaulich.
TA: Das Functional-Fluency-Modell
Susanne Temple hat auf der Grundlage des Ich-Zustandsmodells ein entsprechendes Konzept des menschlichen Handelns entworfen, das „Functional-Fuency-Modell“. Dieses eignet sich gut, um aufzuzeigen, wie sich pädagogische Prozesse mit der Besetzung des ER steuern lassen.

An die Stelle des ER tritt der „Accounting-Modus“. Das Wort „Accounting“ lässt sich nicht eins zu eins auf deutsch übersetzen. Es kann umschrieben werden mit analysieren, prüfen, vermitteln/übermitteln. Damit wird betont, dass in diesem Modus die Transaktionen, die in einem Lernprozess ablaufen von der pädagogischen Fachperson verarbeitet und daraus pädagogische Interventionen abgeleitet werden. Der Modus der Kontrolle entspricht dem kritischen EL, jener der Fürsorge dem fürsorglichen EL. Der Modus des sozialen Selbst entspricht dem angepassten Kind und das natürliche Selbst dem freien Kind. Ziel der pädagogischen Interventionen ist es dabei, dass die Heilpädagogin in erster Linie den Accounting-Modus besetzt und aus diesem Modus dann entweder den Modus der positiven Kontrolle oder der positiven Fürsorge wählt. So wird der Schüler oder die Schülerin eingeladen, ihrerseits ihr Verhalten mit dem Accounting-Modus zu kontrollieren und jeweils die positiven Aspekte der übrigen Modi anzusteuern.

– Beispiel für die Arbeit mit dem Functional-Fluency-Modell und mit der Marte-Meo-Methode –
Die Arbeit mit den Prinzipien von Marte Meo lässt sich gut anhand des „Functional-Fluency-Modells“ illustrieren. In meiner Rolle als Heilpädagogin besetze ich den Accounting-Modus und beginne den Unterricht mit positiver Fürsorge (freundliche Begrüssung, Smalltalk). Damit baue ich Kontakt auf und schaffe eine gute Atmosphäre. Durch das Benennen der Handlungen des Schülers bleibe ich in der Rolle der neutralen Beobachterin (Accounting Modus) und im nährenden Modus. Das Kind fühlt sich beachtet und gesehen. Im nächsten Schritt (Positive Kontrolle) strukturiere und leite ich das Unterrichtsgeschehen, indem ich Fragen zum Lernprozess stelle:
Was machst du? Wann machst du das? Wozu ist das gut? Bei neuen Lerninhalten können auf diese Weise auch Instruktionen gegeben werden.
Für die Schülerin Elisa mit der Diagnose einer Autismus Spektrum Störung war es auch im 6. Schuljahr noch schwierig in der Mathematik Aufgaben zur Proportionalität zu lösen. Bei der Besprechung der Hausaufgaben zum Thema „Berechnen von Preisen“ habe ich zuerst die Handlung benannt, die sie zu Hause gemacht hat. Ich sagte ihr: „Du hast hier die Zahlen aus dem Buch untereinander ins Heft geschrieben.“ Dann habe ich Elisa anhand der drei Fragen (was, wann, wozu) gebeten zu erklären, wie sie die Aufgabe gelöst hat. Sie hatte eine gute Lösung gefunden, um mit dem separaten Berechnen der Franken- und dann der Rappenbeträge die zusätzliche Schwierigkeit des Dezimalsystems zu meistern und zu einem Resultat zu gelangen. Dass sie ihr Vorgehen genau erklären konnte (Accounting Modus), war für sie sehr motivierend. Sie war in diesem Moment ganz in ihrem positiven natürlichen Selbst und benötigte keine zusätzliche Bestätigung, ausser einem freundlichen Blickkontakt und „Daumen nach oben“.
Diesen hier beschriebenen Filmausschnitt habe ich in einem Review mit der Schülerin angeschaut und besprochen. In der Regel führe ich die meisten Unterrichtsgespräche auf diese Weise, indem ich die Handlungen der Kinder benenne und W-Fragen stelle. So arbeite ich auch, wenn ich nicht filme und ein kein Review plane.
Der TEACCH Ansatz
TEACCH ist ein pädagogisch-therapeutischer Ansatz, ein umfassendes Konzept zur Förderung von Menschen mit Autismus. Das Konzept entstand als staatliches Programm zur Förderung und Begleitung von Menschen mit Autismus im Staat North Caroline in den USA. Das Programm bietet Hilfen im pädagogischen Bereich und stellt das gegenseitige Lernen und Verstehen in den Vordergrund. Es geht darum Lernsituationen zu schaffen, die der Art und Weise entgegenkommen, wie Menschen mit Autismus lernen und verstehen. Die pädagogische Arbeit wird durch die Erkenntnis geleitet, dass Menschen mit Autismus von klar strukturierten Situationen und visueller Unterstützung profitieren. Ziel der Strukturierung ist die Vermittlung von Informationen, die für die Bewältigung einer Lernsituation relevant sind. Das Kind soll sein Handeln möglichst selbständig organisieren können. Instrumente können Zeit- und Arbeitspläne, räumliche Markierungen, visuelle Hilfen und Vermittlung von Routinen sein. Anhand der Zeit- und Arbeitspläne kann die Schülerin auch in die Planung einbezogen werden. Ziele werden transparent gemacht und können abgesprochen und nach Bedarf auch der Schülerin angepasst werden. Dies ist eine konkrete und anschauliche Möglichkeit Verträge zwischen Schülerin und Heilpädagogin im Sinn der TA abzuschliessen.
TA: Vertragsarbeit
Das Fundament der Arbeit mit TA ist die Vertragsarbeit. Dies gilt auch für den pädagogischen Bereich. Das Ziel besteht darin ein Arbeitsverhältnis zwischen Schüler und Lehrperson aufzubauen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Es soll Klarheit darüber hergestellt werden, woran gemeinsam gearbeitet wird. Dies ist wichtig, da schulisches Lernen von Schüler und Schülerinnen oft als von aussen aufgezwungen wahrgenommen wird.
Die Vertragsarbeit gemäss TA kann mit Hilfe von Lernverträgen in allen schulischen Situationen angewendet werden: für kurze Unterrichtsequenzen, für einzelne Lektionen, für Lektionsreihen, für ein ganzes Schuljahr und für den Erwerb von fachlichen wie auch überfachlichen Kompetenzen.
Für eine effiziente Vertragsarbeit gilt es einige Punkte zu beachten: Ein Vertragsziel soll in positiven Worten formuliert sein und klare Handlungsanweisungen enthalten. Das Ziel soll vom Schüler aus eigener Kraft erreichbar und die Zielerreichung soll einfach zu erkennen und zu beobachten sein. Daraus ergibt sich, dass Ziele überprüft und wenn nötig durch einen neuen Vertrag auch angepasst werden können.

Ein wichtiger Aspekt der Vertragsarbeit ist die Stärkung des ER (Funktionsmodell) oder des Accountig-Modus (Functional fluency model) beim Schüler oder der Schülerin. Das Wählen, Analysieren und Prüfen von Zielen ermöglicht dem Schulkind die Erfahrung der Selbstwirksamkeit.

– Beispiel für die Arbeit mit Verträgen nach TA und dem TEACCH Ansatz –
Mit Elisa wurde der Beginn der Lektion oft auf die gleiche Art gestaltet. Die verschiedenen Arbeitsaufgaben lagen auf einem Tisch bereit und waren mit Kärtchen gekennzeichnet. Ich stellte die einzelnen Arbeiten vor und sprach mit Elisa ab, wie viele Aufgaben sie pro Lerneinheit lösen wolle, oder wie lange sie eine Aufgabe bearbeiten wolle. Zusätzlich konnte Elisa auch die Reihenfolge der Arbeitsaufgaben wählen. Nach Möglichkeit erhielt Elisa auch Vorlagen, damit sie die Aufgaben selbst korrigieren konnte. Während der Arbeitsphase hielt ich mich Hintergrund, war aber auf Anfrage für Hilfestellungen verfügbar. Am Ende der Lektion wurde besprochen, wie die Arbeit vorangegangen war und ob es noch Fragen gab. Dann wurde abgemacht, wie es weiter geht. Ob nochmals eine Aufgabe durchgearbeitet werden sollte, oder ob es in der nächsten Lektion neue Aufgaben brauchen würde.
Zusätzlich wurden die Arbeitsaufgaben auch gemäss dem TEACCH-Ansatz gestaltet:
Tablettaufgaben: Auf Tabletts wird der Arbeitsplatz strukturiert. Alle zur Lösung der Aufgabe nötigen Materialen befinden sich auf dem Tablett.
Sortierkisten: Rechnungsaufgaben werden in die Fächer mit dem passenden Resultat abgelegt. Das gleiche Prinzip kann mit Wörtern, Sätzen und Gegenständen angewendet werden.
Arbeitsmappen mit visuellen Hilfen

Die Schülerin Elisa, die während 6 Schuljahren von mir betreut wurde, erlangte im Laufe der Jahre eine grosse Selbständigkeit. Die Vertragsarbeit half ihr sich eigene Ziele zu setzen. Die Arbeitsinstrumente nach TEACCH unterstützten sie bei der Arbeitsorganisation und dem Überprüfen der Zielerreichung.
Hilf mir, es selbst zu tun!
„Hilf mir, es selbst zu tun!“ Dies war die pädagogische Leitlinie, welche die Reformpädagogin Maria Montessori (1870-1952) für die Bildung der Kinder aufstellte. Schüler und Schülerinnen sollen sich gemäss Lehrplan 21 als zunehmend handlungsfähig (selbstwirksam) erleben. Um ihre Selbstwirksamkeit aufzubauen, brauchen die Kinder in der Schule Vertrauen. Sie brauchen Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in der Beziehung zu den Lehrpersonen und Heilpädagogen.
Das positive Menschenbild, die +/+ Haltung und weitere Konzepte der TA bilden für mich eine gute Grundlage, um mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen an ihrer Selbstwirksamkeit zu arbeiten. Zusätzlich finde ich auch in der Marte Meo Methode und dem TEACCH Ansatz diese positive Grundhaltung. Das heisst, die Arbeit mit dem Kind beginnt an jener Stelle, an der seine Stärken und der eigene Antrieb liegen, von dort aus führt der Weg weiter.
Literaturverzeichnis
Hawellek, Christian (2012). Entwicklungsperspektiven öffnen. Grundlagen beobachtungsgeleiteter Beratung nach der Marte-Meo-Methode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Häussler, Anne (2008). Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus. Dortmund: modernes lernen
Into TA. A Comprehensive Textbook on Transactional Analysis (2018). Edited by Cornell, William F. et al.; London, New York: Routledge
Stewart, Ian; Joines Vann (2000). Die Transaktionsanalyse. Freiburg: Herder
Fussnoten
1. Lehrplan 21: Grundlagen / Lern- und Unterrichtsverständnis - fr.lehrplan.ch/index.php?code=e|200|2
Eva Bobst
Schulische Heilpädagogin
Transaktionsanalytikerin CTA-E
Marte-Meo-Therapeutin
eva.bobst@bluewin.ch
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