artikelmai2022

Der Körper als Kompass in der Beratung

// Autorin: Rahel Marti //
Als Schulsozialarbeiterin, Bewegungspädagogin und psychosoziale Beraterin gebe ich in unterschiedlichen Kontexten Impulse, um die Verbindung von Körperwahrnehmung und Aufmerksamkeitslenkung kennen zu lernen. Meine Schwerpunkte in den Einzelberatungen und Klasseninterventionen sind bei sich ankommen, sich selbst im Körper, in den Gedanken und den Gefühlen wahrzunehmen, Verbundenheit - in Bezug zu sich selbst.
In diesem Artikel zeige ich anhand verschiedener Beispiele aus der Praxis auf, wie ich eine Einladung gestalte, um die erwähnte Verbindung zum Körper, zu den Gedanken und zu den Gefühlen aufzubauen und wie Kinder und Jugendliche daraus Selbstkompetenzen entwickeln. Aus diesen Beispielen leite ich aus transaktionsanalytischer Sicht den Bezug zum Autonomiemodell von Eric Berne her. Dieses Modell ist für mich Kompass in der Begleitung von Menschen jeden Alters.
Die Definition des Autonomiemodells nach Eric Berne:
Autonomie als ein Ziel von persönlichen Entwicklungsprozessen. Diese zeigt sich durch das Freiwerden oder Wiedergewinnen von drei seelischen Vermögen: Bewusstheit, Spontaneität und Intimität.
1. Bewusstheit definiert er als Fähigkeit, sich und seine Umgebung aufmerksam und mit allen Sinnen wahrzunehmen.
2. Spontanität als ein Reagieren mit Wahlmöglichkeiten auf das Hier und Jetzt, ohne in unbewusst übernommene einschränkende Verhaltens- oder Denkmuster zu fallen.
3. Intimität hat für ihn zwei Bedeutungsebenen Erstens als eine Möglichkeit, wie Menschen zusammen Zeit verbringen. Zweitens ist Intimität eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.
Wenn der Körper in der Schule ankommt
Der Körper wird als Referenz im schulischen Kontext wenig angesprochen. Vielmehr ist der Verstand, das Abrufen und Vernetzen von Informationen auf der intellektuellen Ebene gefragt. Bei Streit, Angst, Unsicherheit ist ein Hinwenden an diese körperlichen Empfindungen, die Gedanken und die Gefühle die damit einher gehen, hilfreich. Das Kind anzuleiten und ihm in diesen anspruchsvollen Situationen eine Anleitung anzubieten, die es ihm erlaubt, mit sich und all dem was sich gerade in diesem Moment zeigt in Kontakt zu kommen, soweit es geht. Ich verwende dazu das Modell der oszillierenden Aufmerksamkeit und leite das Kind an die Körperempfindung wahrzunehmen, die Gedanken die jetzt gerade da sind und das Gefühl zur jetzigen Situation (siehe Abbildung).
Mit einer weiten, freundlichen Haltung lade ich in der achtsamen Körperwahrnehmung ein, mit der Aufmerksamkeit hin und her zu pendeln und diese Zwischenleiblichkeit bewusst zu erkunden. Die liegende Acht symbolisiert die Fähigkeit, mit sich selbst gut verankert zu sein, wie auch sich mit der Umgebung verbunden zu fühlen. Bezogen auf das Autonomiemodell: Intimität ist eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein.

Unsere Aufmerksamkeit pendelt zwischen Reizen und Phänomenen die im Innern unseres Körpers wahrnehmbar sind und der äusseren Fülle von Informationen und Reizen denen wir ausgesetzt sind. Unsere Aufmerksamkeit pendelt natürlicherweise hin und her. – Wenn wir uns dessen gewahr werden und mit unserer Aufmerksamkeit bewusst dem Oszillieren von Innen nach Aussen und umgekehrt folgen, wird die Fähigkeit bei sich und im Kontakt zu sein gefördert.

In Klassen leite ich eine Aufmerksamkeitslenkung beispielsweise wie folgt an. Ich bitte die Kinder ihre Augen zu schliessen. Danach teile ich mit, dass ich die Fenster öffne und sie sich darauf konzentrieren, welche Geräusche, Töne, Stimmen von Aussen zu ihnen gelangen. Wenn sie drei verschiedene Geräusche wahrgenommen haben, dürfen sie die Arme kreuzen. Wenn alle die Arme gekreuzt haben, weiss ich, dass die Aufgabe durchgeführt wurde. Die Kinder öffnen die Augen wieder und ich frage nach, was sie gehört haben, welche Gefühle, Gedanken und körperliche Empfindungen diese Übung hervorgerufen hat. Die Kinder nennen Gleiches und Unterschiedliches. Oft lade ich sie dazu ein, sich mit einer Decke als Unterlage auf den Boden zu legen. Um die Körperwahrnehmung zu vertiefen erhalten die Kinder ein kleines warmes Kissen, welches sie sich auf eine Körperstelle legen können. Es ist für die meisten Kinder angenehm ein warmes Kissen zu erhalten. Sie dürfen das Angebot auch ablehnen.

Anschliessend leite ich mit einer Körpereise dazu an, den Körper von Innen her wahrzunehmen. Es gibt nichts zu leisten und es gibt kein richtig oder falsch. Die Haltung zur Körperwahrnehmungsübung ist liebevoll, wertfrei und neugierig offen für das was im Moment wahrnehmbar ist. Spüren ist ein Weg in Verbindung mit sich selbst zu kommen.1

1 Eine Audioanleitung finden Sie auf: www.rahelmarti.ch


Auch im Einzelsetting wende ich diese Form der Aufmerksamkeitslenkung an. Beispielsweise bei einem Jugendlichen der mit seinem Anliegen in die Beratung kommt.

Ralf ist 14 Jahre alt, kommt mit dem Wunsch nach Unterstützung seine Vorträge besser vortragen zu können. Er ist immer sehr nervös und unsicher, was ihm verunmöglicht sein Wissen und Können zu zeigen. Ich lade Ralf ein, sich in die Situation hinein zu versetzen. Er steht also vor mir und wird den Vortrag halten. Bereits beginnt seine Nervosität, welche in seiner Stimme, schwitzenden Händen und in einer Errötung im Gesicht erkennbar wird. Ralf bemerkt seine schwitzenden Hände, die zittrige Stimme und er ahnt, dass sein Gesicht errötet. Hier beginnt meine Führung. Ich rege die Aussensinne an und lade ein, die Farben im Raum wahrzunehmen. Sein Gewicht von einem Bein auf das andere zu verschieben. Ich lade ihn ein, diese Anregungen zu wiederholen: welche Gefühle tauchen auf, was sind die Gedanken dazu, wie ist die Körperempfindung? Dies ist ein Prozess des In-sich-hinein-Lauschens, der Selbstwahrnehmung; er erlaubt einen Moment Abstand zu nehmen von der Identifizierung mit der Nervosität und der Unsicherheit. In den drei Beratungen erforschen Ralf und ich, was in der konkreten Situation anwendbar ist. Ich lade ihn immer wieder ein, sich zu spüren und bewusst zu machen was er in den Gedanken, den Gefühlen und der Körperempfindung wahrnimmt. Ralf übt für sich und macht sich Notizen bis zur nächsten Beratung.

„Ja, das fühlt sich gut an, so klappt es!“ sagt er. Das Verschieben des Körpergewichts von einem Bein auf das andere ist für Ralf gut wahrnehmbar, er kann während dem Vortrag mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit der Gewichtsverlagerung folgen. Er sagt, dass er mehr bei sich bleibt, seine Beine spürt und dies beruhigt und zentriert ihn, so dass sein Gefühl der Unsicherheit und die Nervosität weniger Raum einnimmt. Ralf nimmt über den Körper wahr wie sich seine Anspannung lindert, er seine Gedanken bündeln kann und sich ein Gefühl der Ruhe ausbreitet. Für die konkrete Situation hat er sich eine innere Referenz erarbeitet, die er in sich trägt und jederzeit anwenden kann.

Dieses Sich-spüren und Wahrnehmen fördert die Verbundenheit von Innen nach Aussen, im Hier und Jetzt und in einem guten Kontakt mit sich selbst zu sein.
Eric Berne erläutert dies im Autonomiemodell wie folgt:
Bewusstheit definiert er als Fähigkeit, sich und seine Umgebung aufmerksam und mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Spontanität als ein Reagieren mit Wahlmöglichkeiten auf das Hier und Jetzt, ohne in unbewusst übernommene einschränkende Verhaltens- oder Denkmuster zu fallen.


Das Modell der oszillierenden Aufmerksamkeit zeigt die drei Räume der Aufmerksamkeitslenkung auf: die Gedanken, die Gefühle und die Empfindungen. Durch die Aufmerksamkeitslenkung erforschen wir diese drei Räume und entwickeln Bewusstheit über diese Bereiche.
Spüren ist ein Weg in Verbindung mit sich selbst zu kommen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene welche sich in ihrem Körper aufgehoben fühlen und einen wertfreien Zugang zu ihren Gefühlen erarbeiten, wachsen in ihrer Persönlichkeit zu einem Selbstverständnis (sich selbst verstehen) und damit verbunden in ein Selbstbewusstsein hinein. Mit sich, den eigenen Empfindungen und Gefühlen verbunden zu sein, unterstützt die Zugehörigkeit im Klassenkontext und somit die Verbundenheit zum Ich, zum Du und zum Wir. Ich beziehe mich hier erneut auf das Autonomiemodell. Eric Berne differenziert zwei Ebenen der Intimität:
Erstens als eine Möglichkeit, wie Menschen zusammen Zeit verbringen.
Zweitens ist Intimität eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.

Wenn ich über einen längeren Zeitraum mit einer Klasse und den Lehrpersonen zusammenarbeiten darf, wächst in der Zusammenarbeit eine Offenheit, welche es erlaubt sich selbst auf der Ebene des Körpers, der Gedanken und der Gefühle wahrzunehmen. Die Haltung die sich daraus entfaltet ist geprägt von Flexibilität. Damit erweitern sich die Möglichkeiten, vielfältig und angemessen auf unterschiedliche Situationen zu reagieren.




Wenn Gefühle begrüsst werden, sind sie eine konkrete Ressource
In den Unterrichtslektionen wende ich unterschiedliche Methoden an. „Fragesnacks“ zum Beispiel sind Fragen, welche auf Zettel geschrieben sind und in einer kleinen Dose versorgt sind. Ergänzend dazu lege ich die zum Buch „Heute bin ich“ gehörigen Fischkarten aus. Sie zeigen verschiedene Gefühle, und diese sind am ganzen Fischkörper sichtbar. Gefühle sind im ganzen Körper wahrnehmbar, die Fischkarten zeigen dies sehr schön auf, die Kinder können einen Bezug zu ihrer Körperempfindung machen.
Ich sitze mit den Kindern am Boden im Kreis und der Reihe nach kann jedes Kind einen Fragesnack aus der Dose ziehen und diesen der Gruppe laut vorlesen. Je nach Alter der Kinder lese ich den Fragesnack vor. Achtsame dialogische Haltung der Erwachsenen bildet den sicheren Rahmen.


© Rahel Marti: Bleistift Zeichnungen von Kindern: „Wie siehst du aus, wenn du traurig bist, eine Heldin bist, Freude hast?“
Fragesnack: „Wie spürst du im Körper,
dass du wütend bist?“
Antworten: „Meine Muskeln werden ganz fest“,
„Ich mache die Faust“,
„Ich merke die Wut im Bauch“.
Fragesnack: „Merkst du, wenn eine Mitschülerin,
ein Mitschüler traurig ist?“
Antworten: „Ja, ich sehe es an den Augen“,
„Ich merke es an der Stimme“, „Ich bemerke, dass er
oder sie im Kreis ganz still ist“.
Fragesnack: „Wie atmest du, wenn du Angst hast?“
Antworten: „Ich halte den Atem an“, „Ich atme
ganz leise“, „Ich halte mir die Hand vor den
Mund und die Nase“.
Fragesnack: „Was geschieht mit deinem Gesicht,
wenn du freudig bist?“
Antworten: „Ich lache“, „Die Muskeln ziehen
nach oben“, „Es wird hell im Gesicht“.
Fragesnack: „Was machst du, wenn es dir
langweilig ist?“
Antworten: „Ich esse etwas“, „Ich sage Mama, dass
es mir langweilig ist“, „Ich nerve meine Schwester“.


Kinder und Jugendliche erfahren voneinander, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind. Dies gibt eine Verbundenheit und eine Freiheit sich mit seinen Gefühlen zu zeigen, darüber zu reden und einander Fragen zu stellen.
© Rahel Marti: Fragesnacks Zettel, die Fischkarten aus dem Buch: Heute bin ich
Kleinere Kinder fühlen sich manchmal allein mit dem Thema Angst. Mit der Angstberatung erfahren sie in der Kleingruppe, dass sie nicht allein sind und dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt damit umzugehen.
Mit offenen Fragen leite ich in das Thema ein.
Manchmal hat man Angst. Kennst du dieses Gefühl?
Kannst du es beschreiben?
Wie fühlt sich Angst in deinem Körper an?
Wo spürst du sie?
Wovor hast du Angst?
Was hilft dir, wenn du Angst hast?

Die Angst nicht leugnen oder überspielen, sondern sie ernst nehmen ohne sich von ihr vereinnahmen zu lassen unterstützt die Kinder darin abzuwägen, ob sie eine Herausforderung annehmen wollen oder nicht und welche Unterstützung sie dazu brauchen.
Die Kinder unterstützen sich gegenseitig, und die Erkenntnis, dass man mit der Angst nicht alleine ist, schafft Verständnis und Verbundenheit in der Gruppe. Emotionsregulation wird so in der Peergroup entwickelt, und im Schulalltag können die Kinder und Jugendlichen einander Erinnerungshilfen anbieten. So wird der Umgang mit Emotionen alltäglich und im Sinne von Akzeptanz selbstverständlich. Wir haben Gefühle, sie kommen und gehen.



Auf der Handlungseben zeigt sich dies zum Beispiel so: In einer Klassenintervention in der Oberstufe kristallisiert sich heraus, dass zwei Jugendliche, Noel und Jannis, immer wieder heftige Kämpfe miteinander haben. Es beginnt mit Spass und endet ernst in einem handfesten Kampf. Beide haben bereits disziplinarische Massnahmen von der Schulleitung erhalten, einen Verweis und die Androhung von einem schulischen Ausschluss.
Als Schulsozialarbeiterin habe ich mit der Einwilligung von Jannis und Noel entschieden, dass ich die Thematik mit der Klasse bearbeiten möchte. Ziel ist es, dass Jannis und Noel aus Sicht der Kolleginnen und Kollegen Feedback und falls möglich Support erhalten. Die Jungs werden also ihre Situation der Klasse mitteilen. Hier ist es wesentlich, die Autonomie der beiden zu wahren, weshalb sie ihre Situation der Klasse gegenüber mit ihren eigenen Worten schildern. Die Klasse sitzt im Kreis und ich gebe den Anlass der Besprechung bekannt, indem ich informiere, dass die beiden Jungs im Rahmen eines Disziplinarverfahrens bei mir in der Beratung sind und nun die Klasse als Unterstützung angefragt wird. Jannis und Noel erläutern ihre Situation. Dies ist ein wichtiger Schritt, obwohl alle in der Klasse um die Thematik wissen, wird diese hier transparent und somit für alle ansprechbar gemacht. Jannis und Noel, oft als die Coolen gesehen, erzählen, wie es ihnen in dieser Situation wirklich geht. Einer der beiden hat dies wie folgt formuliert:

„Also, ja ihr wisst ja, ich habe viel Puff mit Jannis und er mit mir. Und ja, ich habe einen Verweis, und wenn ich das jetzt nicht packe, bekomme ich einen Ausschluss. Das ist für mich nicht gut, da ich eine Lehrstelle finden will, so geht das nicht.“ Auch Jannis teilt seine Situation mit: „Ich habe seit dem Verweis nur noch Streit zu Hause und ich habe Angst, dass ich mich selbst nicht unter Kontrolle bringen kann.“
Die Klasse hört aufmerksam zu. Ich frage, ob sie noch Verständnisfragen haben. Es ist allen klar, worum es geht. Die Verbundenheit ist jetzt spürbar im Raum. Danach geht es weiter mit der Bitte an die Klasse, welche wir im Einzelsetting ausgearbeitet haben. Auch hier sind Bewusstmachung im Sinne der Autonomie und Reflexion ein wesentlicher Teil der Beratung. Dies ist bedeutsam, da im schulischen Kontext das destruktive Verhalten im Umgang mit anspruchsvollen Emotionen oft abgelehnt und sanktioniert und kaum Unterstützung im Erlernen von Alternativen angeboten wird.

Die Jungs sprechen in dieser Phase von Stress, Wut und Angst. Die Zustände werden körperlich wahrgenommen als Unlust, Bauchweh, Kopfschmerzen und Schlafprobleme.
„Was könnte zur Entlastung helfen?“ war die Schlüsselfrage an Jannis und Noel:
mit dem Streit aufhören
sich auf einen gemeinsamen Umgang einigen
die Klasse als Unterstützung anfragen, da sie dies allein nicht schaffen.


Also, wir sind wieder in der Klasse und die beiden Jungs formulieren die Bitte an die Klasse:
„Könntet ihr uns helfen? Allein schaffen wir das nicht.“
Die Klasse ist bereit und es kommen diverse Angebote für Noel und Jannis.
Gruppenarbeiten so aufzuteilen, dass die beiden Jungs nicht zusammen arbeiten müssen
die Pause gemeinsam verbringen
auf dem Schulweg zusammen gehen


Noel und Jannis sind über das Engagement der Mitschülerinnen und Mitschülern gerührt, sie hatten nicht damit gerechnet. Ich gehe noch fokussierter auf die Problematik der Emotionsregulation ein, welche sich bei beiden zeigt. Die Mitschülerinnen und Mitschüler haben Tricks und Tipps für die Emotionsregulation:
weg gehen• tief einatmen
gegen eine Wand kicken
Wasser trinken.


Es kommen super Ideen zusammen. Die beiden Jungs erfahren, dass sie von der Klasse getragen werden. Ich formuliere dies der Klasse gegenüber und würdige ihre Verbundenheit und die Bereitschaft zur Unterstützung. Danach lade ich die Klasse zu Emotionsregulationsimpulsen ein. Dazu gehen wir alle hinaus auf den Pausenplatz.
Ich bitte die Jugendlichen sich auf diese Übungen einzulassen und sage, dass es ein kleines Experiment ist
langsam gehen
zweimal um das Schulhaus rennen
unterschiedliche Oberflächen berühren. Den Boden, das Gras, die Türklinke, den PingPong Tisch etc. und wahrnehmen wie sich diese anfühlen.


Danach gibt es eine kurze Pause. Für Jannis und Noel wird nun je jemand als „Bodyguard“ gewählt, um ihnen in den nächsten vier Wochen beizustehen und Support zu geben.
Die Begleitung durch mich findet wöchentlich statt und ich frage auch bei den Bodyguards regelmässig nach, wie sie die aktuelle Situation sehen. Nach Ablauf dieser vier Wochen hat sich der Konflikt beruhigt, es gibt weder Kämpfe zwischen Joel und Jannis noch sind weitere disziplinarische Massnahmen nötig. Jannis und Noel sind erleichtert. Jannis und Noel berichten, dass sich Entspannung und eine Beruhigung breit machen, körperlich wahrnehmbar im Kopf, im Nacken und in der Konzentrationsfähigkeit.
Jugendliche, die in anspruchsvollen Situationen von Gleichaltrigen und von Erwachsenen getragen und gehalten werden, erfahren Verbundenheit und Toleranz, wichtige Werte für ein Miteinander. Der Bezug zu Bernes Autonomiemodell: Intimität ist eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.


Mit der Methode der Aufmerksamkeitslenkung in der Beratung und in den Klassen werden folgende Sozialkompetenzen gefördert.
Kooperationsfähigkeit, durch die wertfreie Haltung sich selbst und anderen gegenüber.
Mitgefühl, durch die Offenheit und das Sich-erkennen im Anderen (Menschlichkeit).
Emotions- und Stressregulation, durch das Differenzieren des eigenen Erlebens.
Selbstakzeptanz, Selbstfürsorge, Selbstver­trauen.


Durch den Einbezug der Körperempfindungen, der Gedanken und der Gefühle, wird der Mensch in seiner Ganzheit angesprochen. Dieses Ansprechen auf allen drei Ebenen, wirkt verbindend nach innen mit sich selber und nach aussen im Kontakt mit anderen. Wird ein Mensch in der Beratung durch eine freundliche, wertfreie Einladung in seine Ganzheit geführt, ist Entfaltung in ein freies, autonomes Sein möglich. Wer mit sich selber verbunden ist, kann ganz im Sinne von Eric Berne autonom und frei mit sich und anderen im Kontakt sein.
Literaturverzeichnis
Anwendung der Transaktionsanalyse, Theorie und Praxis in der Schule, Thomas Meier-Winter, 1994, Verlag LCH
Achtsam bei sich und im Kontakt, Thea Rytz, 4. Auflage 2018, Verlag hogrefe
Papperla PEP, Körper und Gefühl im Dialog , Schulverlag plus
SEE-learning, soziales, emotionales und ethisches lernen, 2019, Emory University
Was wir sind und was wir sein könnten, Gerald Hüther, 9. Auflage 2012, Fischer Verlag
Heute bin ich, Mies van Hout, 2012, Aracari Verlag,
Rahel Marti
Praxis für Bewegung & Kommunikation
Beraterin im psychosozialen Bereich mit eidg. Diplom, HF
Transaktionsanalytikerin CTA-E
Dipl. Bewegungspädagogin, PSB
Schulsozialarbeiterin
Supervisorin BSO
Beraterin / Coach SGfB
info@rahelmarti.ch
www.rahelmarti.ch
078 881 79 59
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artikeljuni2022

Intuitive Transaktionsanalyse

// Autorin: Rebecca Petersen //
Mit dem Resilience Economy Model (REM) zurückfinden zur ursprünglichen Fähigkeit, unbedingt sich selbst zu sein - und dadurch Freiheit in Verbundenheit neu erleben und die Resilienz und das Vertrauen in die eigenen intuitiven Fähigkeiten stärken.
Unsere intuitiven Fähigkeiten sind bereits im Kindesalter vorhanden. Mit dem Schuleintritt und im Laufe des Erwachsenwerdens wird primär eine denkend-analytische Arbeitsweise vertieft und gefördert. Die intuitiven Fähigkeiten geraten dabei in Vergessenheit. Mit zunehmender Komplexität in Beruf und Privatleben fühlen sich viele Menschen vor grosse Herausforderungen gestellt. Es kann mit der Zeit ermüdend sein, allen Anforderungen gerecht werden zu wollen. Unsere Fähigkeit zur „gesunden“ Abgrenzung und Entscheidungsfindung wird getrübt und wir verlieren dabei das kindliche Empfinden der Leichtigkeit und Freiheit im „Unbedingt-sich-selbst-Sein“. Je nach Situation und Skriptmuster fällt es uns zudem schwer, auf unsere Bedürfnisse zu achten und der eigenen Gesundheit und unserem Wohlbefinden Sorge zu tragen. Es scheint schier unmöglich, aus dem Hamsterrad auszubrechen. Speziell in solchen Situationen können die eigenen intuitiven Fähigkeiten eine hilfreiche Ressource darstellen.

Henning und Pelz beschreiben drei Arten der Intuition. Die kindliche Intuition, welche nach Berne der Funktion im Kind-Ich dem „kleinen Professor (ER1)“ zugeordnet werden kann, die skriptgebundene Intuition als Folge der kindlichen Überlebens-Entscheidungen im Rahmen der Skriptbildung und die geschulte Intuition, auch Expertenintuition genannt. Diese ist eine Weiterentwicklung der kindlichen Fähigkeit durch Integration des Fachwissens und der Erfahrung1.

Berne selbst hat dem Thema Intuition (2005) ein ganzes Buch gewidmet. Er stellte sich die Frage, aufgrund welcher Daten Menschen ihre Urteile über die Wirklichkeit bilden und machte dazu selbst im Jahr 1945 klinische Untersuchungen. Er beobachte seine Patienten, traf intuitive Annahmen, zog Schlüsse daraus und verifizierte diese mit Befragungen.2 Er nahm eine interessierte, beobachtende Haltung ein, die geprägt war von Neugier und einem Bewusstsein für das unfassbare, grössere Ganze, das an das „marsische Denken“ erinnert.3 Hier scheint mir zudem der Bezug zum integrierenden Erwachsenen-Ich (ER2), und wie bereits erwähnt, dem kleinen Professor (ER1), naheliegend. Berne beschreibt in Bezug auf das integrierende ER-Ich (ER2) drei Wesenszüge, welche eine Person aufweisen sollte: persönliche Anziehungskraft und Aufgeschlossenheit, die Fähigkeit zu objektiver Informationsverarbeitung und ethisches Verantwortungsbewusstsein.4 Cornell et. al. beschreiben im Artikel über die Ich-Zustände das Erwachsenen-Ich (ER2) im Strukturmodell 2. Ordnung und den kleinen Professor (ER1). Dieser verbirgt Strategien, welche das Kind für die Lösung von Problemen befähigt: die Intuition und das prälogische Denken.5 Dabei integriert der Erwachsene im Strukturmodell 2. Ordnung (ER2) einen signifikanten Teil des intuitiven Verständnisses (vom ER1, dem kleinen Professor). Das integrierende ER-Ich (ER2) ist dabei nach Berne das Ideal, da es wertvolle Anteile des Eltern- und Kind-Ichs zur Verfügung stellt und ermöglicht, dass wir mit dem, was sich im Hier und Jetzt zeigt, sinnvoll umgehen können.

Berne definiert in seinem Buch (2005) Intuition als Wissen, das auf Erfahrung beruht und durch direkten Kontakt mit dem Wahrgenommenen entsteht, ohne dass der Wahrnehmende sich oder anderen genau erklären kann, wie er zu der Schlussfolgerung gekommen ist. Er verweist dabei auf präverbale, unbewusste und vorbewusste Funktionen und hebt hervor, dass ein Individuum manchmal nicht einmal genau sagen kann, was es weiss, aber es handelt oder reagiert in einer bestimmten Art und Weise, so als ob sein Verhalten oder seine Reaktion auf etwas beruhte, das es wusste.7 Er hebt auch hervor, dass zielgerichtete Beteiligung des wahrnehmenden Ichs die Intuition beeinträchtigt. Berne beschreibt, dass es einem schwer fällt, willentlich intuitiv zu werden, es aber möglich ist, in die intuitive Stimmung zu kommen.8 Hennig und Pelz fassen Berne’s Erkenntnisse klärend unter „Bedingungen für intuitive Erkenntnisse“ zusammen. Sie beschreiben, dass ein Zustand der Wachsamkeit und Empfänglichkeit mit intensiver Konzentration im Unterschied zu passiver Aufmerksamkeit die intuitive Erkenntnis fördert, die denkend-analytische Arbeitsweise und willentliche Bewertung diese aber eher behindert. Die innere Haltung des Beobachters sei ausschlaggebend. Die äussere Situation trage wenig zur Verbesserung bei.9

In der Fachliteratur gibt es unterschiedliche Ansichten bezüglich des Ursprungs der Intuition. Es scheint unklar, ob diese eine angeborene oder erlernte Fähigkeit ist. Berne merkt an, dass Intuition mit Übung zu tun hat und nach einem Urlaub (als Psychiater) „einrosten“ kann.10 Ausserdem hebt er hervor, dass es - um die Intuition zu verstehen - notwendig zu sein scheint, von der Überzeugung zu lassen, dass eine Person, um etwas zu wissen, in Worte fassen können muss, was sie weiss und wie sie es weiss. Wahres Wissen heisst eher, zu wissen, wie man handelt, als Worte zu kennen.11 Dies ist aus meiner Sicht ein sehr starkes und wichtiges Statement von Berne, da es in gewisser Weise dem menschlichen Wesen widerspricht, welches von Natur aus alles ergründen, erklären und fassbar machen möchte. Ich habe die Hypothese, dass ein Teil unserer intuitiven Fähigkeiten angeboren ist und aus einer spirituellen Betrachtungsweise heraus sogar in Verbindung mit dem „Göttlichen“, „dem grossen Ganzen“ gesehen werden kann. Ich teile die Auffassung von Henning und Pelz (2002), dass mit zunehmender Erfahrung die Expertenintuition geschult werden kann. Dies habe ich selbst als Beraterin im Rahmen meiner Ausbildung in Transaktionsanalyse und mit zunehmender Professionalisierung erlebt und schätzen gelernt. Gleichzeitig kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass die eigene Intuition ein hilfreicher und wichtiger Wegbegleiter ist, um sowohl im beruflichen als auch privaten Alltag unterwegs zu sein und sinnvolle Entscheidungen zu treffen und mit zunehmendem Bewusstsein und Erfahrungsschatz an Wirkkraft gewinnt. Wir können lernen, auf unsere Intuition zu hören und diese bewusster wahrzunehmen. Dadurch wird dieses innere „GPS“ umso kraftvoller und vertrauenswürdiger.

Um die eigene Intuition zu schulen, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Da es bei der Intuition kein Richtig oder Falsch gibt, sondern nur ein „Wissen“, ist die Entdeckungsreise umso spannender. Im Nachhinein kann im Sinne der Reflexion eine Überprüfung und sinnvolle Einordnung vorgenommen werden. Ich habe für mich zudem festgestellt, dass mit zunehmendem Vertrauen in meine Intuition das ständige Gedankenkreisen abnimmt und meine Resilienz und mein Wohlbefinden sich nachhaltig verbessert haben. Um diesen Explorationsprozess der eigenen Intuition fassbarer zu gestalten, habe ich mich im Prozess immer wieder genau beobachtet, reflektiert und meine Erkenntnisse für mich sinnvoll eingeordnet. Ich wollte genauer herausfinden, wodurch ich mich von meiner intuitiven Wahrnehmung entfernte. Dabei bemerkte ich, dass immer ein bestimmter Gedanke wie z.B. ein Wunsch, wie es (ich, andere, die Welt) anders sein sollte oder eine konkrete Vorstellung oder Erwartung an das Aussen vorhanden war. Mit der Zeit bemerkte ich, dass ich viel schneller wieder in das gute Gefühl meiner intuitiven Wahrnehmung eintauchen konnte, wenn es mir gelang, diese Gedanken zu erkennen (für mich sinnvoll einzuordnen) und im Sinne der Wiedererkennung loszulassen. Daraus habe ich das Resilience Economy Model (REM) entwickelt.

Das REM erfasst sowohl unterschiedliche Gedanken und Konzepte, die Gründe dafür sein können, dass die Verbindung zu unserer intuitiven Wahrnehmung nicht mehr spürbar ist, als auch die unterschiedlichen Rollen, in denen wir unterwegs sind. Ich hatte mit der Zeit bemerkt, dass meine intuitiven Fähigkeiten in unterschiedlichen Rollen, im Kontakt mit unterschiedlichen Personen oder bei unterschiedlichen Themen oder Situationen unterschiedlich gut ausgebildet waren bzw. das ich nicht geübt war, diese in meine Wahrnehmung zu integrieren. Das REM half mir, diese Entwicklungsbereiche zu lokalisieren und mein Bewusstsein dahingehend zu vertiefen, so dass meine intuitiven Fähigkeiten mit der Zeit immer ausgeprägter und gezielt abrufbar wurden.

Die Arbeit mit dem REM soll als Entwicklungsprozess gesehen werden, bei dem das Modell als Instrument für eine Standortbestimmung und die Stärkung der bewussten Wahrnehmung der eigenen Intuition dienen kann. Die Herangehensweise kann unterschiedlich gewählt werden. Es können z.B. zuerst einengende Aspekte gesammelt werden, oder der Fokus kann zuerst auf eine bestimmte Rolle oder Situation gelegt werden, in der man sich schon «sicher» fühlt und seiner Intuition deshalb Vertrauen schenkt. Das Modell kann beliebig erweitert und mit Rollen und Aspekten ergänzt und individuell angepasst werden. Dies ist für die Anwendung wichtig, da es gerade beim Wahrnehmen der eigenen Intuition um die eigenen Erkenntnisse und das Finden von (Selbst-) Sicherheit im persönlichen Wahrnehmen, Fühlen und „Sich-von-innen-heraus-leiten-Lassen“ geht.
Resilience Economy Model (REM) - Rebecca Petersen
Bewerte deine aktuelle Zufriedenheit in Bezug auf dein Freiheitsempfinden und der Wahrnehmung deiner eigenen Intuition im jeweiligen Bereich!

Hinweise:
Die Zeile „Intuitives Selbst“ meint unser ursprüngliches Selbst noch vor der Skriptbildung. Ich werde im Anschluss noch genauer auf diesen kindlichen Zustand eingehen. Die Bewertung ist darauf gerichtet, ob der entsprechende Aspekt im Alltag stark Einfluss nimmt oder eher im Hintergrund, (noch) unbewusst, wirkt.
Nicht jeder der angegebenen Aspekte muss auf jede Person in irgendeiner Weise zutreffen. Dies sind lediglich Vorschläge aus meinen Beobachtungen.
Die Spalte „Intuition“ meint die Bewusstheit der intuitiven Fähigkeiten. Die Bewertung ist dort darauf gerichtet, ob die eigenen intuitiven Fähigkeiten in der entsprechenden Rolle bereits stark oder eher im Hintergrund, unbewusst, genutzt werden.
Ich höre immer wieder, dass es Menschen gibt, für die das „Mit-sich-allein-Sein“ eine grosse Herausforderung ist. Andere berichten, dass es ihnen gerade im „Alleinsein“ besser gelingt, auf ihre intuitive Wahrnehmung zu achten. Aus diesem Grund habe ich diese „Rolle“ explizit ins REM integriert, um hier eine individuelle Bewusstheit zu schaffen.
Eine Standortbestimmung in diesem Sinne heisst nicht, dass jemand in einem bestimmten Level feststeckt oder „einfach so ist & bleiben muss“. Aus meiner Erfahrung ist es möglich, sich durch und mit den intuitiven Fähigkeiten, steigender Wahrnehmung und Bewusstheit zu verändern, was zu einer kraftvollen Zunahme der Autonomie und Sinnhaftigkeit führen kann.

Folgende Fragen können für die eigene Exploration, aber auch in der Arbeit mit Klienten, hilfreich sein:
- In welchen Rollen gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- Bei welchen Aufgaben und Tätigkeiten gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- Im Zusammensein mit welchen Personen gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- In welcher Umgebung/Situation gelingt es mir, mein analytisches Denken loszulassen und intuitiv ganz bei mir zu sein?
- Was stört meine intuitive Wahrnehmung? Wodurch erlebe ich einen Bruch in der Verbindung zum Freiheitsgefühl des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“?
- Wann gelingt es mir, dieses Freiheitsgefühl des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bewusst zuzulassen? Wie gelingt es mir, länger in diesem Bewusstsein und dem guten Gefühl zu verweilen?
- Welche Empfindungen habe ich in diesen Momenten des „Bewussten Wahrnehmens“ und dabei „ganz bei mir zu sein“? Wo spüre ich diese in meinem Körper?

Neben der kognitiven Einordnung mit Hilfe des REMs wollte ich für mich aber auch noch genauer ergründen, wo das Gefühl der intuitiven Wahrnehmung seinen Ursprung hat. Ich bin wie gesagt der Meinung, dass wir diese Fähigkeit schon seit der Geburt in uns tragen und das mit der Entstehung des Skripts dieses „Wissen“ mit der Zeit abhandenkommt bzw. in Vergessenheit gerät. Was also war es, was da „gefühlt/intuitiv“ in mir schlummerte? Ich begann meine Intuition nun noch intensiver auch auf der Gefühlsebene zu beobachten und versuchte, diese weiter zu erforschen. Ich möchte Ihnen auch hier Einblick in meine Erkenntnisse und Überlegungen geben und dabei gedanklich wieder im Hier und Jetzt starten.
Ich erlebe mit der Integration meiner intuitiven Fähigkeiten eine neue Freiheit und Leichtigkeit in meinen Alltag. Es gelingt mir besser, meine Bedürfnisse wahrzunehmen (ohne dass ich diese rechtfertigen oder erklären muss). Es fällt mir leichter, Entscheidungen zu treffen. Ich bin öfter in einem Flow-Gefühl und habe insgesamt den Eindruck, dass sich mehr bei mir bin - sei dies in meiner Rolle als Beraterin, als Führungskraft oder als Privatperson. Ich würde es als ein Gefühl der Freiheit des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ beschreiben. Dieses verbinde ich in meiner Vorstellung direkt mit dem ursprünglichen Bild und Erleben eines Säuglings.

Das Leben in seinem Ursprung beginnt mit absoluter Freiheit. Als Säugling steht das „Unbedingt-sich-selbst-Sein“ im Vordergrund. Der Säugling geniesst völlig unabhängig vom Aussen - ohne Zeitdruck und ohne Präferenz für einen bestimmten Ort oder bestimmte Umstände - Freiraum und erlebt darin das Gefühl der unbedingten Freiheit:
- die eigenen Bedürfnisse jederzeit und ungehemmt auszuleben
- uneingeschränkt, unbewertet und bedingungslos sich selbst zu sein
- sich der Aussenwelt mitzuteilen und ausdrücken zu können
- sich stetig und ungezwungen weiter zu entwickeln
- mit sich selbst und mit anderen Menschen Freude zu erleben und - in Kontakt zu sein und Verbundenheit zu spüren.

Der Säugling scheint in diesem Freiraum völlig in der Erwartung an das Gute aufzugehen und sprichwörtlich in seiner Fülle und Perfektion aufzublühen. Ziel ist, sich als Individuum in einer noch unbekannten Welt weiter zu entwickeln. Der Säugling braucht dafür keine Erlaubnis von Aussen. Er scheint intuitiv zu wissen und zu spüren, dass dies sein Grundrecht und seine evolutionäre Bestimmung ist. Der Säugling lebt von sich aus eine ursprüngliche, unbedingte Ok-Ok-Haltung, die Berne als „Position echter Helden und Prinzen bezeichnet“.12 Die eigene Ok-Ok-Haltung scheint aus meiner Erfahrung eine weitere zentrale Bedingung für das Erleben der Freiheit im Raum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ darzustellen.

Mit dem Aufwachsen und Älterwerden verändert sich diese kindliche Einstellung mit der Ausbildung des Skripts. Die ursprüngliche Lebenseinstellung, die geprägt ist von Neutralität sich selbst gegenüber und einer ungetrübten (Erwartungs-) Haltung anderen Menschen gegenüber (vgl. Ok-Ok-Haltung), verändert sich massgeblich. Berne spricht hier vom unbewussten Lebensplan13, in welchem der eben beschriebene Freiraum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ durch Erfahrungen, Vorbilder, Normen und Werte und die daraus resultierenden individuellen Bewertungen eingeschränkt und neu definiert wird. Die kindliche, intuitive „Leichtigkeit“ wird überschrieben mit elterlichen oder kindlichen Programmen.

Um unsere intuitiven Fähigkeiten wieder wahrnehmen zu können, ist das Zurückfinden zu dieser vorurteilsfreien Wahrnehmung und Betrachtung entscheidend. Wie bereits erwähnt, verbinde ich diesen Empfindungszustand direkt mit dem Empfinden der eigenen Ok-Ok-Haltung und einer offenen, unvoreingenommenen und hoffnungsvollen Haltung der Welt gegenüber. Wir sprechen hier auch vom Erwachsenen-Ich-Zustand, der als Teil unserer Persönlichkeit weitgehend vorurteilsfrei wahrnehmen und denken kann und seine Erfahrung und sein Wissen benutzt, um auf die gegenwärtige Situation bezogen zu reagieren und zu handeln. Das Erwachsenen-Ich ist unbeeinflusst von elterlichen oder kindlichen Programmen. Es kann reflektieren, was kindliche Bedürfnisse und elterliche Normen sind, zwischen ihnen vermitteln und zugunsten von Realitätsanforderungen Entscheidungen treffen“.14 Um diesen Zustand wieder zu erreichen, braucht es die Entwicklung eines Bewusstseins im Sinne des integrierenden ER-Ich-Zustandes (ER2).

Als Erwachsene fühlen wir uns in unserer Entwicklung durch die Aussenwelt aufgrund von unterschiedlichen Faktoren immer mehr fremdbestimmt, eingeengt und übersteuert. Die Erinnerung und der Wunsch nach dieser ursprünglichen und unbedingten Freiheit und dem kindlichen Freiraum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bleiben jedoch bestehen.

Im sozialen Leben erfüllen wir unterschiedliche Rollen, in denen wir uns im Sinne der Energiebilanz, der eigenen Bedürfnisbefriedigung und des dadurch erlebten Freiraums des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bereichert oder eingeengt fühlen. Gerade hier kann die Schulung und der Einbezug des intuitiven Wissens eine ungeahnt kraftvolle Ressource darstellen.

Beziehungspflege kann dann gelingen, wenn wir mit unserem inneren, intuitiven Selbst in Verbindung treten und unsere Bedürfnisse immer besser ohne Rechtfertigung oder Bewertung wahrnehmen und falls nötig im Aussen mitteilen können. Wenn es uns gelingt, losgelöst von unseren einengenden, skriptverstärkenden Annahmen, Erwartungen und Werten autonom zu denken, zu handeln, zu fühlen und zu entscheiden, dann können wir die Freiheit in Verbundenheit entspannt erleben und geniessen. Wenn wir uns erlauben, mit uns und mit anderen in Kontakt zu treten und es uns möglich ist - in diesem Wechsel von Nähe und Distanz - Begegnung, Intimität und persönlichen Austausch zu pflegen, dann beginnt unsere Authentizität von innen heraus zu leuchten und wir können uns intuitiv verbunden und sicher auf die Situation oder Person einlassen.

Diese Klarheit und Stärke von innen heraus ist für jeden Menschen zugänglich. Sie fühlt sich gut an, insbesondere dann, wenn ich mir „erlaube“, meine intuitive Wahrnehmung zu „hören“ und in meinem Alltag und mein Leben zu integrieren. Meine eigene intuitive Bewusstheit und Präsenz führt dazu, dass ich diese Fähigkeit des intuitiven Wissens auch meinem Gegenüber zutraue und dadurch aktiv die Kraft, Klarheit im Moment und Autonomie bei der Person und in der Situation stärken und unterstützen kann.

In diesem Rahmen möchte ich gegen Ende den Begriff der Intuitiven Transaktionsanalyse einführen. Berne hat das Thema der Intuition selbst sehr stark in seine Arbeit integriert und deren Nutzen hervorgehoben. Ich plädiere dafür, dieses Bewusstsein für die „intuitiven Fähigkeiten“ auch in der Anwendung der Transaktionsanalyse als Beraterin, Trainerin & Prozessbegleiterin in den unterschiedlichen Feldern bewusst(er) zu integrieren, zu stärken und auch in der Arbeit mit Klienten mehr ins Bewusstsein zu holen. Jeder Mensch trägt diese Fähigkeit der intuitiven Wahrnehmung als Ressource in sich und es ist möglich, das Vertrauen in diese Ressource schrittweise zu stärken. Johann Schneider beschreibt hier passend, wie Supervisanden lernen, in ihrer Arbeit Intuition bewusst mit Wahrnehmung, Denken und Gefühl zu verbinden: aus der unwillkürlichen Intuition wird geleitete Intuition.15

Ich habe in diesem Artikel einen neuen Zugang zum Thema Intuition geschaffen und dabei versucht, die Theorie mit der Praxis und meinen eigenen Erfahrungen als Privatperson und Beraterin zu verbinden. Somit hoffe ich, dass mir die Anregung und die „Lust auf mehr“ für das persönliche Explorieren der eigenen intuitiven Fähigkeiten gelungen ist.

In diesem Sinne freue ich mich über das Interesse und allfällige Rückmeldungen zu meinen Gedanken und Ausführungen zur Stärkung der intuitiven Fähigkeiten im „Unbedingt-sich-selbst- Sein“ sowie zur Einführung, Stärkung und Entwicklung der Intuitiven Transaktionsanalyse.
Ich freue mich auf den co-kreativen (Entwicklungs- und Austausch-) Prozess!


Literaturverzeichnis
Berne, E. (1983). Was sagen Sie, nachdem Sie "Guten Tag" gesagt haben?
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Berne, E. (2001). Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann.
Berne, E. (2005). Transaktionsanalyse der Intuition (Bd. 4). Paderborn: Junfermann Verlag.
Cornell, W. F., De Graaf, A., Newton, T., & Thunnissen, M. (2016). Into TA - A Coprehensive Textbook on Transactional Analysis. New York: Karnac Books Ltd.
Henning, G., & Pelz, G. (2002). Transaktions Analyse - Lehrbuch für Therapie und Beratung. Paderborn: Junfermann.
Schlegel, L. (1979). Die Transaktionale Analyse. Zürich: Deutschschweizer
Gesellschaft für Transaktionsanalyse.
Schmale-Riedel, A. (2016). Der unbewusste Lebensplan - das Skript in der Transaktionsanylse. München: Kösel.
Schneider, J. (2000). Supervision - Supervidieren & beraten lernen.
Paderborn: Junfermann Verlag.
Stewart, I., & Joines, V. (1990). Die Transaktionsanalyse - eine Einführung.
Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH.
Fussnoten
1. Henning & Pelz, 2002, S. 18
2. Berne, 2005, S. 39 ff
3. Berne, 1983, S. 125 ff.
4. Berne, 2001, S. 189
5. Cornell, De Graaf, Newton, & Thunnissen, 2016, S. 13
6. Cornell, De Graaf, Newton, & Thunnissen, 2016, S. 17-18.
7. Berne, 2005, S. 36-37
8. Berne, 2005, S. 56
9. Henning & Pelz, 2002, S. 19
10. Berne, 2005, S. 57
11. Berne, 2005, S. 60
12. Berne, 1983, S. 108
13. Berne, 1983, S. 121
14. Schmale-Riedel, 2016, S. 23
15. Schneider, 2000, S. 23




Rebecca Petersen
Transaktionsanalytikerin PTSTA-C
Beraterin SGfB
Systemischer Coach, Supervisorin & Organisationsberaterin bso
Transformativer Coach
(Sonder-) Pädagogin &
Führungskraft
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www.petersen-coaching.ch
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