artikelmärz2022

Freiheit und Verbundenheit in der Arbeitswelt

// Autor: Christian Grütter //
In der Arbeitswelt werden in den letzten Jahren vermehrt Arbeitskonzepte diskutiert, welche den Arbeitnehmenden mehr Freiheit einräumen sollen. Mit einem «mehr» an Autonomie, Selbstorganisation, Eigenverantwortung oder Empowerment wird heute als Reaktion auf die immer komplexere Umwelt experimentiert. Auch wenn diese Konzepte viele Missstände der bisherigen eher autoritären, hierarchischen Strukturen beheben und von sehr vielen Arbeitnehmenden geschätzt werden, zeigen sich auch entsprechende Nebenwirkungen.

In diesem Artikel will ich zuerst die aktuellen organisatorischen Herausforderungen beleuchten und aufzeigen, mit welchen Strategien die Arbeitswelt darauf reagiert. Insbesondere soll dabei auf die neu entdeckte Autonomie der Arbeitnehmenden hingewiesen werden. Die Konzepte der neuen Freiheit werden kurz erklärt und die bisher gemachten positiven und negativen Erfahrungen beleuchtet.

In einem weiteren Schritt werden, basierend auf den Konzepten der Verbundenheit und der Transaktionsanalyse, Ideen skizziert, wie die Arbeitswelt in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden könnte oder auch müsste. Dies in der festen Überzeugung, dass gute Arbeit sowohl den Organisationen als auch den Mitarbeitenden Gewinn bringen wird.
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FREIHEIT ALS NEUE ERRUNGENSCHAFT DER ARBEITSWELT
Verrückte neue Welt
In den vergangenen zwei Jahren haben sich im Rahmen der Pandemie Entwicklungen verstärkt, welche sich schon seit einigen Jahren abzeichnen. Der Begriff VUKA (Veränderlichkeit, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) hat sich in der Geschäftswelt etabliert und ist in unterschiedlichster Weise spür- und erlebbar geworden. Im Berufsalltag wirken sich insbesondere die Digitalisierung, der enorme Wissenszuwachs, die Globalisierung sowie die aktuellen demografischen Veränderungen auf die Arbeit aus.
Aktuelle Organisationskonzepte
Organisationen müssen sich dieser neuen Realität stellen und sich flexibler aufstellen, um sich den ständig verändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Die Kompetenz einzelner Mitarbeitenden reicht nicht mehr aus, um die Komplexität des Alltags zu meistern. Unternehmen experimentieren darum mit flachen Hierarchien, agilen Arbeitskonzepten, der Einführung von selbstorganisierten Teams oder stellen gleich die ganze Hierarchie auf den Kopf (als Beispiele können hier zum Beispiel die Soziokratie oder Holokratie erwähnt werden). Zudem gewinnt die Team-Arbeit wieder an Bedeutung und Führungskonzepte verändern sich.
Die neue Arbeitswelt: new work
Die oben beschriebenen Veränderungen der organisatorischen Umwelt und die entsprechenden Strategien der Organisationen haben Auswirkungen auf die Arbeit. Die verschiedenen Aspekte dieser neuen Arbeitswelt werden unter dem Begriff des «new work» zusammengefasst. Der Begriff wurde bereits Ende der 70er Jahre von Frithjof Bergmann eingeführt (österreichisch-amerikanischer Sozialphilosoph). Seine Vision bestand darin, dass jeder Mensch das tun und arbeiten solle, was er wirklich wirklich wolle. Für ihn stand also eine sinnerfüllte, selbstbestimmte Arbeit im Vordergrund; sein Konzept umfasst dabei neben dem Individuum auch Organisationen sowie die gesamte Gesellschaft. Heute wird der Begriff hauptsächlich für den strukturellen Wandel in der Arbeitswelt verwendet und umfasst ganz unterschiedliche Massnahmen und Prinzipien für eine «menschlichere» Arbeit. Das Ziel all dieser Veränderungen besteht darin, das Erleben von psychologischem Empowerment der Mitarbeitenden zu fördern (Schermuly 2016).
Empowerment
Für Organisationen und insbesondere für deren Führungskräfte bedeutet diese neue Welt des «new work» einen eigentlichen Paradigmenwechsel. In den vergangenen Jahrzehnten war es die Aufgabe der Führungskräfte, ihre Mitarbeitenden eng zu führen, Aufträge zu erteilen, diese zu kontrollieren sowie Entscheidungen zu treffen. Dies in der Annahme, dass sie selbst mehr Kompetenzen mitbringen als ihre Mitarbeitenden. In einer unsicheren, komplexen, veränderlichen und mehrdeutigen VUKA-Welt ist dies nicht mehr möglich. Bisherige Organisations- und Führungskonzepte stossen an ihre Grenzen.
Als Folge darauf reagieren die Unternehmen mit flacheren Strukturen, mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten, Eigenverantwortung und Autonomie für die Mitarbeitenden. Das Konzept des «Empowerments» verfolgt dabei das Ziel, die Mitarbeitenden zu ermächtigen und ihnen innerhalb von definierten Rahmenbedingungen grösstmögliche Gestaltungsmöglichkeiten zu geben. Damit werden zwei Ziele verfolgt: das Nutzen der Kompetenzen aller Mitarbeitenden (in autoritären Führungskonzepten ist die Organisation nur so kompetent wie der Chef) sowie eine Erhöhung der Attraktivität als Arbeitgeber. Letzteres ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil bei den Mitarbeitenden eine eigenverantwortliche Gestaltung der «Balance der Lebensbereiche» an Bedeutung gewinnt.
Empowerment umfasst sowohl einen strukturellen als auch einen psychologischen Aspekt. Unter strukturellem Empowerment wird die Gestaltung der Arbeitsabläufe und -strukturen verstanden (z.B. dezentralisierte und partizipative Entscheidungsstrukturen, Job enlargement, job enrichment und andere mehr). Psychologisches Empowerment umfasst persönliche Ermächtigungen im Sinne von Kompetenzerleben, Bedeutsamkeit, Selbstbestimmung und Einfluss.
In zahlreichen Studien konnte zwischenzeitlich belegt werden, dass Empowerment zahlreiche positive Aspekte auf Mitarbeitende und Organisationen hat. Schermuly (2016) stellt fest, dass zwischen Empowerment und folgenden Aspekten grosse bis mittlere positive Korrelationen nachgewiesen werden konnte:
Arbeitszufriedenheit
Bindung an die Organisation
Extraproduktives Verhalten
Leistung
Fluktuationsabsichten
Auch Kaluza (2018) weist auf Studien hin, welche eine gesundheitsfördernde, weil stressreduzierende Wirkung belegen, wenn Beschäftigte mehr Autonomie in Form von Entscheidungs- und Handlungsspielräumen eingeräumt wird.
Kritik am Konzept des Empowerments
Neben den oben beschriebenen sehr positiven Ergebnissen zeigen sich im Alltag auch Grenzen oder Nebenwirkungen dieser neuen Freiheit.
So weist Kaluza (2018) neben seinen oben beschriebenen förderlichen Effekten auch darauf hin, dass solche erhöhten Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten nicht mehr nur als positive Ressourcen zu betrachten sind, sondern auch mit verstärkter Belastung und Überforderung einhergehen können. Zudem bemerkt er an, dass der Wegfall von vorgegebenen Sinn- und Wertestrukturen «zwar die Chance auf ein höheres Mass an Selbstbestimmung über die eigene Lebensgestaltung und -planung eröffnet, aber zugleich auch hohe Anforderung an die individuelle Entscheidungs- und Urteilskraft stellt, die, wenn sie überfordert wird, zu einer starken Verunsicherung beitragen kann.» So kann beobachtet werden, dass sich Mitarbeitende, scheinbar freiwillig, im Interesse ihrer Zielerreichung zu verhalten beginnen, z.B. durch überlange Arbeitszeiten (Pausen, Feierabend, Urlaub) und Präsentismus (Arbeiten trotz Krankheit). Diese Phänomene werden unter dem Begriff der «interessierten Selbstgefährdung» zusammengefasst.
Es besteht somit die Gefahr, dass die neu gewonnene Autonomie der Arbeitnehmenden dazu führt, die von der Organisation definierten Ziele, Werte und Spielregeln zu verfolgen und eigene Ziele, Prioritäten, Werte oder Bedürfnisse unberücksichtigt zu lassen. Dies kann sich auf das Gesundheitsverhalten jedes und jeder einzelnen negativ auswirken.
Gemäss aktuellen und wiederkehrenden Befragungen von Arbeitnehmenden leiden diese vor allem unter folgenden Belastungen:
Erreichbarkeit
Ablenkung
Arbeits- und Zeitdruck
Multitasking
Unterbrechungen
Rollenvielfalt
Entscheidungen
Eine Studie aus Deutschland aus dem Jahr 2019 (Kernbach/Eppler 2020) zeigt auf, dass rund 50% der Befragten befürchten, von Burn-Out bedroht zu sein, über 60% leiden unter Rückenschmerzen und allgemeiner Müdigkeit und 59% spüren eine innere Anspannung. Zudem hat sich gezeigt, dass sich nur 13% der Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz engagieren, dass es bei 63% an Motivation und Engagement fehlt und sich rund 24% aktiv von der Arbeit abkoppeln und sowohl unglücklich als auch unproduktiv sind.
Zusammenfassend kann man also festhalten, dass die neue Freiheit am Arbeitsplatz zwar zu Arbeitszufriedenheit, Bindung ans Unternehmen und mehr Leistung führt, dabei jedoch gleichzeitig das Gesundheitsverhalten beeinflusst und den Stress am Arbeitsplatz erhöht.


VERBUNDENHEIT MIT DEN EIGENEN ZIELEN, WERTEN UND BEDÜRFNISSEN
Es stellt sich somit die Frage, wie das Konzept der Freiheit weitergedacht oder entwickelt werden kann. Wie können die sich abzeichnenden negativen Auswirkungen der neu gewonnen Freiheit reduziert werden, ohne in frühere autoritäre Strukturen zurückzukehren? Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf das Konzept der Verbundenheit und auf den Autonomiebegriff der Transaktionsanalyse gelegt werden.
Verbundenheit
Der Begriff der Verbundenheit wird üblicherweise benutzt, um das Gefühl zu beschreiben, einer anderen Person oder einer Personengruppe zugehörig zu sein und in einer gegenseitigen vertrauensvollen Beziehung zu stehen. So könnte das Thema in diesem Sinne von Interesse sein – gerade mit einem Blick auf die zunehmende Bedeutung von Homeoffice und der damit verbundenen Distanz zu Führungskräften und Team.
Der Begriff der Verbundenheit kann jedoch auch weiter gefasst werden, nämlich z.B. der Verbundenheit zur Natur oder mit dem «grossen Ganzen». Gerade die Verbundenheit mit sich selbst, seinen Werten, Zielen und Bedürfnissen ist in einer Welt voller Freiheiten von zentraler Bedeutung.
Um der oben erwähnten Tendenz der «interessierten Selbstgefährdung» Rechnung zu tragen und entgegenzuwirken, will ich nachfolgend eine mögliche Weiterentwicklung skizzieren, mit der diese Selbstgefährdung reduziert oder gar verhindert werden könnte.
Autonomie im Sinne der Transaktionsanalyse
Im Rahmen der neuen Freiheiten der Arbeitsgestaltung wird oft der Begriff der «Autonomie» verwendet. Dieser wird im organisationalen Kontext für die Umschreibung von erhöhten Handlungsspielräumen und Verantwortlichkeiten seitens des Mitarbeitenden verwendet.
Der Autonomiebegriff der Transaktionsanalyse hat hier eine weiterreichende Bedeutung. Schlegel (2020) formuliert als Anforderung für Autonomie: «wer autonom ist, wählt frei, was er richtig findet». Schlegel verwendet unter anderem den Begriff der «verbundenen Autonomie» und definiert diese mit der Übernahme von Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse. Wählt der Mitarbeitende im Konzept des Empowerments tatsächlich frei, was er richtig findet? In der Praxis besteht die Freiheit und Verantwortung oft «nur» darin, Arbeitsort, Arbeitszeit oder auch den Ablauf seiner Aufgaben selbst gestalten zu können. Dies geschieht jedoch meist in einem Rahmen (Ziele, Prioritäten, Ressourcen), welcher von der Organisation bestimmt ist.
Eine besondere Herausforderung in der Welt des Empowerments stellt die Strukturierung der Zeit dar. Dies zeigt sich gerade heute in der Zunahme des Homeoffice: bisher vorhandene Zeitstrukturen fallen weg und müssen von jedem und jeder einzelnen neu geschaffen werden. Welche Rituale sind sinnvoll und wünschenswert? Wie viel Zeitvertreib ist zulässig und gesund? Wie motiviere ich mich für die Arbeit? Wo ist Intimität, also ein echter zwischenmenschlicher Austausch, möglich?

Die von der Organisation «verordnete» Autonomie setzt also voraus, dass Mitarbeitende mit dieser Freiheit auch umgehen können, also die Kompetenzen mitbringen, die Zeit für Arbeit und Freizeit eigenverantwortlich zu gestalten. In ihrem Buch «new work needs inner work» weisen Breidenbach und Rollow (2019) darauf hin, dass wegfallende äussere Strukturen und Sicherheiten voraussetzen, dass Betroffene entsprechende innere Strukturen und damit Sicherheiten schaffen können. Anders formuliert würde dies bedeuten, dass Empowerment seitens der Arbeitnehmenden Autonomie im Sinne der Transaktionsanalyse voraussetzt. Was dies genau bedeutet, drückt Schlegel (2020) in seinem Begriff der bezogenen Autonomie aus. Er führt dazu folgende sechs Bestimmungen aus:
1. Den Mut und die Entscheidung zu Selbstverantwortlichkeit
2. Den Mut und die Entscheidung, die Realität so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie ich das gerne hätte, dass sie wäre
3. Den Mut und die Entscheidung zur Redlichkeit mir selbst wie den Mitmenschen gegenüber
4. Den Mut und die Entscheidung, anstehenden Problemen nicht auszuweichen, sondern ihre Lösung eigenständig anzupacken
5. Den Mut und Entscheidung, aus allen Erfahrungen, auch aus unangenehmen, zu lernen
6. Den Mut und die Entscheidung zur Übernahme von Mitverantwortung für soziale und umweltliche Probleme
Die Sicherheit, die uns früher durch klare Strukturen und Normen vermittelt wurde, muss heute von innen, von uns selbst geschaffen werden. Und Empowerment würde somit voraussetzen, dass Mitarbeitende ihre persönliche Autonomie im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung stärken und sich mit der eigenen Geschichte, den eigenen Werten, Bedürfnissen und Zielen auseinandersetzen und zu Fragen wie die folgenden Antworten finden:
Wer bin ich? Wo komme ich her?
Was ist mir wichtig?
Wo will ich hin?
Wo sehe ich meine Aufgaben in diesem Leben, in dieser Organisation?


SCHLUSSFOLGERUNG UND KONSEQUENZEN
Während Jahrzehnten wurde Arbeit in Organisationen hierarchisch und in eher autoritären Strukturen gestaltet. Diese Arbeitsweise stösst in einer komplexen, unsicheren und veränderlichen Welt an ihre Grenzen. Die Idee, dass eine Führungskraft ihren Mitarbeitenden vorgeben kann, was sie wann auf welche Weise erledigt, erweist sich als untauglich und oft auch unmöglich. Die Übertragung von Freiheiten an den Mitarbeitenden ist eine logische Folge und zeigt in ersten Studien zahlreiche positive Effekte. Aktuelle Studien weisen jedoch auch darauf hin, dass mehr Autonomie und Verantwortung eben auch mehr Stress und Belastung bedeuten können, die Gefahr der Selbstausbeutung steigt.
Es zeigt sich, dass Freiheit ein hohes Mass an Selbstkompetenz voraussetzt. Dies bedeutet, zu wissen, wer man ist, zu erkennen, wo man hinmöchte und die Fähigkeit zu haben, proaktiv auf das Erreichen seiner Ziele hinzuarbeiten. Anita Graf (2021) umschreibt diese Kompetenz mit folgenden Teilkompetenzen:
Die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen
Handlungswirksame berufliche und private Ziele zu setzen
Effektiv mit der zur Verfügung stehenden Zeit umzugehen
Vorhandene Belastungen zu reduzieren und
Ressourcen gezielt zu aktiveren und zu nutzen
Im Sinne der Transaktionsanalyse bedeutet dies die Weiterentwicklung der Autonomie. ­Organisationen sind somit gefordert, nicht nur Freiräume zu schaffen, sondern Mitarbeitende bei der Entwicklung von Selbstkompetenzen zu unterstützen.
Neue Führungskonzepte tragen dieser Erkenntnis bereits Rechnung. Furtner & Baldegger (2016) beschreiben diese neuen Konzepte als «Superleadership» oder «empowering Leadership». Diese zielen darauf ab, die Selbstbestimmung und Autonomie der Geführten zu erhöhen, die Macht mit den Geführten zu teilen und diese so zu entwickeln, damit sie sich schliesslich selbst führen können.



Quellennachweis
Breidenbach, J., Rollow, B. (2019): New Work needs Inner Work. Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation.
Furtner, M. & Baldegger, U. (2016): Self-Leadership und Führung. Theorien, Modelle und praktische Umsetzung.
Graf, A. (2012): Selbstmanagement-Kompetenz in Unternehmen nachhaltig sichern. Leistung, Wohlbefinden und Balance als Herausforderung
Kaluza, G. (2018): Stress-Bewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung
Kernbach, S. & Eppler M.J. (2020): Life Design. Mit Design Thinking, Positiver Psychologie und Life Loops mehr von sich in das eigene Leben bringen.
Rose, N. (2019): Arbeit besser machen. Positive Psychologie für Personalarbeit und Führung
Schermuly, Carsten C. (2016): New work – gute Arbeit gestalten
Schlegel, L. (2020): Die Transaktionale Analyse


Christian Grütter
Transaktionsanalytiker CTA in Organisationen.
Mitinhaber der Wellenreiter GmbH:
«Du kannst die Wellen nicht aufhalten. Lerne surfen!»
Sihlstrasse 99, 8001 Zürich
www.wellenreiter.consulting
christian.gruetter@wellenreiter.consulting
Beruflicher Werdegang
Drogist HF
Betriebsökonom FH
Transaktionsanalytiker CTA-O
Ausbildner mit FA Zertifizierter Trainer ZRM
Wirtschaftspsychologe MAS FHNW



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artikelmai2022

Der Körper als Kompass in der Beratung

// Autorin: Rahel Marti //
Als Schulsozialarbeiterin, Bewegungspädagogin und psychosoziale Beraterin gebe ich in unterschiedlichen Kontexten Impulse, um die Verbindung von Körperwahrnehmung und Aufmerksamkeitslenkung kennen zu lernen. Meine Schwerpunkte in den Einzelberatungen und Klasseninterventionen sind bei sich ankommen, sich selbst im Körper, in den Gedanken und den Gefühlen wahrzunehmen, Verbundenheit - in Bezug zu sich selbst.
In diesem Artikel zeige ich anhand verschiedener Beispiele aus der Praxis auf, wie ich eine Einladung gestalte, um die erwähnte Verbindung zum Körper, zu den Gedanken und zu den Gefühlen aufzubauen und wie Kinder und Jugendliche daraus Selbstkompetenzen entwickeln. Aus diesen Beispielen leite ich aus transaktionsanalytischer Sicht den Bezug zum Autonomiemodell von Eric Berne her. Dieses Modell ist für mich Kompass in der Begleitung von Menschen jeden Alters.
Die Definition des Autonomiemodells nach Eric Berne:
Autonomie als ein Ziel von persönlichen Entwicklungsprozessen. Diese zeigt sich durch das Freiwerden oder Wiedergewinnen von drei seelischen Vermögen: Bewusstheit, Spontaneität und Intimität.
1. Bewusstheit definiert er als Fähigkeit, sich und seine Umgebung aufmerksam und mit allen Sinnen wahrzunehmen.
2. Spontanität als ein Reagieren mit Wahlmöglichkeiten auf das Hier und Jetzt, ohne in unbewusst übernommene einschränkende Verhaltens- oder Denkmuster zu fallen.
3. Intimität hat für ihn zwei Bedeutungsebenen Erstens als eine Möglichkeit, wie Menschen zusammen Zeit verbringen. Zweitens ist Intimität eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.
Wenn der Körper in der Schule ankommt
Der Körper wird als Referenz im schulischen Kontext wenig angesprochen. Vielmehr ist der Verstand, das Abrufen und Vernetzen von Informationen auf der intellektuellen Ebene gefragt. Bei Streit, Angst, Unsicherheit ist ein Hinwenden an diese körperlichen Empfindungen, die Gedanken und die Gefühle die damit einher gehen, hilfreich. Das Kind anzuleiten und ihm in diesen anspruchsvollen Situationen eine Anleitung anzubieten, die es ihm erlaubt, mit sich und all dem was sich gerade in diesem Moment zeigt in Kontakt zu kommen, soweit es geht. Ich verwende dazu das Modell der oszillierenden Aufmerksamkeit und leite das Kind an die Körperempfindung wahrzunehmen, die Gedanken die jetzt gerade da sind und das Gefühl zur jetzigen Situation (siehe Abbildung).
Mit einer weiten, freundlichen Haltung lade ich in der achtsamen Körperwahrnehmung ein, mit der Aufmerksamkeit hin und her zu pendeln und diese Zwischenleiblichkeit bewusst zu erkunden. Die liegende Acht symbolisiert die Fähigkeit, mit sich selbst gut verankert zu sein, wie auch sich mit der Umgebung verbunden zu fühlen. Bezogen auf das Autonomiemodell: Intimität ist eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein.

Unsere Aufmerksamkeit pendelt zwischen Reizen und Phänomenen die im Innern unseres Körpers wahrnehmbar sind und der äusseren Fülle von Informationen und Reizen denen wir ausgesetzt sind. Unsere Aufmerksamkeit pendelt natürlicherweise hin und her. – Wenn wir uns dessen gewahr werden und mit unserer Aufmerksamkeit bewusst dem Oszillieren von Innen nach Aussen und umgekehrt folgen, wird die Fähigkeit bei sich und im Kontakt zu sein gefördert.

In Klassen leite ich eine Aufmerksamkeitslenkung beispielsweise wie folgt an. Ich bitte die Kinder ihre Augen zu schliessen. Danach teile ich mit, dass ich die Fenster öffne und sie sich darauf konzentrieren, welche Geräusche, Töne, Stimmen von Aussen zu ihnen gelangen. Wenn sie drei verschiedene Geräusche wahrgenommen haben, dürfen sie die Arme kreuzen. Wenn alle die Arme gekreuzt haben, weiss ich, dass die Aufgabe durchgeführt wurde. Die Kinder öffnen die Augen wieder und ich frage nach, was sie gehört haben, welche Gefühle, Gedanken und körperliche Empfindungen diese Übung hervorgerufen hat. Die Kinder nennen Gleiches und Unterschiedliches. Oft lade ich sie dazu ein, sich mit einer Decke als Unterlage auf den Boden zu legen. Um die Körperwahrnehmung zu vertiefen erhalten die Kinder ein kleines warmes Kissen, welches sie sich auf eine Körperstelle legen können. Es ist für die meisten Kinder angenehm ein warmes Kissen zu erhalten. Sie dürfen das Angebot auch ablehnen.

Anschliessend leite ich mit einer Körpereise dazu an, den Körper von Innen her wahrzunehmen. Es gibt nichts zu leisten und es gibt kein richtig oder falsch. Die Haltung zur Körperwahrnehmungsübung ist liebevoll, wertfrei und neugierig offen für das was im Moment wahrnehmbar ist. Spüren ist ein Weg in Verbindung mit sich selbst zu kommen.1

1 Eine Audioanleitung finden Sie auf: www.rahelmarti.ch


Auch im Einzelsetting wende ich diese Form der Aufmerksamkeitslenkung an. Beispielsweise bei einem Jugendlichen der mit seinem Anliegen in die Beratung kommt.

Ralf ist 14 Jahre alt, kommt mit dem Wunsch nach Unterstützung seine Vorträge besser vortragen zu können. Er ist immer sehr nervös und unsicher, was ihm verunmöglicht sein Wissen und Können zu zeigen. Ich lade Ralf ein, sich in die Situation hinein zu versetzen. Er steht also vor mir und wird den Vortrag halten. Bereits beginnt seine Nervosität, welche in seiner Stimme, schwitzenden Händen und in einer Errötung im Gesicht erkennbar wird. Ralf bemerkt seine schwitzenden Hände, die zittrige Stimme und er ahnt, dass sein Gesicht errötet. Hier beginnt meine Führung. Ich rege die Aussensinne an und lade ein, die Farben im Raum wahrzunehmen. Sein Gewicht von einem Bein auf das andere zu verschieben. Ich lade ihn ein, diese Anregungen zu wiederholen: welche Gefühle tauchen auf, was sind die Gedanken dazu, wie ist die Körperempfindung? Dies ist ein Prozess des In-sich-hinein-Lauschens, der Selbstwahrnehmung; er erlaubt einen Moment Abstand zu nehmen von der Identifizierung mit der Nervosität und der Unsicherheit. In den drei Beratungen erforschen Ralf und ich, was in der konkreten Situation anwendbar ist. Ich lade ihn immer wieder ein, sich zu spüren und bewusst zu machen was er in den Gedanken, den Gefühlen und der Körperempfindung wahrnimmt. Ralf übt für sich und macht sich Notizen bis zur nächsten Beratung.

„Ja, das fühlt sich gut an, so klappt es!“ sagt er. Das Verschieben des Körpergewichts von einem Bein auf das andere ist für Ralf gut wahrnehmbar, er kann während dem Vortrag mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit der Gewichtsverlagerung folgen. Er sagt, dass er mehr bei sich bleibt, seine Beine spürt und dies beruhigt und zentriert ihn, so dass sein Gefühl der Unsicherheit und die Nervosität weniger Raum einnimmt. Ralf nimmt über den Körper wahr wie sich seine Anspannung lindert, er seine Gedanken bündeln kann und sich ein Gefühl der Ruhe ausbreitet. Für die konkrete Situation hat er sich eine innere Referenz erarbeitet, die er in sich trägt und jederzeit anwenden kann.

Dieses Sich-spüren und Wahrnehmen fördert die Verbundenheit von Innen nach Aussen, im Hier und Jetzt und in einem guten Kontakt mit sich selbst zu sein.
Eric Berne erläutert dies im Autonomiemodell wie folgt:
Bewusstheit definiert er als Fähigkeit, sich und seine Umgebung aufmerksam und mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Spontanität als ein Reagieren mit Wahlmöglichkeiten auf das Hier und Jetzt, ohne in unbewusst übernommene einschränkende Verhaltens- oder Denkmuster zu fallen.


Das Modell der oszillierenden Aufmerksamkeit zeigt die drei Räume der Aufmerksamkeitslenkung auf: die Gedanken, die Gefühle und die Empfindungen. Durch die Aufmerksamkeitslenkung erforschen wir diese drei Räume und entwickeln Bewusstheit über diese Bereiche.
Spüren ist ein Weg in Verbindung mit sich selbst zu kommen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene welche sich in ihrem Körper aufgehoben fühlen und einen wertfreien Zugang zu ihren Gefühlen erarbeiten, wachsen in ihrer Persönlichkeit zu einem Selbstverständnis (sich selbst verstehen) und damit verbunden in ein Selbstbewusstsein hinein. Mit sich, den eigenen Empfindungen und Gefühlen verbunden zu sein, unterstützt die Zugehörigkeit im Klassenkontext und somit die Verbundenheit zum Ich, zum Du und zum Wir. Ich beziehe mich hier erneut auf das Autonomiemodell. Eric Berne differenziert zwei Ebenen der Intimität:
Erstens als eine Möglichkeit, wie Menschen zusammen Zeit verbringen.
Zweitens ist Intimität eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.

Wenn ich über einen längeren Zeitraum mit einer Klasse und den Lehrpersonen zusammenarbeiten darf, wächst in der Zusammenarbeit eine Offenheit, welche es erlaubt sich selbst auf der Ebene des Körpers, der Gedanken und der Gefühle wahrzunehmen. Die Haltung die sich daraus entfaltet ist geprägt von Flexibilität. Damit erweitern sich die Möglichkeiten, vielfältig und angemessen auf unterschiedliche Situationen zu reagieren.




Wenn Gefühle begrüsst werden, sind sie eine konkrete Ressource
In den Unterrichtslektionen wende ich unterschiedliche Methoden an. „Fragesnacks“ zum Beispiel sind Fragen, welche auf Zettel geschrieben sind und in einer kleinen Dose versorgt sind. Ergänzend dazu lege ich die zum Buch „Heute bin ich“ gehörigen Fischkarten aus. Sie zeigen verschiedene Gefühle, und diese sind am ganzen Fischkörper sichtbar. Gefühle sind im ganzen Körper wahrnehmbar, die Fischkarten zeigen dies sehr schön auf, die Kinder können einen Bezug zu ihrer Körperempfindung machen.
Ich sitze mit den Kindern am Boden im Kreis und der Reihe nach kann jedes Kind einen Fragesnack aus der Dose ziehen und diesen der Gruppe laut vorlesen. Je nach Alter der Kinder lese ich den Fragesnack vor. Achtsame dialogische Haltung der Erwachsenen bildet den sicheren Rahmen.


© Rahel Marti: Bleistift Zeichnungen von Kindern: „Wie siehst du aus, wenn du traurig bist, eine Heldin bist, Freude hast?“
Fragesnack: „Wie spürst du im Körper,
dass du wütend bist?“
Antworten: „Meine Muskeln werden ganz fest“,
„Ich mache die Faust“,
„Ich merke die Wut im Bauch“.
Fragesnack: „Merkst du, wenn eine Mitschülerin,
ein Mitschüler traurig ist?“
Antworten: „Ja, ich sehe es an den Augen“,
„Ich merke es an der Stimme“, „Ich bemerke, dass er
oder sie im Kreis ganz still ist“.
Fragesnack: „Wie atmest du, wenn du Angst hast?“
Antworten: „Ich halte den Atem an“, „Ich atme
ganz leise“, „Ich halte mir die Hand vor den
Mund und die Nase“.
Fragesnack: „Was geschieht mit deinem Gesicht,
wenn du freudig bist?“
Antworten: „Ich lache“, „Die Muskeln ziehen
nach oben“, „Es wird hell im Gesicht“.
Fragesnack: „Was machst du, wenn es dir
langweilig ist?“
Antworten: „Ich esse etwas“, „Ich sage Mama, dass
es mir langweilig ist“, „Ich nerve meine Schwester“.


Kinder und Jugendliche erfahren voneinander, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind. Dies gibt eine Verbundenheit und eine Freiheit sich mit seinen Gefühlen zu zeigen, darüber zu reden und einander Fragen zu stellen.
© Rahel Marti: Fragesnacks Zettel, die Fischkarten aus dem Buch: Heute bin ich
Kleinere Kinder fühlen sich manchmal allein mit dem Thema Angst. Mit der Angstberatung erfahren sie in der Kleingruppe, dass sie nicht allein sind und dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt damit umzugehen.
Mit offenen Fragen leite ich in das Thema ein.
Manchmal hat man Angst. Kennst du dieses Gefühl?
Kannst du es beschreiben?
Wie fühlt sich Angst in deinem Körper an?
Wo spürst du sie?
Wovor hast du Angst?
Was hilft dir, wenn du Angst hast?

Die Angst nicht leugnen oder überspielen, sondern sie ernst nehmen ohne sich von ihr vereinnahmen zu lassen unterstützt die Kinder darin abzuwägen, ob sie eine Herausforderung annehmen wollen oder nicht und welche Unterstützung sie dazu brauchen.
Die Kinder unterstützen sich gegenseitig, und die Erkenntnis, dass man mit der Angst nicht alleine ist, schafft Verständnis und Verbundenheit in der Gruppe. Emotionsregulation wird so in der Peergroup entwickelt, und im Schulalltag können die Kinder und Jugendlichen einander Erinnerungshilfen anbieten. So wird der Umgang mit Emotionen alltäglich und im Sinne von Akzeptanz selbstverständlich. Wir haben Gefühle, sie kommen und gehen.



Auf der Handlungseben zeigt sich dies zum Beispiel so: In einer Klassenintervention in der Oberstufe kristallisiert sich heraus, dass zwei Jugendliche, Noel und Jannis, immer wieder heftige Kämpfe miteinander haben. Es beginnt mit Spass und endet ernst in einem handfesten Kampf. Beide haben bereits disziplinarische Massnahmen von der Schulleitung erhalten, einen Verweis und die Androhung von einem schulischen Ausschluss.
Als Schulsozialarbeiterin habe ich mit der Einwilligung von Jannis und Noel entschieden, dass ich die Thematik mit der Klasse bearbeiten möchte. Ziel ist es, dass Jannis und Noel aus Sicht der Kolleginnen und Kollegen Feedback und falls möglich Support erhalten. Die Jungs werden also ihre Situation der Klasse mitteilen. Hier ist es wesentlich, die Autonomie der beiden zu wahren, weshalb sie ihre Situation der Klasse gegenüber mit ihren eigenen Worten schildern. Die Klasse sitzt im Kreis und ich gebe den Anlass der Besprechung bekannt, indem ich informiere, dass die beiden Jungs im Rahmen eines Disziplinarverfahrens bei mir in der Beratung sind und nun die Klasse als Unterstützung angefragt wird. Jannis und Noel erläutern ihre Situation. Dies ist ein wichtiger Schritt, obwohl alle in der Klasse um die Thematik wissen, wird diese hier transparent und somit für alle ansprechbar gemacht. Jannis und Noel, oft als die Coolen gesehen, erzählen, wie es ihnen in dieser Situation wirklich geht. Einer der beiden hat dies wie folgt formuliert:

„Also, ja ihr wisst ja, ich habe viel Puff mit Jannis und er mit mir. Und ja, ich habe einen Verweis, und wenn ich das jetzt nicht packe, bekomme ich einen Ausschluss. Das ist für mich nicht gut, da ich eine Lehrstelle finden will, so geht das nicht.“ Auch Jannis teilt seine Situation mit: „Ich habe seit dem Verweis nur noch Streit zu Hause und ich habe Angst, dass ich mich selbst nicht unter Kontrolle bringen kann.“
Die Klasse hört aufmerksam zu. Ich frage, ob sie noch Verständnisfragen haben. Es ist allen klar, worum es geht. Die Verbundenheit ist jetzt spürbar im Raum. Danach geht es weiter mit der Bitte an die Klasse, welche wir im Einzelsetting ausgearbeitet haben. Auch hier sind Bewusstmachung im Sinne der Autonomie und Reflexion ein wesentlicher Teil der Beratung. Dies ist bedeutsam, da im schulischen Kontext das destruktive Verhalten im Umgang mit anspruchsvollen Emotionen oft abgelehnt und sanktioniert und kaum Unterstützung im Erlernen von Alternativen angeboten wird.

Die Jungs sprechen in dieser Phase von Stress, Wut und Angst. Die Zustände werden körperlich wahrgenommen als Unlust, Bauchweh, Kopfschmerzen und Schlafprobleme.
„Was könnte zur Entlastung helfen?“ war die Schlüsselfrage an Jannis und Noel:
mit dem Streit aufhören
sich auf einen gemeinsamen Umgang einigen
die Klasse als Unterstützung anfragen, da sie dies allein nicht schaffen.


Also, wir sind wieder in der Klasse und die beiden Jungs formulieren die Bitte an die Klasse:
„Könntet ihr uns helfen? Allein schaffen wir das nicht.“
Die Klasse ist bereit und es kommen diverse Angebote für Noel und Jannis.
Gruppenarbeiten so aufzuteilen, dass die beiden Jungs nicht zusammen arbeiten müssen
die Pause gemeinsam verbringen
auf dem Schulweg zusammen gehen


Noel und Jannis sind über das Engagement der Mitschülerinnen und Mitschülern gerührt, sie hatten nicht damit gerechnet. Ich gehe noch fokussierter auf die Problematik der Emotionsregulation ein, welche sich bei beiden zeigt. Die Mitschülerinnen und Mitschüler haben Tricks und Tipps für die Emotionsregulation:
weg gehen• tief einatmen
gegen eine Wand kicken
Wasser trinken.


Es kommen super Ideen zusammen. Die beiden Jungs erfahren, dass sie von der Klasse getragen werden. Ich formuliere dies der Klasse gegenüber und würdige ihre Verbundenheit und die Bereitschaft zur Unterstützung. Danach lade ich die Klasse zu Emotionsregulationsimpulsen ein. Dazu gehen wir alle hinaus auf den Pausenplatz.
Ich bitte die Jugendlichen sich auf diese Übungen einzulassen und sage, dass es ein kleines Experiment ist
langsam gehen
zweimal um das Schulhaus rennen
unterschiedliche Oberflächen berühren. Den Boden, das Gras, die Türklinke, den PingPong Tisch etc. und wahrnehmen wie sich diese anfühlen.


Danach gibt es eine kurze Pause. Für Jannis und Noel wird nun je jemand als „Bodyguard“ gewählt, um ihnen in den nächsten vier Wochen beizustehen und Support zu geben.
Die Begleitung durch mich findet wöchentlich statt und ich frage auch bei den Bodyguards regelmässig nach, wie sie die aktuelle Situation sehen. Nach Ablauf dieser vier Wochen hat sich der Konflikt beruhigt, es gibt weder Kämpfe zwischen Joel und Jannis noch sind weitere disziplinarische Massnahmen nötig. Jannis und Noel sind erleichtert. Jannis und Noel berichten, dass sich Entspannung und eine Beruhigung breit machen, körperlich wahrnehmbar im Kopf, im Nacken und in der Konzentrationsfähigkeit.
Jugendliche, die in anspruchsvollen Situationen von Gleichaltrigen und von Erwachsenen getragen und gehalten werden, erfahren Verbundenheit und Toleranz, wichtige Werte für ein Miteinander. Der Bezug zu Bernes Autonomiemodell: Intimität ist eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.


Mit der Methode der Aufmerksamkeitslenkung in der Beratung und in den Klassen werden folgende Sozialkompetenzen gefördert.
Kooperationsfähigkeit, durch die wertfreie Haltung sich selbst und anderen gegenüber.
Mitgefühl, durch die Offenheit und das Sich-erkennen im Anderen (Menschlichkeit).
Emotions- und Stressregulation, durch das Differenzieren des eigenen Erlebens.
Selbstakzeptanz, Selbstfürsorge, Selbstver­trauen.


Durch den Einbezug der Körperempfindungen, der Gedanken und der Gefühle, wird der Mensch in seiner Ganzheit angesprochen. Dieses Ansprechen auf allen drei Ebenen, wirkt verbindend nach innen mit sich selber und nach aussen im Kontakt mit anderen. Wird ein Mensch in der Beratung durch eine freundliche, wertfreie Einladung in seine Ganzheit geführt, ist Entfaltung in ein freies, autonomes Sein möglich. Wer mit sich selber verbunden ist, kann ganz im Sinne von Eric Berne autonom und frei mit sich und anderen im Kontakt sein.
Literaturverzeichnis
Anwendung der Transaktionsanalyse, Theorie und Praxis in der Schule, Thomas Meier-Winter, 1994, Verlag LCH
Achtsam bei sich und im Kontakt, Thea Rytz, 4. Auflage 2018, Verlag hogrefe
Papperla PEP, Körper und Gefühl im Dialog , Schulverlag plus
SEE-learning, soziales, emotionales und ethisches lernen, 2019, Emory University
Was wir sind und was wir sein könnten, Gerald Hüther, 9. Auflage 2012, Fischer Verlag
Heute bin ich, Mies van Hout, 2012, Aracari Verlag,
Rahel Marti
Praxis für Bewegung & Kommunikation
Beraterin im psychosozialen Bereich mit eidg. Diplom, HF
Transaktionsanalytikerin CTA-E
Dipl. Bewegungspädagogin, PSB
Schulsozialarbeiterin
Supervisorin BSO
Beraterin / Coach SGfB
info@rahelmarti.ch
www.rahelmarti.ch
078 881 79 59
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