Das perfekte Gefängnis
Taibi Kahler hat fünf Antreiber herausgestellt, die er am wichtigsten fand und noch heute beschränken sich die meisten Transaktionsanalytiker darauf:
Den Streng dich an!-Antreiber
Den Mach’s recht!-Antreiber
Den Beeil dich!-Antreiber
Den Sei perfekt-Antreiber
Um darauf zu antworten, nehme ich euch mal mit auf meine persönliche Gefängnis-Tour. Überm Eingangstor steht »Sei stark! Sei perfekt!«, das sind meine beiden Lieblingsgefängnisse, flankiert von »Beeil dich!«
Von den beiden anderen erzähl ich euch im Anschluss.
Wenn ihr mögt, folgt mir in Gedanken und prüft, zu welchem Verhalten ihr in Stress-Situationen tendiert – auf welche der fünf Weisen ihr euch freiwillig eurer Freiheit beraubt.
Und so sitze ich hier an einem Sonntag Morgen auf meiner sonnigen Terrasse und beginne diesen Artikel, aufmerksam beobachtet von meinem altbekannten Gefängniswärter Mr. Perfect (ja, ein Mann, aber das ist eine andere Geschichte).
Noch ist alles okay. Anfänge sind total okay. Ich freu mich drauf!
Ich möchte darüber schreiben, wie mein Streben nach Vollkommenheit sowohl wunderbar als auch eine Bürde sein kann. Dabei möchte ich ganz locker bleiben und deshalb werde ich auf gar keinen Fall kritische Stimmen meiner Leser antizipieren, so etwas wie:
»Kaschiert ihr Unwissen mit
vermeintlich lustigem Geschwätz.«
»Weiß nicht viel und redet deshalb
nur über sich.«
»Und die ist Certified
Transactional Analyst??«
»Hätte mehr erwartet.«
»Die fragen wir nicht mehr an!«
Ich widerstehe meinem Fluchtimpuls (Wäsche abhängen, verdorrte Hibiskusblüten abzupfen, Mails checken usw.) und bleibe bei mir sitzen, beobachtend.
Warum haben diese Fantasie-Stimmen eine solche Macht über mich? Nun, sie haben eine direkte Leitung zu sehr, sehr alten verinnerlichten »Botschaften« über mich, die sehr schmerzhaft sind und mit Ängsten verbunden. Und obwohl sie so weh tun, kann ich für einen Moment nicht anders als ihnen folgen, sie ziehen mich in ihren Bann – in der TA nennen wir sie »Bannbotschaften«.
Nein, kein Galgenhumor. Heute kann ich darüber traurig sein und mich gleichermaßen daran erfreuen, was ich aus meinem Leben gemacht habe – gerade deshalb, weil es so war.
Dennoch, manchmal ist sie wieder da, diese Angst. Besonders, wenn ich mich zeigen muss, wie jetzt, gegenüber der DSGTA und deren Leserschaft: Text ist schlecht, du bist eine schlechte TAlerin, keine von uns! Raus!!
Aber – Rettung naht: Wenn ich einen suuuuuuuper perfekten Text abliefere, finden mich andere toll und ich gehöre dazu!
Wäre mein perfekt-Antreiber ein Hund, würde er freudig mit dem Schwanz wedeln: Jetzt geht’s Gassi!
Gemeinsam drehen wir meine Worte auf links. Wir bürsten Sätze so lange bis sie glänzen und streichen dann alles wieder, weil’s einfach immer noch nicht richtig gut ist, nicht gut genug, nicht perfekt genug:
Die Gouldings … Mary und Robert Goulding … die beiden Transaktionsanalytiker Mary und … Das amerikanische Ehepaar Mary und Robert Goulding hat 19 …
Mist. Wann war das? 1973? Nee, das klingt falsch. 1975? Könnte sein … Das muss unbedingt rein, nicht dass man denkt, ich hätte keine Ahnung, ich muss nachschauen (peinlich!! hätte ich wissen müssen!). In welchem ihrer Aufsätze haben sie denn erstmals über Bannbotschaften geschrieben? Ich schau mal im Transactional Analysis Journal. Stopp - hießen die nicht auch mal »Hexenbotschaften«? Das sollte ich vielleicht erwähnen. Campos, Leonard Campos hieß der mit den Hexenbotschaften. Darauf basierend haben die Gouldings … nein, zu kompliziert. Stattdessen vielleicht noch kurz über die Kultur schreiben, aus der dieses Gedankengut kam. Ja, das wäre noch wichtig: ein kurzer Abriss über das Jahrzehnt von 1965 bis 1975.
Mein Herz rast. Das schaff ich nie!!!
Ich höre eine Stimme: »Reiß dich zusammen, Dasa! Das kriegst du hin! Wollen doch mal sehen, wie du es diesen hochwohlgeborenen Transaktionsanalytikern und überkritischen Lesern zeigst!
Ich bin sauer und wir sind jetzt zu dritt: Mein sei stark-Antreiber hat sich dazu gesellt. Ich fühle mich gleich besser: stark, gewappnet. Und dann – wäre doch gelacht! – schau ich mir das alles an, was ich da zusammen geschrieben habe, und mach das mal ordentlich, so wie ich’s von mir gewohnt bin. Ich schaff das, kein Problem. Hab doch alles in meinem Leben geschafft!
Würde ich so – mich immer wieder korrigierend - einen Vortrag halten hätte ich spätestens jetzt alle Zuhörer verloren und würde das im Nachhinein auf die Tatsache zurückführen, dass ich eben nicht perfekt genug vorbereitet war. Das stimmt aber nicht, der eigentliche Grund für mein Verheddern liegt eine Etage tiefer: Bei meinen verinnerlichten Bannbotschaften – die haben mich gestresst.
Das Ehepaar Mary und Robert Goulding hat in den 70er Jahren folgende Bannbotschaften als die relevantesten herausgestellt:
Sei nicht du! (Sei kein Junge/Mädchen!)
Sei nicht wichtig!
Sei nicht nahe! (Traue keinem!)
Gehöre nicht dazu!
Sei kein Kind!
Werde nicht erwachsen!
Fühle nicht!
Zeige keine Gefühle!
Denke nicht!
Schaffe es nicht!
Sei nicht gesund!
Sei nicht normal!
Sei nicht glücklich!
»Sind das wirklich die richtigen Bannbotschaften?«, fragt Mr. Perfect, »Es gibt doch noch andere«, sagt er, »solltest du alle auflisten.«
Okay. Ich gehe zum Buchregal. Ich schaue, ich lese. Ich schaue auf meinem Computer nach, widerstehe dem Impuls, den kompletten Originaltext aus dem TA Journal von 1975 zu lesen. Keine Zeit! Das muss ich jetzt schnell hinkriegen. Zackzack! Chopchop! Noch so viel zu tun und so wenig Zeit!
Ah - mein »Beeil dich!!!«-Antreiber ist nun auch dabei. Wir sind jetzt zu viert, ich und meine drei Antreiber kopflos im Gefängnishof. Wir sehen nicht, dass die Sonne scheint. Wir fühlen nicht die angenehme Wärme auf unserer Haut. Wir fühlen nichts mehr, wir rennen um mein Leben.
Kennst du dieses Gefühl? Kennst du dieses Antreiber-Verhalten von dir?
Ich hab mich durchs Beschreiben meiner Situation beruhigt (oder Mr. Perfect holt sich nur schnell was zu trinken) und komme nochmal zurück zu den Bannbotschaften: Was ist das?
Bannbotschaften im transaktionsanalytischen Sinne sind in uns abgespeicherte »Verbote«, die uns daran hindern ein erfülltes Leben zu führen. Wir entwickeln sie selbst von Geburt an in Resonanz auf die Menschen in unserem Umfeld, in der Regel zunächst Eltern und Großeltern. Für welche Botschaften wir uns unbewusst entscheiden ist abhängig von der Art und Weise wie andere uns anschauen, berühren, halten, mit uns sprechen …
Schon als sehr kleine Wesen erfühlen wir, ob wir in ihrer Welt willkommen sind, ob wir als Junge oder Mädchen erwünscht sind, ob wir mehr Liebe bekommen, wenn wir schon sehr früh sehr vernünftig sind, ob wir unseres Lebens froh, erfolgreich sein dürfen …
Noch bevor wir richtig denken und sprechen können entwickeln wir bereits eine Haltung zu uns selbst, anderen und dem Leben gegenüber, die uns unbewusst begleitet bis ins Erwachsenenleben – so lange bis wir sie uns bewusst machen.
Unsere Bannbotschaften stellen das eigentliche Gefängnis dar und mit den Antreibern versuchen wir, deren Bann zu entgehen. Die Antreiber geben uns ein vorübergehendes Gefühl, okay zu sein.
Die Transaktionsanalytikerin Adrienne Lee hat diese Verbindung sehr nachvollziehbar visualisiert und ich hab‘s nachgezeichnet (Zeichnen ist eines meiner bewährten Hausmittel gegen akute Bannbotschafteritis).
Ich hoffe, ich konnte euch deutlich machen, dass es einem als drowning (wo)man nicht gut geht. Die Ballons sind nur besser lebbar, weil sie uns für einen Moment vorgaukeln, wir müssten einfach nur perfekt, stark, sauschnell etc. sein um okay zu sein und von anderen Wertschätzung zu erfahren.
Was kann man tun, fragst du dich vielleicht, um diesen Moment zu verlängern, so etwa bis zum Lebensende? Dazu komm ich gleich – Mr. Perfekt möchte unbedingt noch etwas ergänzen:
Sowohl unsere Bannbotschaften als auch unsere Strategien, ihnen zu entgehen sind wichtige Kapitel in unserem »Lebensdrehbuch« oder »Lebensskript«. Das ist ein Konzept von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, und er bezeichnet damit einen Lebensplan, dem wir von Geburt an unbewusst folgen. Daher ist das Ziel der transaktionsanalytischen Beratung oder Therapie die »Skriptfreiheit«, die »Autonomie«.
Nun folgt eine Teilantwort auf meine obige Frage, was man tun kann.
Ein erster Schritt in Richtung Autonomie ist überhaupt anzuerkennen, dass man sich in einem Gefängnis befindet.
0 Ich stehe unter Stress, mein Selbstwertgefühl ist »angeknabbert«. Wie könnte ich mich wieder stabilisieren? Was kann ich tun, um mich wieder gut zu fühlen?
1 Als vermeintliche Rettung gehe ich in mein Antreiber-Verhalten. In diesem Zustand spüre ich mich wenig, habe kaum Kontakt zu mir und meinen echten Bedürfnissen. Aber ich erlebe mich handlungsfähig. Ich kann was dagegen tun!
2 Da man nie stark, schnell, perfekt etc. genug sein kann, wenn man im Antreiber-Gefängnis sitzt, geht die Aktion schief. Ich fühle mich schlecht, verletzt, schuldig, besorgt, leer, verwirrt oder verlegen.
3 In einem Aufbäumen versuche ich, der Verzweiflung über mein schlechtes Gefühl zu entkommen, indem ich andere dafür verantwortlich mache. Hier fühle ich mich möglicherweise vorwurfsvoll, triumphierend, euphorisch, gehässig, wütend.
4 Aber es hilft nichts: Letztlich bringt der Angriff auf andere keine Entlastung und Selbstvorwürfe und Lebensskriptüberzeugungen sowie die dazugehörigen Gefühle breiten sich aus. Hier fühle ich mich möglicherweise wertlos, unerwünscht, hoffnungslos, in der Klemme, ungeliebt, aussichtslos – total frustriert.
Diesen Ablauf kenne ich bei mir mittlerweile recht gut, deshalb hat’s bei mir nicht so lange gedauert bis ich bemerkt habe, dass ich »drin« bin in meinem Gefängnis. Als ich mir dabei zuschaute und euch beschreiben habe, was ich gerade erlebe – da war ich mit einem Bein schon draußen.
Jetzt hol ich mir noch das andere Bein und beschreibe euch wie versprochen die beiden noch fehlenden Antreiber-Verhalten »Mach’s (anderen) recht!« und »Streng dich an!« Vielleicht erkennst du dich in diesen Beschreibungen wieder? Dann bist du auch schon mit einem Bein draußen. Was das andere Bein angeht – da brauchst du womöglich Unterstützung von einem Berater oder Therapeuten.
Der »Mach’s recht«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich es anderen recht mache.
Hier zeigen sich Menschen stets bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen. Sie haben immer alle im Blick und versuchen, es ihnen recht zu machen: »Kann ich was tun, brauchst du was?« Oft agieren sie schon im Vorfeld, ohne Aufforderung. Sie können sich gut in andere einfühlen und wissen daher oft schon, was andere brauchen.
Meine Klienten mit diesem Antreiber bezeichnen sich häufig als »harmoniebedürftig«. Sie halten Konflikte nicht gut aus, können schlecht nein sagen und verzichten auf ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der anderen: »Mir egal, wo wir hingehen!«
Das ist nicht zu verwechseln mit bewusster Rücksichtnahme auf andere. Bei einer bewussten Entscheidung würde man wohl eher mal so-mal so entscheiden.
Andere erleben dieses Verhalten oft als konturenlos: »Jetzt sag doch mal, was DU willst!!« Tja, das fällt unter diesem Antreiber schwer …
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen: Sie sind einfühlsame Zuhörer, sie geben anderen viel Raum und schaffen häufig eine angenehme Atmosphäre für alle.
Der »Streng dich an«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich mich total anstrenge.
Menschen, die dieses Antreiber-Verhalten zeigen spüren einen permanenten Leistungsdruck und zweifeln an ihrer Leistungsfähigkeit. Alles fühlt sich dann schwer und unerreichbar an. Sie haben Angst, es nicht zu schaffen – und meistens schaffen sie es dann auch nicht, eben weil sie sich so anstrengen. Sie misstrauen »leichten Erfolgen«: Wenn es zu leicht geht, ist es nichts wert – sind sie nichts wert, nicht okay. Die Mühe, die sie sich mit allem geben steht im Vordergrund, nicht das zu erreichende Ziel.
Andere erleben dieses Verhalten oft als lähmend, erdrückend. Manchmal lassen sie sich vielleicht in die Schwere einladen oder sie machen Hilfsangebote à la »Mach’s dir doch nicht so schwer!«, die dann brüsk abgelehnt werden: »Ja, du machst es dir einfach!!«
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen:
Sie haben einen langen Atem, sind ausdauernd, beharrlich, geben nicht gleich auf. Sie scheuen keine Mühen und haben oft auch Freude daran, sich in etwas so richtig reinzuknien.
Wohlgemerkt: Wir sind nicht immer im Antreiber-Verhalten! Dieses Verhalten aktivieren wir unbewusst in Situationen, in denen wir uns gestresst fühlen.
Wir »haben« auch nicht nur einen Antreiber, sondern meistens eine Kombination, wobei einer oft am stärksten ist. Meine Erfahrung ist, dass sich das je nach Situation verändern kann: Mal führt der eine, mal der andere Antreiber.
So. Und wie kommt man da raus oder erst gar nicht rein?
Der erste Schritt ist wie gesagt, sich dessen bewusst zu werden, dass man »drin« ist.
Sich mit einem liebevollen Blick (also nicht wertend) beobachten hilft schon ungemein:
Innehalten, Atmen, spazierengehen, zeichnen … was immer dir hilft, um wieder in Kontakt zu dir zu kommen.
Der zweite Schritt ist komplexer:
Ich sagte oben, dass unsere Bannbotschaften das eigentliche Gefängnis darstellen. Nun, Bannbotschaften sind unbewusst verinnerlichte Verbote und die lassen sich mit Erlaubnissen entkräften. Diese Idee ist sensationell (und einer der Gründe, warum ich TA liebe), aber das ist natürlich nicht so einfach wie das klingt.
Um seinen Bannbotschaften auf die Spur zu kommen und sie zu entkräften braucht es professionelle Hilfe. Es braucht eine gelingende Beziehung zu einem Menschen, der einem genau das gibt, was man als Kind nicht bekommen hat. Es braucht Zeit, um sich genau so okay zu fühlen wie man ist. Das vielerorts in den sozialen Medien grassierende »Love yourself« ist alleine nicht zu bewerkstelligen, denn der Grund, warum uns das so schwer fällt, liegt in unseren ersten Beziehungen.
Meinen Prozess habe ich als bisweilen schwer und gleichermaßen erfüllend und bereichernd erlebt. Oft hat es auch Spaß gemacht und ich hab’s genossen.
Ich bin noch dabei – ich glaube, wir sind immer dabei – und ich erfreue mich daran, mich immer besser kennenzulernen, immer mehr zu mir zu kommen. Ich teile meine Erfahrungen gerne, weil ich andere dazu ermutigen möchte, auch diesen Weg zu gehen: Den einzigen Weg in die Freiheit.
Freiheit für mich bedeutet zum Beispiel: Ich bin okay, wenn ich einen Artikel schreibe, der nicht superkalifragilistigexpialigetisch ist. Ich hoffe, er gefällt euch und ich kann es aushalten, wenn jemand von euch enttäuscht ist.
Ich mag meinen Hang zu Vollkommenheit, meine Stärke und meine Schnelligkeit. So lange ich nicht im Gefängnis sitze sind das wunderbare Werkzeuge.
Den Schlüssel zu meiner Gefängniszelle halte ich in der Hand – und wenn ich ihn mal nicht finde, weiß ich, wer mir beim Suchen helfen kann.
Zu allen in diesem Artikel genannten Konzepten gibt es Originalliteratur (Eric Berne, Taibi Kahler) und zahlreiche Sekundärliteratur. Hier einige ausgewählte Quellen (Themen alfabetisch geordnet):
journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/036215377500500318
www.youtube.com/watch?v=OuxCl5A98gE
journals.sagepub.com/doi/10.1177/036215377400400110
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