artikelfebruar2021

Ich entscheide mich – Fragen an eine Grundannahme
Identität als soziale Konstruktion

Autor: Peter Rudolph – In diesem Artikel reflektiere ich, wie transaktionsanalytische Beratung Identitätsarbeit unterstützen kann. Ausgehend von einigen allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Identität, Selbst und Welt beleuchte ich dabei beispielhaft das Modell der Transaktionen in Bezug auf diese Frage, um dann anhand eines Fallbeispiels darzustellen, wie diese Überlegungen in der Beratung ihren Niederschlag finden.
Als transaktionsanalytischer Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie ist das Verständnis von Menschen, ihres Ich-Seins, ihres Ich-Werdens, ebenso wie ihres Wir-Seins ein basales und auch für das konkrete Arbeiten wichtiges Anliegen. Wie verstehe ich die Person, die vor mir sitzt mit bestimmten Wünschen, Hoffnungen, Phantasien, Erschöpfungszuständen, Enttäuschungen, Ängsten?
Wie sehe ich in ihr ein Ich als eine selbstständige, abgegrenzte Ganzheit, die sich mit anderen abgegrenzten Ganzheiten selbstbestimmt und bewusst verbindet. Oder sehe ich ein Netzwerk von Personen, die sich gegenseitig durchdringen, aufeinander einwirken, voneinander abhängig sind?
Transaktionsanalytische Beratung ist ebenso wie andere Formen psychosozialer, reflexiver Beratung über die anlassorientierte Unterstützung bei Problemlösungen hinaus ein Raum zur weitergehenden Selbstreflexion und Selbstkonstruktion1. Sie bietet eine Möglichkeit, eigene Identität zu finden, zu spüren, und in einem Diskurs der Freiheit2 zu gestalten. Wer bin ich wie mit wem wofür – ist die Frage, die sich hinter der Erschöpfung, dem eskalierten Konflikt oder dem Burn-out (meist) verbirgt. Im Verhalten, das zum Problem wird, die Haltung zu finden und zu nennen, in dieser dann die Gewordenheit und die Identität zu erkennen und hier Entwicklungsoptionen zu öffnen, das ist aus meiner Erfahrung Kernaufgabe von Beratung.
Es ist eine Stärke der Transaktionsanalyse, dass sie Modelle anbietet, die personenorientierte, ebenso wie dyadische, triadische und polyadische Perspektiven ermöglichen. Gerade die Mehrperspektivität macht es in der Beratung möglich, sozusagen ‚Modell-intern‘ die Perspektive des konkreten Alltagshandelns in seinen unterschiedlichen Dimensionen z.B. mit der der transgenerationalen Loyalität oder aber der frühkindlichen Prägung relativ bruchfrei zu verbinden.
Bevor ich die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt stärker in den Fokus nehme und die Bedeutung für das konkrete Beratungshandeln, ist es sinnvoll, sich einen Moment lang mit der Frage zu beschäftigen, was wir unter Identität verstehen – und wie dies mit dem Thema ‚Perfekt‘ zusammenhängt.
© Pixabay janeb13
Schauen wir die Geburt dieser Ich – Identität oder auch des Individuums an, so will ich auf die Renaissance verweisen, die zunächst mal eine Zeit gigantischer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderung war. Der Einzelne, die Gesellschaft, Welt, Spiritualität – alles organisierte sich neu. Hier passt die bekannte Proportionsstudie von Leonardo da Vinci (1492) als Zeichen der neuen Weltsicht. In ihr wird der Mensch in seiner körperlichen Beschaffenheit in das Zentrum gesetzt und zum Maßstab für ein neues Ordnungssystem gemacht. Die Renaissance kann in gewisser Weise als der Beginn der der neuzeitlichen anthropozentrischen Weltsicht begriffen werden.
Etwas später finden wir den ersten wichtigen Ich – Roman: Der abenteuerliche Simplicissimus (Teutsch) ist ein sogenannter Schelmenroman, der von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1625–1676) im Jahr 1668 veröffentlicht wurde. Dieser Roman stellt das wichtigste Werk seiner Art in dieser Zeit dar. Er gilt als der erste deutschsprachige Abenteuerroman. Es ist ein faszinierender Roman eines Ich-Erzählers. Das Leben einer einzelnen Person ist der rote Faden dieser Geschichte des 30-jährigen Krieges.
So haben wir in diesem Roman einerseits die Perspektive des Ich, des Individuums und andererseits noch den Einzelnen als Träger für die Geschichte – also quasi nur als Folie.
© Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 15. März 2008 (Hochladedatum) durch Abrev, Gemeinfrei, commons.wikimedia.org
Jörg Rasche schließlich verweist in seinem Buch „Musik als Spiegel der Seele“3 auf das 18. und 19. Jahrhundert mit seinen schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Krisen. Nach einer Welle der Hoffnung wurde Europa von Zensur und Unterdrückung erschüttert.
Die entstehende bürgerliche Klasse wandte sich nach innen und entdeckte das ‚Ich‘. Jean Paul, ein romantischer Autor der Zeit formuliert es folgendermaßen: „An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein ich’ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“
Erik Erikson sieht „das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrecht zu erhalten. „… Das Gefühl der Ich-Identität ist … das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen der anderen hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten.“4
Er definiert Identität
„als einen Prozess, der im Kern des Individuums lokalisiert ist und doch auch im Kern seiner gesellschaftlichen Kultur, …“ (ebda. S.18).
Weiterhin ist es ein Prozess, in dem der Einzelne seine Wahrnehmung von sich selbst und von den anderen abgleicht mit den Wahrnehmungen, die er bei den anderen Menschen von ihm und von sich wahrnimmt – also ein Prozess wechselseitiger Durchdringung und Abstimmung aufeinander.
„Und schließlich“, so führt Erikson aus, „können wir bei der Besprechung der Identität nicht das persönliche Wachstum vom Wandel der Gesellschaft trennen.“


Hier formuliert Erikson noch einmal deutlich die gesellschaftliche Bedingtheit persönlicher, subjektiver Identität. Für uns als BeraterInnen ist von Bedeutung, dass Identität eine Konstruktion ist,
die uns hilft, uns in der Welt zurecht zu finden und
innere und äußere Ansprüche miteinander zu verbinden.


Dem Einzelnen kommt die Aufgabe zu, sich selbst und sein Leben passend zu den Umständen, bzw. zu seinen externen Kontexten und passend zu seiner Geschichte und seinen inneren Bedürfnissen, mit anderen Worten zu seinen inneren Kontexten zu gestalten – mit all den Freiheitsrisiken, die damit verbunden sind. Das Gelingen dieser inneren und äußeren Gestaltungsarbeit führt für die einzelne Person
zum Erleben von Kohärenz und Authentizität als eher innere Qualitätsmerkmale
und zum Erleben von Anerkennung und Handlungskompetenz als eher äußerliche Qualität.
Das Herstellen und Erleben dieser Qualitäten kann als Anzeichen für „gelungene Identität bezeichnet werden.“ (ebda. S. 62)

Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Identitätsentwicklung heutzutage stattfindet, sind herausfordernd und in Bewegung. Schlagworte, die diese Bewegung charakterisieren, sind
„die Erfahrung der Entbettung oder eine ‚ontologische Bodenlosigkeit’“ (Keupp)
die Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster
eine verringerte Erwerbsarbeit im Sinne eines Systems, das der eigenen Identität lebenslange Grundlage und Rahmen gibt
eine Pluralisierung von Lebensformen und Milieus
Die Konstruktion des Selbst und der eigenen Identität gestaltet sich als ‚multioptionaler Prozess‘ der täglich neu zu kalibrieren ist.

Was sich im Rahmen des Artikels theoretisch abgehoben anhören mag, findet in der konkreten Beratungswirklichkeit statt, wenn z.B. der ostfriesische Arbeiter von VW im Rahmen von Umstrukturierungen Umzüge nach München, nach Bern, nach Frankfurt, nach Warschau, nach Bremen zu bewältigen hat – und jeweils sich auf die Kultur, die Rhythmen, die Arten des Fühlens und sich Verbindens einzustellen hat – nicht als äußeren oberflächlichen Anpassungsprozess, sondern als authentischen und autonomen Entwicklungsprozess. Wo bleibt er mit seiner Trauer um die vielen Abschiede und der Unsicherheit um die vielen ‚Ankommen‘, wo bleibt er mit Vorlieben? Wieviel Trauer ist angemessen? Was ist mit seiner Sehnsucht, Tee zu trinken und dabei auf Deiche zu schauen – ist das ‚erwachsen‘ (funktionsanalytisch gesprochen)?
Es findet statt, wenn der syrische Arzt, der nach einer langen und für seine Familie noch fort dauernden Migrations – und Fluchtgeschichte, Zweifel daran hat, ob er seine Tochter zum Schwimmunterricht gehen lassen will oder ob seine Frau mehr verdienen kann und darf als er. Das sind nicht nur ‚interessante‘ äußere Normenkonflikte, sondern Entscheidungsprozesse, die tief in seine Identität hineinwirken.
Identitätsarbeit ist ein Prozess, den wir jeden Tag zu leisten haben. Dabei lassen die äußeren Bedingungen nicht immer die Zeit, die wir brauchen, um in Ruhe und eigener Geschwindigkeit die inneren Prozesse zu tun, die für die Bewältigung von Entwicklung nötig und sinnvoll sind.
In diesem Zusammenhang taucht dann wieder eine Flut von Ratgeber Büchern auf, in denen auch transaktionsanalytische Modelle die Produktion eines ‚perfekt‘ funktionierenden Selbst eher im Rahmen eines ‚Get-happy-im-Do-it-yourself-Verfahrens‘ anregen5.
Die Produktion eines gelingenden Selbst ist aber nicht so eindimensional zu fassen. Die täglichen Begegnungen in der Beratungspraxis zeigen, dass Identität ein komplexer, fragiler und stets neu zu formender Prozess ist, der Zeit, Verstehen, Achtsamkeit und Unterstützung braucht. Nehmen wir uns diesen Raum nicht, schleicht sich in diesen Prozess das ‚Be Perfect‘ hinein, das dann in seinem Zusammenbruch hohe Ausfallkosten (Gewalt, Sucht, Erschöpfungssyndrom und andere Formen) mit sich bringt. Hannes Schneider6 zeigt in seinen Überlegungen und Weiterentwicklungen zum Antreiber- Modell, wie wir die Fähigkeiten, die sich in den Antreibern entwickeln, benötigen, um uns in der Welt zurecht zu finden. Diese Transformation benötigt Raum und Zeit. Gerade der Antreiber ‚Sei perfekt‘ beinhaltet neben den Einschränkungen auch eine Fähigkeit und ein Gefühl für Vollkommenheit. Der ostfriesische Landarbeiter ebenso wie der syrische Arzt benötigen ein Empfinden darüber, was ist eine gelungene Einstellung auf die immer neuen Verhältnisse, was ist das gelungene und gelingende Identisch-Bleiben. Das ist dann vielleicht keine Perfektion, aber eine Gelungenheit, die auch mit Schönheit zu tun hat.
Im Folgenden werde ich zunächst Überlegungen verschiedener AutorInnen vorstellen, die die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt thematisieren. Im weiteren Verlauf werde ich das Modell der Transaktionen kurz kritisch reflektieren – und dann an einem Beispiel aufzeigen, wie sich das Verständnis stärker vernetzter Identität in der Beratungsarbeit auswirken kann.
All dies bleibt in einem kurzen Artikel fragmentarisch, zeigt aber, so hoffe ich, die Richtung auf, in der transaktionsanalytische Theorie- und Modellentwicklung noch Entwicklungsoptionen und -bedarf hat.
Das dynamische Handlungspentagon
AutorInnen zum Thema
Hilarion Petzold, ein wesentlicher Autor der Integrativen Therapie, hat die Mehrdimensionalität des Menschen, seine Verbundenheit in unterschiedlichen Ebenen und Zeiten in einem Modell verbildlicht (siehe Abbildung oben).
Die Person organisiert und lebt in den unterschiedlichen Dimensionen und Hintergründen. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunftsbilder sind mitgestaltend für die Konstruktion eines Selbst in einer Hier-und-Jetzt-Wirklichkeit. Entwicklung im Hier und Jetzt findet auf der Grundlage dieser Dimensionen statt und wirkt in diese wieder hinein.
James M. Sedgwick z.B. betont in seinem Buch ‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’ (2021 Oxon) die vertikale und die horizontale Ebene von Problem- und Wirklichkeitsdefinitionen. Die vertikale Ebene betont die klientenzentrierten Perspektiven – die subjektive Geschichte, ebenso wie intrapsychische Konfliktdimensionen. Die horizontale Ebene betont die Ebene der Vernetzung mit externen Bedingungen – soziale Verhältnisse, Beziehungen, Loyalitäten, Verstrickungen, sozioökonomische Bedingungen. Sedgwick arbeitet daran, nicht subjekt- oder kontextorientiert Probleme zu definieren, sondern Modelle zu entwickeln, die Subjekt und Welt integrieren als einander bedingendes Ganzes.
„Claiming that a clear point can be found where we end and the world begins is neither possible nor necessary to understand ourselves even as the deeply ingrained habits of clinical theory may make it seem so. … Sweep away the borders and we have to understand autonomy differently.”7
Mathias Sell entwickelt Beziehungsformen und Beziehungszustände als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen.8 Er weist darauf hin, dass bereits Berne die Vermitteltheit innerer Zustände mit der Außenwelt als konstitutiv für gelingende Identitätsentwicklung betrachtete:
„Es bleibt die Frage offen, wie viel Eigenständigkeit die innere Welt behält oder wie sehr die innere Tätigkeit von dieser äußeren kommunikativen Tätigkeit in Abhängigkeit verstanden und erklärt werden muss. … Wir meinen mit Beziehung nicht mehr einen Bezeichnungsbegriff, der das Zusammenkommen von zwei Menschen bezeichnet, sondern beschreiben sie als eine Grundkategorie des menschlichen Daseins selbst.
Ein Beziehungszustand ist definiert als ein kohärentes System von Gefühlen und Gedanken, das in Verbindung mit gewählten Mustern von kohärenten Verhaltensweisen, bezogen auf eine bestimmte Situation, in Ich-Zuständen zum Ausdruck kommt.“9
Reflexion eines transaktionsanalytischen Modells
Ausgehend von der oben beschriebenen strukturellen Vernetztheit von uns Menschen ist es notwendig, einige unserer transaktionsanalytischen Modelle weiterzuentwickeln – so wie z.B. Matthias Sell es mit den Ich-Zuständen macht –, aber auch kritisch zu hinterfragen.
Das Modell der Transaktionen ist hierfür ein Beispiel. Es lädt dazu ein, den Prozess wahrzunehmen, wie Menschen sich miteinander verbinden und damit eine gemeinsame Wirklichkeit herstellen. Es ist ein außerordentlich hilfreiches Modell, das Menschen dabei unterstützt, wahrzunehmen, was sie tun und wie sie dabei ihre Wirklichkeit konstruieren.
Dieses Modell ist aber auch mit Risiken verbunden. Denn es bietet ein Kommunikationskonzept, das suggeriert, wir könnten Kommunikation selbstbestimmt und bewusst steuern. Die eine getrennte Person handelt mit der anderen Person und entwickelt sich in diesem Austausch weiter. Im Modell bleiben sie dabei autonome und getrennte Personen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit dessen, was in Kommunikation stattfindet, bleibt damit häufig verborgen. Diese bewusste Reduzierung befördert die Idee und manchmal auch die Illusion einer unabhängigen willentlichen Steuerung, ebenso wie die Vorstellung einer linearen Abfolge von Aktionen mit Stimulus und Reaktion10.
Hier reduziert das Modell der Transaktionen die Komplexität kommunikativer Wirklichkeit in einer hilfreichen, aber oftmals eben auch reduzierenden Weise, in der wesentliche Aspekte nicht gesehen werden.In Bernes Beispiel, in dem „ein väterlicher Ehemann sich um seine ihm dankbar ergebene Frau kümmert“ (ebda. S. 27), ist seine Deutung, dass es sich hier um eine komplementäre EL-K-Transaktion handelt, zwar möglicherweise zutreffend. Zugleich greift dieses Modell aber nicht annähernd den möglicherweise chronischen Charakter der Unterwerfung und/oder das dahinterstehende strukturelle sozialökonomische Abhängigkeits- und Gewaltverhältnis auf. Das Beziehungsmuster der Frau, die sich autonom und selbstbestimmt gegenüber ihrem väterlich sorgenden Ehemann gibt – ist kurz gegriffen und brisant, da es Aspekte, die die Selbstbestimmung infrage stellen, nicht angemessen aufgreift. Dass dieses Modell von einem Autor entwickelt wurde, dem die Rolle des ‚väterlich sorgenden Ehemanns‘ attraktiv ist, betont die Brisanz dieser Reduzierung.
Das Modell fördert die Idee zweier unabhängiger Individuen, die sich aus freien Stücken zu ihren jeweiligen Handlungsmustern entschieden haben – und übersieht dabei die wechselseitige und soziokulturelle Verschränktheit der beiden Individuen.
Auf der Ebene der Konzepte und Theorieentwicklung werden wir, so hoffe ich, Anregungen bekommen, die über unsere bisherigen Modelle hinaus die Bedingtheit und Gebundenheit des Menschen in und mit seiner Welt zupackender und hilfreicher zusammenfassen, als es unsere Modelle schon jetzt tun. Selbstverständlich haben Modelle die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, damit wir mit dieser Komplexität von Wirklichkeit überhaupt arbeiten können. Zugleich müssen wir aber aufpassen, die Modelle nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Dabei brauchen wir auch den Mut und die Standfestigkeit, auszuhalten, dass diese Wirklichkeit unfassbar komplexer ist als unsere Modelle.
Aufgabe transaktionsanalytischer Beratung und Psychotherapie ist es aus meiner Sicht, die Ganzheit und Komplexität des Menschen mitzudenken, wissend, dass wir sie nicht fassen können:
„Ein menschliches Wesen, das in Beziehung zu einem anderen steht, hat nur eine sehr begrenzte Kontrolle über das, was in dieser Beziehung passiert. Es ist Teil einer Zweipersoneneinheit und die Kontrolle, die irgendein Teil über irgendein Ganzes haben kann, ist streng begrenzt.“10
„Über die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Empfindungen haben wir keinerlei bewusste Kontrolle. Im undurchdringlichen Dickicht unserer Neuronen laufen eigenständige Programme ab. Unser Bewusstsein – das ‚Ich’, das den Motor anwirft, wenn wir morgens aufwachen – macht nur den kleinsten Teil dessen aus, was in unserem Gehirn abläuft. … (Das) Bewusstsein ist wie ein blinder Passagier auf einem Ozeandampfer, der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur eine Ahnung von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums zu haben.“12 Die Idee, dass wir uns autonom und selbstbestimmt – sozusagen perfekt – selbst gestalten und bestimmen, bleibt eine freundliche und manchmal hilfreiche Illusion.
Diese Überlegungen und Fragmente mögen theoretisch fern klingen, haben aber in der Praxis transaktionsanalytischer Beratung durchaus Folgen. Hierzu will ich ein Beispiel aus meiner Praxis darstellen.
Fallbeispiel
Angela13 , eine 39 – jährige Hortleiterin – hatte bisher erfolgreich in ihrer Einrichtung gearbeitet; sie erlebte aber immer wieder frustrierende Konflikte mit ihrer Vorgesetzten. Sie sah in dieser Zusammenarbeit keine mögliche Perspektive und überlegte nun, ob und wohin sie sich neu bewerben könne. Als sie sich in der Beratung damit einbringt, entwickelt sie Ideen, was sie tun kann und will, findet aber immer wieder Gründe, warum alle diese Ideen nicht wirklich funktionieren können. Es ist – auf der Ebene des Verhaltens - das Muster eines Ja-Aber-Spiels. Ich erlebe sie immer wieder in einer Haltung des angepassten Kind-Ichs. Ich selber erlebe mich zunehmend angestrengt, hilflos. Die Atmosphäre zwischen uns wird zunehmend ruhiger, passiver, schwerer. Eine gedrückte Stimmung entwickelt sich, als wären wir eine verschworene verlorene Gemeinschaft.
Ich frage sie, ob sie diese Schwere, Atemlosigkeit auch wahrnehme – und sie bejaht dies. Wir sprechen über diese Atmosphäre der Schwere und von Ausgeliefert-Sein – über eine erlebte Chancenlosigkeit und es wird deutlich, dass das so nicht in die Gegenwart passt.
Hier findet ein erstes Durchatmen statt. Die Schwere hat Worte bekommen und ist damit nicht mehr so drängend schwer.
Ich greife ihre anfängliche Idee einer erfolgreichen und ‚leichten‘ Berufskarriere auf, sage ihr: ‚Stell Dir vor, Du würdest eine Stelle finden, die Deinen Kompetenzen und Wünschen gemäß wäre, Du würdest diese Stelle nehmen und Dich daran freuen – für wen wäre das ein Problem?‘
Hier fällt ihr sofort ihre Mutter ein, und Angela erzählt, dass diese als ganz junges Kind mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen sei; sie waren im letzten Treck über die zugefrorene Ostsee und dabei von den nachrückenden russischen Truppen eingeholt worden. Als Angela erzählte ‚und da sind die Russen 3-mal rüber gegangen‘, war dieses Atemanhalten im Raum – die Entscheidung, auszuhalten, um zu überleben. Sich zusammenzureißen, nicht zu spüren, die Hoffnung auf Glück aufzugeben und den Atem anhalten, das waren die Überlebensstrategien, die die Großmutter, die Mutter und dann auch die Tochter entwickelt und übernommen hatten. Was nach aussen als Ja-aber-Spiel sichtbar wird, ist nach innen eine ‚perfekte‘ Adaption an die Bezugsrahmen und die Lebensgeschichten ihrer Mutter und Großmutter – eine fein austarierte Aufrechterhaltung des Generationen-übergreifenden Bezugsrahmens.
Mir war es in der Situation wichtig, dass diese Erzählung und das Leid der beiden vorhergehenden Generationen einen eigenen Raum hatten und auch eigene Würdigung erfuhren. Auch wenn spürbar war, dass sich die Tochter mit der Mutter liebend verbunden fühlte, so wie diese wiederum mit ihrer Mutter, so schien es gleichzeitig nicht erlaubt, als getrennte Person mit einer eigenen Lebendigkeit aufzutauchen. Die Beziehungsgrundlage war identifizierend und so sich gegenseitig schützend. Weder die Großmutter, die geflohen war, noch die Mutter, die das als Kind erlebt hatte, noch Angela waren emotional jemals in Norddeutschland angekommen. Ihre gemeinsame Selbstkonstruktion blieb die der Geflüchteten, Heimatlosen, Ausgelieferten. Da die historische Erfahrung nicht integriert werden konnte, ‚erstarrte‘ der Prozess der permanenten Identitätswandlung. Das Gefühl der Vollkommenheit (Perfektseins) wurde gestört, was zur Abwehrreaktion auf der Ebene des Antreibers führte.
Hätte Angela sich eine Stelle gesucht, die ihrer Fähigkeit und ihren Wünschen entsprochen hätte, so wäre sie aus dieser Lebensform der Ausgelieferten herausgetreten. Sie hätte begonnen, eine echte Ich-Du-Beziehung zu entwickeln.
In den nächsten Schritten klärte Angela, dass ihre frühen Entscheidungen, ,Nicht zu fühlen und nicht glücklich sein zu dürfen‘ und ‚perfekt zu sein‘ angemessene Muster waren, sowohl um selber psychisch überleben zu können, als auch um Mutter in dieser Zeit loyal zu sein. Dieser Prozess war getragen von Trauer und Erleichterung.
In dieser Situation ging es um Angela und ihre Berufsklärung, es ging um die individuelle Verarbeitung ihrer Geschichte und es ging ebenso um die Verarbeitung einer nicht bewältigten historischen Not von Geflüchteten und ihren Kindern.
Angela war nicht nur die Person, die in diesem Moment im Raum war, sondern sie war auch die Mutter und die Großmutter, die Dramatisches und Unaushaltbares erlebt und ausgehalten hatten.
Der Prozess befreite Angela, gab aber ebenso den Personen, die vorher beteiligt waren, einen angemessenen und würdevollen Raum. Diese Wiedererlangung von Würde und Sprache der vorigen Generationen war ein notwendiger Teil zur Individuation von Angela. Selbst zu werden im Hier und Jetzt voller Möglichkeiten, das gelang ihr erst durch Anerkennung und Würdigung der Anderen. Die identifizierende Verstrickung, die sie symbiotisch mit ihrer Mutter gelebt hatte, konnte sie damit auflösen und transformieren zugunsten einer anerkennenden und unterscheidenden Beziehung.
Schließlich
Mein Anliegen ist es, auf die strukturelle Vernetztheit von Identität hinzuweisen und verschiedene Ansätze in der transaktionsanalytischen und nicht transaktionsanalytische Theorieentwicklung damit zu verbinden. Die Verbundenheit des Menschen in und mit der Welt ist ein Aspekt, den wir in der Beratung als Teil unseres Menschenbildes und als anthropologische Grundbedingung zur Verfügung haben sollten. Wenn wir diese Grundbedingung klar in unserer Praxis und Theorie integrieren, wird das folgende Beispiel für uns nichts Überraschendes haben:
In einer Schweizer Gemeinde wurden die Einwohner befragt, „ob sie ein atomares Endlager bei sich genehmigen würden, falls das Schweizer Parlament beschlösse, es dort einzurichten, …“.14 Die Befragten stimmten der Anfrage zu 51 % zu. Als ihnen zusätzlich angeboten wurde, dass sie für diese Zusage eine jährliche Ausgleichszahlung bekommen sollten, sank die Zustimmungsquote auf 25 %. Bei Befragungen über diese erstaunliche Veränderung erklärten 83 % derer, die abgelehnt hatten, ihre Entscheidung damit, „dass sie nicht bestechlich seien.“ (ebda.).
Literatur
Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - Ffm 1981
Berne, Eric Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben - München 1975
Eagleman, David - Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns - Ffm. 2013
Keupp, Heiner - Identitätsarbeit als Lebenskunst in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung - Tübingen, dgvt Verlag 2002
Petzold, Hilarion - discourses of freedom”, Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit - Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b
Rasche, Jörg - Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele - Düsseldorf 2004
Rudolph, Peter Everything keeps changing: Counselling, identity and society in IAT Journal 1-2-2017
Sandel, Michael ‚Moral und Politik – Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft‘ - Berlin 2015
Schneider, Dr. Johann - Das dynamische Handlungspentagon - ZTA 1/2006
Sedgwick, James M. - Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World - Oxon, 2021
Sell, Matthias- Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen - ZTA, 2/ 2009
Stahl, Stefanie - Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme - München 2015
Fußnoten
1. ‘Everything keeps changing: Counselling, identity and society’ Peter Rudolph, in IAT Journal 1-2-2017
2. “discourses of freedom” Petzold, H., Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b, S. 703. „Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele“ Rasche, Jörg, Düsseldorf 2004
4. Keupp, Heiner, Identitätsarbeit als Lebenskunst, in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung, Tübingen, dgvt Verlag 2002, S. 51
5. Zum Beispiel: ‚Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme‘, Stefanie Stahl, München 2015
6. Das dynamische Handlungspentagon, Dr. Johann Schneider, ZTA 1/2006, S.15f
7. "‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’, James M. Sedgwick, S. 24, 2021 Oxon „Zu behaupten, dass ein klarer Punkt gefunden werden kann, an dem wir enden und die Welt beginnt, ist weder möglich noch notwendig, um uns selbst zu verstehen, auch wenn die tief verwurzelten Gewohnheiten der klinischen Theorie es so suggerieren mögen. ... Wenn wir die Grenzen wegnehmen, müssen wir Autonomie anders verstehen."Übersetzung PR
8. Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen, Sell, Matthias, ZTA, 2/ 2009
9. Ebda. S. 106 ff.
10. ‚Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben‘, Berne Eric, München 1975, S. 26
11. ‚Ökologie des Geistes‘, Gregory Bateson, Ffm 1981, S. 350
12. Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, Eagleman, David, Ffm. 2013, S. 11
Peter Rudolph
Dipl. Sozialwissenschaftler / TSTA – Co. / Am Korsorsberg 100 a 26203 Wardenburg, Deutschland
Oldenburger Institut für Weiterbildung, Beratung und Psychotherapie

peter.rudolph@ewetel.net

artikelmärz2020

Die kleinen Unterschiede –
Transaktionsanalyse
in Diversity-Mediationen

Autorinnen: Jule Endruweit und Katharina Stahlenbrecher
Der Kerngedanke des Konzepts Diversity ist, dass Vielfalt die Normalität ist. Das klingt lapidar und hat gleichzeitig zahllose Implikationen: Wenn Vielfalt die Normalität ist, bin auch ich Teil der Vielfalt. Nicht allein das Gegenüber ist „anders“, auch ich bin "anders". Und die kleinen Unterschiede können große Wirkung entfalten - besonders im Konfliktfall. Sie können selber Inhalt des Konfliktes sein oder die Konfliktdynamik befeuern. Der Vielfaltsbegriff von Diversity beschränkt sich nicht auf sichtbare Eigenschaften, sondern umfasst auch unsichtbare Unterschiede wie Eigenschaften, Verhalten und Vorlieben. (Thomas 2001, S.38f.)
In unseren Mediationen hat diese Erkenntnis Auswirkungen auf unser Verständnis von Konflikten, unseren Blick auf die Mediant*innen und unsere Haltung und Interventionsrichtung. In diesem Artikel werfen wir Schlaglichter auf diese Aspekte.
Managing Diversity
Managing Diversity wurde in dem rechtlichen und demografischen Umfeld der USA entwickelt: Einem Einwanderungsland mit einer Geschichte der Sklaverei und Segregation. Hier wurde in den 1960gern das Recht ins Bürgerrechtsgesetz gegossen, im Erwerbsleben und bei Behörden nicht diskriminiert zu werden. Es wurde eine Gleichstellungsbehörde gegründet. Seitdem müssen Unternehmen und Behörden nachweisen, nicht zu diskriminieren und Diskriminierung im Kollegium keinen Vorschub zu leisten. Andernfalls drohen Klagen und Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz sind dagegen nominell keine Einwanderungsländer. Und doch leben Gastarbeiter*innen/Vertragsarbeiter*innen, ausländische Fachkräfte, Geflüchtete und ihre Nachkommen hier. Darüber hinaus ist Deutschland als Mitglied der EU u.a. dem Schengener Abkommen und dem Europäischen Binnenmarkt mit seinen Arbeits- und Antidiskriminierungsgesetzen verpflichtet und auch die Schweiz hat Abkommen z.B. über Freizügigkeit. Durch die Wiedervereinigung leben in der Bundesrepublik Deutschland bis heute Menschen, die in zwei verschiedenen deutschen Staaten geboren und sozialisiert wurden. Ähnliches gilt für die Schweiz, in welcher seit Jahrhunderten Menschen aus vier verschiedenen Landeskulturen mit- und nebeneinander leben. Im Kontext der postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2017) erscheint es also schlichtweg praktisch und menschengerecht, dem Kampfbegriff "Leitkultur" mit seiner Homogenisierungstendenz die Idee "Diversität" entgegen zu setzten, und so kulturelle Komplexität nicht als Ausnahme, sondern als Standard zu verstehen.
Unser Verständnis von Diversity-Mediation
Ob die Mediant*innen Stadt- und Landbewohner*innen, männlich, weiblich oder divers, straight oder queer, ost- oder west-, nord- oder süd- sozialisiert sind, welchen Alters sie sind und welcher Klasse (bzw. Schicht) sie zugehören, wie ihr Gesundheitszustand, Bildungsgrad, Einkommen etc. aussieht, spielt eine Rolle für ihr Selbstbild, für ihr Auftreten, ihre Kommunikation und vielleicht für ihre Streitkultur. Dann helfen uns bei ihrer Mediation Ansätze, die üblicherweise als "interkulturelle Kompetenz" beschrieben werden.
Aber Interkulturalität als Handlungs- und Gender-Kompetenz (Hüffeli 2010, S. 21ff.) sind nicht das gleiche wie Diversity Kompetenz, sie sind Basiskenntnisse. Die Reflexion über Diversity bezieht die nicht-sichtbaren Teile des „anders seins“ mit ein. In diesem Kontext sind die originären Aufgaben einer Mediatorin
a. Das Steuern des Prozesses als Hüterin des Verfahrens mit seinen Phasen.1
b. Die allparteiliche Unterstützung der Mediant*innen auf dem Weg zur Klärung.
c. Die Herstellung des Maximums an Freiheit für die Sachentscheidungen und Expertise.
d. Die Wahl angemessener Interventionsformen auf der Grundlage des von den Medianten geschlossenen Vertrags.
Diversity-Kompetenz kann helfen b., c. und d. zu erweitern. Damit wird sie zu einem Schatz. Die Fragen „Was haben wir von der Vielfalt?“, „Was hat das Konfliktsystem-, was die Konfliktsysteme von der Vielfalt?“ bedienen den eigentlichen Ansatz der Mediation: die Verbreiterung des Verhandlungsraumes. So kann Diversität als Kreativpotential und Erfolgsfaktor (Klappenbach 2010) in die Liste möglicher Lösungen gelangen.
So verstanden wirkt Diversity in jeder Mediation in zwei Richtungen:
Erstens: Sie wirkt passiv bei der Vermeidung von Diskriminierung und der (erneuten) Konstruktion von Bildern. Oder in TA ausgedrückt: sie hilft dabei keine Zuschreibungen zu machen und ist dafür geeignet das eigene ER zu ent-trüben, da ich meinen und die Wertmaßstäbe der Mediant*innen hinterfrage. Zweitens: Sie wirkt aktiv in der Gestaltung von Beziehungen aus einer kulturellen OK/OK Haltung und ermöglicht durch entsprechende Interventionen, aus der Vielfalt Nutzen zu ziehen und den Verhandlungsrahmen zu erweitern.
Das stellt klare Ansprüche an die Mediatorin2: Sie muss mit Verschiedenheit unterschiedlich umgehen können, und gleichzeitig in Bezug auf den Streitinhalt neutral bleiben - sie muss allparteilich sein.
Der Vertrag als Maßstab und Rahmen für Allparteilichkeit
Allparteilichkeit ist eins der 5 Prinzipien3 der Mediation. Der Vertrag ist ein Vehikel, um Allparteilichkeit im Verfahren zu sichern. Nach Claude Steiner gibt es 4 Voraussetzungen für gute Verträge (Steiner 1974), die für alle Seiten förderlich sind. Sie helfen, die allparteiliche Haltung in der Mediation einzunehmen, denn sie schaffen eine transparente Basis für ihre Handlungen.
Gegenseitige Übereinkunft zum Ergebnis der Verhandlungen: Wir fragen, worum es in der Mediation gehen soll, mit welchem Ziel die Mediation versucht wird.
Leistung und Gegenleistung müssen sich ausgewogen gegenüberstehen (im Kontrakt müssen Art, Umfang und übrige Konditionen eindeutig und bindend beschrieben werden).
Geschäftsfähigkeit: Die Mediatorin ist professionell kompetent, die Kundinnen sind urteilsfähig und berechtigt, mit der Beraterin Leistung und Gegenleistung zu vereinbaren. Keine Verträge zu Lasten Dritter!
Der Vertrag verstößt nicht gegen geltende Gesetze und/oder Ethik und Moral – er muss zum Wertesystem passen.

Diese Voraussetzung verweist einerseits auf nicht-verhandelbare Elemente der Mediation, andererseits auf die kulturelle Ebene, in die die Moral- und Ethikvorstellungen aller Beteiligten der Mediation eingebettet sind. Sie helfen auf diese Weise, den kulturellen Rahmen der Mediatorin und der Mediant*innen abzustecken.
Hieran knüpft die allparteiliche Mediatorin an, indem sie die unterschiedlich diversen Parteien unterstützt, ihr Wertesystem jeweils zu versprachlichen. So kann sie es zunächst selber verstehen. Damit hat sie eine Basis, von der aus sie während der Mediation ihre Übersetzungsleistung in beide Seiten anbieten kann.
Ihre Interventionen sind also einerseits vom konkreten Vertrag abhängig, andererseits vom Bezugsrahmen der Mediant*innen. Außerdem müssen sie sich außerhalb der Konflikt-Dynamik bewegen, damit die Mediatorin allparteilich wirksam ist. Dazu hilft die Mediationshaltung.
Die Mediationshaltung (vgl. Endruweit/Stahlenbrecher, 2020)
In der Rolle der Mediatorin heißt OK/OK auszuhalten, dass Menschen Verhaltensweisen und Umgangsformen pflegen, die ihr vielleicht fremd sind. Für die Dauer des Verfahrens geht es alleine darum, eine Übersetzungsleistung zu liefern, die es beiden Seiten ermöglicht sich zu hören und eine Lösung ihres Problems zu finden. Diversity hilft dabei, Fragen auf der Meta-Ebene, nach der Logik der Argumente zu stellen, TA unterstützt dabei sich außerhalb der (psychologischen) Konflikt-Dynamik zu halten und sich in einer OK/OK Haltung zu stabilisieren und Interventionen abzuleiten.
Um die eigene Haltung im OK/OK zu balancieren, hilft es sich selbst im stabilen ER (im Hier und Jetzt reflektiert) zu halten. Eine neugierig, forschende, erlaubende und Distanz wahrende Haltung, in der wir uns immer wieder der Qualität vergewissern: Die Mediant*innen dürfen so sein wie sie sind, mit ihrem eigenen Selbstbild, Auftreten, der eigenen Kommunikation und Streitkultur. Wir haben keinen Auftrag sie zu entwickeln. Grenzen werden von uns gesetzt, wenn die andere Person bspw. beleidigt oder angegriffen wird. Die Rolle der Mediatorin gleicht einer Reinigungsanlage, damit das Gemeinte in einer anderen Form gehört werden kann, der Bezugsrahmen beider Mediant*innen der jeweils anderen Partei deutlich wird. Die Gefühle und Gedanken der Mediatorin sind Hinweise, um das Wesentliche herauszuhören und sich aus der Konflikt Dynamik zu halten. Die Distanz wahrende Haltung bezieht sich auch darauf, den Beteiligten die Verantwortung zu lassen und ihnen zuzutrauen, untereinander eine Lösung für ihr Problem zu finden. Neigungen der Mediatorin, zum Retter, zum Verfolger oder gar zum Opfer zu werden, können als Marker genutzt werden, sich zu stabilisieren und emotional außerhalb des Geschehens zu bleiben. Sind die Beteiligten in einem psychologischen Spiel verfangen hilft es, die Positionen des Gewinnerdreiecks (Choy, 1990) zu erfragen.

In der Mediation stellt die Mediatorin ihre Kompetenz (Potency) im Rahmen des Mediationsvertrages und mit dessen Ziel zur Verfügung. Sie ist für den Schutz (Protection) der Mediant*innen zuständig, ihre Interventionen sind geeignet, einen Raum aufzutun und zu erhalten, der den Mediant*innen die Erlaubnis (Permission) zu Äußerungen, Wahrnehmungen und Entscheidungen gewährt. (Binner, 2014, S. 380f).
Um klar zu sein: Mit dem Argument der Diversity dürfen auch in der Mediation Rangeleien um Macht, Teilhabe und Ausgrenzung nicht legitimiert werden. Vielmehr steht Diversity für die Normalisierung der Vielfalt und für den Blick auf die Vorteile, die diese Vielfalt mit sich bringt.
Stabil in der Mediationshaltung am Vertrag orientiert braucht es für uns noch eine Richtung, um in verfahrenen Konflikten zu einer Sachfrage zurückkehren zu können. Bei dieser Interventionsplanung hilft uns die Ent-homogenisierungstabelle, die auf dem Konzept der Diversity-Reife und der Abwertungstabelle aufbaut.
Diversity-Reife und Abwertung als Interventionsplanung
Die kleinen Unterschiede können eine große Wirkung entfalten und zu einer Behinderung der Kommunikation führen. Dies wird in passiven Verhaltensweisen der Mediatorinnen oder der Mediant*innen deutlich. Die Ent-homogenisierungstabelle (Endruweit/Stahlenbrecher 2016) hilft uns dabei, systematisch Entwicklungsprozesse aus dieser Sackgasse heraus in Gang zu setzen.

Wir haben die Ent-homogenisierungstabelle aus zwei Konzepten entwickelt: die Reifegrade der Diversität (Gardenzwarz/Rowe 2002) und der Discount-Tabelle (Mellor/Sigmund, 1975). Bei den Reifegraden der Diversität geht es um die Beschreibung, wie in einer Organisation mit Vielfalt umgegangen und wie über Vielfalt gedacht wird. Die Geschichte, die eine Organisation bereits in dem Feld Homogenität – Heterogenität durchlaufen hat, wird darin gewürdigt. Die Diversitätsgrade reichen von 0 bis 3 und werden mit folgenden Begriffen beschrieben:
0 Diskriminierung
1 Toleranz
2 Akzeptanz
3 Dialog
Betrachtet man die Reifegrade unter OK/OK Aspekt (Endruweit/Stahlenbrecher 2016), wird deutlich, warum sie sich zur Konfliktbearbeitung eignen:
0 Bei Diskriminierung ist offenbar, dass der andere für Nicht-OK gehalten wird, denn schon in den Handlungen (expliziter Ausschluss aufgrund von Herkunft, Geschlecht etc.) wird dies deutlich.Diskriminierung heißt Ungleichbehandlung von Individuen oder Gruppen (Wiktionary 2015).
1 Auf der Ebene der Toleranz, ist die OKness zunächst nicht eindeutig. Toleranz ist die „Eigenschaft, etwas dulden, ertragen oder zulassen zu können“ (Wiktionary 2015). Ich kann den anderen vordergründig ok finden, indem ich feststelle: jedem das Seine. Du machst deins, ich mache meins. Allerdings gehe ich dann davon aus, dass mich seine oder ihre Handlung niemals tangiert und also meine Konstruktion von Normalität gar nicht in Frage stellen kann. In der Phase der Fairness und Antidiskriminierung (re-)konstruiere ich Pole und Rollen der Opfer, Retter und Verfolgten. Somit ist die OKness an die Bedingung gebunden, in der zugewiesenen Rolle zu bleiben, die allein ich formuliere.
2 Akzeptanz wird definiert als (zustimmende) Annahme, Anerkennung oder auch Bereitschaft, etwas anzunehmen oder zu akzeptieren (Wiktionary 2015). In der Phase des Zugangs und der Legitimität gehe ich davon aus, dass deine Andersartigkeit mich in meinem Sinne ergänzt. Du wirst als Person auf deine Andersartigkeit reduziert und stereotypisiert, um meine Konstruktion von Normalität um begrenzte Ergänzungen zu erweitern. Somit ist auch hier die OKness an mein Bild von Normalität gebunden. Im Vergleich zur Toleranz jedoch schlägt der Handlungskatalog der akzeptierten Person(engruppe) in die positive Richtung aus.
3 Dialog. Wo zuvor noch Pole konstruiert werden und mit Leitkultur argumentiert wird, fragt Diversity auf dem Grad des Dialogs nach Funktion und Rolle, fordert Verträge, unterscheidet zwischen Fragen nach der Person und Fragen nach Handlungsformen. In der Phase des Lernens und der Effektivität wird Heterogenität zum Normalzustand. Es werden nicht mehr einzelne personenbezogene Heterogenitätskriterien aufgestellt, wie Geschlecht, Herkunft, Aussehen, sexuelle Orientierung etc., sondern alleine verhaltensbezogene Kriterien, wie z.B. was sind Kriterien für eine gute Lösung? Welche Fähigkeiten sind geeignet eine bestimmte Rolle auszufüllen oder Funktionen zu übernehmen? Ist das Verhalten beim Erreichen der Ziele funktional?
Der Fokus stellt nicht die Homo- oder Heterogenität in Frage, sondern die Überwindung praktischer Probleme, die aus Heterogenität erwachsen und die zu erweiterten Lösungen führen. Heterogenität wird grundsätzlich als Realität anerkannt. In der Mediation heißt das, dass zunächst in einen Dialog über Definitionen eingetreten wird und Verträge (im TA Sinne) verhandelt werden. Dadurch entsteht etwas Entscheidendes, was auch in der Transaktionsanalyse als erstrebenswert gilt: Menschen gehen miteinander in Beziehung.
Gelingt es als Mediatorin ein Dialog-Verständnis in den jeweiligen Positionen der Mediant*innen herzustellen, ist eine sachliche Lösung möglich. Die Discount-Tabelle zeigt Interventionsmöglichkeiten, um das Denken der Mediant*innen zu erweitern. Discounting heißt etwas auszublenden, also nicht wahrzunehmen, was für die Lösung eines Problems relevant ist. Das kann die blanke Existenz von etwas sein, dessen Bedeutsamkeit, dessen Änderbarkeit oder die persönlichen Fähigkeiten. Je nach Reifegrad liegt diese Ausblendung auf einer anderen Ebene.
Nach außen hin drückt sich dieser Denkfehler in passivem Verhalten aus (vgl. Schiff 1972/75). Die Passivität zeigt sich in den sich steigernden Formen 1. des Nichtstuns, 2. der Überanpassung, 3. der Agitation (zwar etwas tun, aber nichts zur Problemlösung beitragen) und 4. der Gewalt. Ist passives Verhalten in Form einer Konfliktverhärtung sichtbar, z.B. als Hilflosigkeit, eignet sich eine Überprüfung mit den OK-Reifegraden. Welche Vorstellung von „Normalität“ habe ich, was ist der Maßstab zur Bewertung von anderen? Welche geschlossenen Kartons habe ich im Kopf? Oder habe ich eine OK/OK Haltung, die im Dialog versucht Lösungen zu finden?
In der Mediation sind die Fragen gleichermaßen für die Selbstreflexion der Mediatorin geeignet, wie für die Unterstützung der Mediant*innen durch alle Phasen des Verfahrens. Das gilt besonders, wenn die Mediatorin Mechanismen von Passivität erkennt. Die Fragen können die Augen für Vielfalt öffnen - eine Grundvoraussetzung, um an ihr Potenzial anzuknüpfen.
Mit Diversity zum gelungenen Abschluss
Stabil in der Mediationshaltung am Vertrag orientiert, mit einem Blick für Diversity Reife, für Passivität und passenden Interventionen, bleibt die Frage nach dem Abschluss mit einem guten, gerechten Ergebnis. Da auch „Gerechtigkeit“ mit Diversität betrachtet unterschiedliche Bedeutungen haben kann, ist es sinnvoll, dass die letztendliche Entscheidung über Lösungsoptionen auf transparenten Kriterien basiert (Kessen 2016, S.56). Die Kriterien können aus den im Vertrag gemeinsam festgelegten Zielen entwickelt werden, oder Zahlen, Daten, Fakten sein, die alle Beteiligten akzeptieren, aber auch in der Einigung auf die Frage entstehen: was ist gerecht und was praktikabel?

Aufgaben einer transaktionsanalytischen Diversity-Mediator*in sind also:
Das Steuern des Prozesses als Hüterin des Verfahrens mit seinen Phasen.
Die allparteiliche Unterstützung der Mediant*innen auf dem Weg zur Klärung:
- insbesondere ein an die Mediantenkultur angepasster Vertrag durch Klärung des jeweiligen Bezugsrahmens
- eine allparteiliche Mediationshaltung: Sich als Reinigungsanlage oder Übersetzerin zu verstehen und unterschiedliche Verständnisse der Mediant*innen deutlich zu machen.
Die Herstellung des Maximums an Freiheit für Sachentscheidungen und Expertise
- durch Anerkennen von Vielfalt als Schatz und Ressource
- durch Heraushalten aus dem psychologischen Konflikt
- durch konstruktiven Umgang mit Passivität zur Dialog-Diversitäts-Reife.
Die Wahl angemessener Interventionsformen auf der Grundlage des von den Mediant*innen geschlossenen Vertrags.
Die ausdrückliche Suche nach den kleinen Unterschieden, nach verschiedenen Kriterien und ihrer Anerkennung minimiert blinde Flecken bei der Lösungssuche. Das Mediationsergebnis ist gestärkt, genauso wie die Erkenntnis der Beteiligten, dass ihre jeweilige Besonderheit zum gelungenen Ergebnis beigetragen hat.
1. Vorbereitung, Sammlung, Vertiefung, Verhandlung, Vereinbarung.
2. Wir nutzen allein die weibliche Form. Alle anderen sind mitgemeint. Fühlen Sie sich
eingeladen die Wirkung zu reflektieren.
3. Allparteilichkeit, Freiwilligkeit, Selbstverantwortung, Informiertheit und Vertraulichkeit.
Literatur
Binner, Cordula (2014) Das Stroke-Konzept als Anlalyse- und Interventionsinstrument in der Konfliktbearbeitungsphase; in: Weigel, Sascha; Theorie und Praxis der Transaktionsanalyse in der Mediation. Ein Handbuch; Leipzig 2014; S 370 - 389.
Choy, Acey (1990) The Winners Triangle, TAJ 20:1; 1990.
Endruweit, J., Stahlenbrecher, K. (2016) Kartons im Kopf. Mit TA gegen Homogenisierungsdruck zu einer höheren Diversitätsreife und Autonomie; in: Raeck, H., Lohkamp, L.; Tore und Brücken zur Welt. Reader zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse; Lengerich 2016, S. 80 – 94.
Endruweit, J, Stahlenbrecher, K. (2020) Mediation verstehen mit Transaktionsanalyse. Allparteilichkeit als missverstandene Einladung zum Coaching. In: Bettina Heinrich, Iris Fassbender und Elke Kauka: Toleranz und Respekt – für ein friedvolles Miteinander. Reader zum 40. Kongress der DGTA; erscheint 2020.
Foroutan, Naika (2017)
www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft; Stand 23.10.2017.
Gardenzwartz/Rowe (2002) Arbeitsmaterial Affirmative Action. Valuing Differences and Managing Diversity Compared. Unterlagen zum Workshop Managing Diversity. Evangelische Akademie, Schwerte, June 16, 2002.
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Kessen, S./ Troja, M./Zilleßen, H./ Hehn, M./Runkel-Hehn, S. (2016) Mediation im öffentlichen Bereich. Teil I; Hagen 2016.
Klappenbach, D. (2010) Diversity-Kompetenz. Zum Diversitätsmanagement des Diversitätsmanagements; in: Spektrum der Mediation. Fachzeitschrift des Bundesverbandes Mediation; 39/2010; S. 13-16.
Koall, I. (2001) Managing Gender & Diversity. Von der Homogenität zur Heterogenität in der Organisation der Unternehmung; Münster 2001.
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Schiff et al. (1975) Cathexis Reader: transactional analysis treatment of psychosis. New York 1975.
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Stahlenbrecher, K. (2019) Diversity und vermeintliche Homogenität in der Mediation; in: Schlieffen, K.v. (Hg.); Jahrbuch Mediation. Essays 2018 - Harte Zahlen, weicher Kern; Hagen 2019.
Steiner, Claude (1990) Scripts People live; Grove Weidenfeld 1990; S. 243 - 250.
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Weigel, Sascha (2014) Theorie und Praxis der Transaktionsanalyse in der Mediation. Ein Handbuch; Leipzig 2014.
Jule Endruweit
Dipl. Pol., Lehrende und
Supervidierende Transaktionsanalytikerin
im Bereich Organisation (PTSTA-O),
Mediatorin.
Katharina Stahlenbrecher
Dipl. Theol.,
Diversity Management,
Zertifizierte Mediatorin
(Master of Mediation).
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Organisationsentwicklung, Mediation,
Aus- und Weiterbildung, Supervision und Coaching.
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