Perfekt oder schnell: Wem gehört die Welt
Dieser Artikel empfiehlt, die Fantasie als Ressource in Gestaltungsprozesse zu integrieren. Dabei wirkt die Arbeit mit Märchen und Geschichten inspirierend, um neue Zugänge für heute unbekannte Lösungen in der Organisationsgestaltung und der Führungsentwicklung zu finden.
Als Entwicklungsziel für Menschen in Organisationen wird abschliessend eine «bezogene Autonomie» vorgeschlagen.
Die Transaktionsanalyse kennt «Sei perfekt!» und «Beeil dich!» als Antreiberverhalten: Von Taibi Kahler, dem amerikanischen Psychologen und Transaktionsanalytiker, stammt die Beobachtung, dass Menschen in Stresssituationen immer tiefer in ein Schlamassel geraten, während sie sich selbst als lösungsorientiert wahrnehmen1.
Bereits als Kind kreieren wir Gestalten für psychische Energien, mit denen wir unser Erleben ausdrücken können. Später unterstützen Modelle Erwachsene, passende Worte für Gutes wie Hinderliches im Leben zu finden. Das Volksmärchen kennt für das Gute stille Helfer. Es kennt auch die Widersacher, die die Heldin oder den Helden an der Entwicklung hindern. Antreiberverhalten ist hinderlich und zeigt sich in existenziell und emotional bedrängenden Situationen. Wir meinen, alte, früh erlernte Verhaltensstrategien lassen uns Probleme «wie früher» gut lösen. Doch funktioniert das meist schlecht. Neben einer als anstrengend erlebten oder gar verfehlten Problemlösung liegt darin eine Not. Daraus resultieren inneres Leid, Konflikte oder krankheitsbedingte Absenzen.
Coaching- und Personalentwicklungsmassnahmen unterstützen idealerweise eine integrale Selbstwerdung und fördern eine erlebte psychologische Sicherheit. Antreiberverhalten betreffen über das Verhalten hinaus, so die praktische Erfahrung, emotionale, gedankliche und entwicklungspsychologische Dimensionen. Es ist unbewusst begleitet von einer tiefen Sehnsucht, in der Welt angenommen zu sein. Coachees beschreiben diese oft mit dem Gedanken: «Wenn ich mir noch mehr Mühe geben würde, dann würde ich endlich geschätzt und anerkannt werden.»
In Organisationen werden Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» oder «Beeil dich!» belohnt und damit verstärkt. Hier bewusst hinzuschauen, birgt Potenzial in der Personalentwicklung; denn der Grat zwischen einer gesunden Leistungsbereitschaft und einem ungesund überhöhten Selbstanspruch ist schmal.
Führungspersonen sind in ihren Rollen besonders mit den eigenen Antreiberverhalten konfrontiert. Ihnen gilt für gesundheitsförderliche Organisationen in einer sich rasant verändernden Umwelt hohe Aufmerksamkeit. Sollen Führungsstile diese Aspekte integrieren, sind neue Kompetenzen und Modelle gefragt.
«Ich habe mir diese ‘Neue Arbeit’ schon anders vorgestellt, als sie heute zelebriert wird. Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.»2
In der Praxis beschreibt New Work oftmals die Digitalisierung der Arbeitswelt, welche zu Effizienzgewinnen und Einsparungen von Personalkosten führt. Ich selbst schliesse mich einem Verständnis von Arbeit an, das den Menschen in die Bedeutungszumessung von Arbeit in seinem Lebensplan und unter Berücksichtigung einer digitalen Transformation miteinbezieht.
Die «neue Arbeit» führt zu einem neuen Verständnis von Arbeit. Wir suchen mehr Sinnstiftung. Dieser hohe Selbstverwirklichungswert lädt uns zunehmend ein, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. In einer Welt, die als unsicher, unberechenbar und mehrdeutig erlebt wird, wird das Selbstvertrauen in die eigene Wahrnehmung zu einem Pfeiler für Entscheidungen.
Zusätzlich entsteht in Arbeitsbeziehungen mehr Nähe und Transparenz. Die alte Arbeitswelt trennte Arbeit und Privates. Bei neuen Arbeitsmodellen verschwimmt die Work-Life-Balance, was sich auf unser soziales Miteinander auswirkt. Wir teilen in der Arbeit mehr Privates. So sehen auch Schnell & Schnell3 in der Definition von New Work, dass sie das Miteinander beim Arbeiten fordere, indem die Vermenschlichung und gemeinschaftliche Interaktion gefördert werde.
Nach Rifkin4 benötigt die Entwicklung eines neuen Arbeitsbegriffs einen «Quantensprung der menschlichen Fantasie». Fantasie gilt als Produktionskraft des Bewusstseins und als besondere Verarbeitungsform der Wirklichkeit5. Welche Geschichten wir über uns erzählen, ist von den Vorstellungen abhängig, wie wir uns selbst sehen. Beispielswiese in Beratungen mit Stellensuchenden zeigen sich gerne festgefahrene Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» und «Beeil dich!», die Dämonen gleich, Transformationen im Weg stehen. Ja. Es ist eine heldische Herausforderung, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und bewusst an den gegebenen Kontext anzupassen.
Mit der Analyse des Antreiberverhaltens und den damit verbundenen Verhaltensweisen lernen Führungspersonen ihre Beziehungen neu zu gestalten. Das Mehr an individueller Bewusstheit trägt dazu bei, dass Organisationen spontaner werden und sich gesundheitsförderlicher entwickeln.
In Organisationsentwicklungen stelle ich fest, dass der Rationalität ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Darüber hinaus ist neben dem Erspüren der eigenen Körpersignale, dem impliziten Wissen, die Intuition «überlebenswichtigt, weil wir darüber Entscheidungssituationen vereinfachen.»6 Die Intuition gilt als Quelle der Fantasie. Ihre Akzeptanz erweitert das Blickfeld und ermöglicht treffende Eingebungen. Andererseits gebären wir mit der Fantasie wiederholt dieselben hohlen Gespenster. Wir erfahren so gelegentlich, dass wir in wiederkehrenden und stereotypen Mustern verharren.
In Transformationsprozessen entdecken wir immer wieder Muster des «Mehr desselben». Einem Hamsterrad gleich erkennen wir, wie wir uns in Antreiberverhalten festgefahren erleben. Im einen Fall kann es dauernd «nicht perfekt genug sein» oder im andern «nicht schnell genug gehen». Das Empfinden einer stimmigen, gesunden Qualität, die ein leichtes «Genau so» fühlen lässt, fehlt.
Der Entwurf fantasievoller Handlungsalternativen anstelle einer fixierten Wahrnehmung schafft Entwicklungsoptionen. Damit werden unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Der persönliche Erlebnisraum wird vergrössert und wir nehmen differenzierter wahr. Und es lassen sich Konsequenzen gedanklich vorwegnehmen.
Unsere inneren Stimmen hindern uns oftmals, einen Realitätscheck zu wagen. Wir bauen in uns geistige Konstrukte, wie die Welt draussen ist und suchen danach, diese auch laufend zu bestätigen. Als soziale Wesen streben wir immer wieder neu nach Beziehungen, auf die wir existenziell angewiesen sind. Wenn wir es zulassen und offen sind, entstehen in der Begegnung Möglichkeitsräume. In solchen Momenten erfahren wir, wie wir Realität im Hier und Jetzt gemeinsam gestalten können und erweitern damit unseren Horizont. Die Bilder unserer Mitmenschen und von uns selbst verändern sich dadurch laufend.
Die stetige Erneuerung unseres Selbstbildes erfordert ein Lassen und ein Handeln im Moment. Wir selbst haben die Wahl, auf welche inneren Stimmen wir hören. Doch die Vielzahl innerer Stimmen erschwert es uns oft, spontan treffend zu wählen. Denn sobald mehrere Stimmen in unser Denken und Fühlen treten, entstehen innere Konflikte. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, ambivalenzfrei zu leben. Wir können diese inneren Konflikte ignorieren oder wir schöpfen daraus Lernerfahrungen.
Basierend auf der Transaktionsanalyse und gestalttherapeutischen Techniken entwickelten Mary McClure und Bob Goulding in den 60er Jahren die Neuentscheidungstherapie. Sie geht davon aus, dass der innere Dialog vergleichbar unter Feen, Hexen und Geistern als «Kopfbewohner»7 unser Selbsterleben bestimmt. Ein Teil unserer «Kopfbewohner» strebt danach, dass unsere Weltsicht dominiert und ich bestimmend bin. Ein anderer Teil dieser inneren Stimmen, sucht nach Integration und Kooperation. Aus dieser inneren Zerrissenheit heraus in ein bewusstes Handeln zu kommen, benötigt Arbeit mit und an sich selbst. Lebendig und frei zu handeln, während wir unseren inneren Dialog und unser Leiberleben bewusst wahrnehmen, setzt voraus, dass wir unsere zerstörerischen, dunklen Seiten kennen.
Antreiberverhalten geht mit Selbstabwertungen einher. Solche destruktiven «Kopfbewohner» anerkennen wir im äussersten Fall als so gültig wie das Gesetz der Schwerkraft. Gedanken wie «Ich muss mich immer dafür entschuldigen, dass ich es schon wieder nicht vollkommen hinbekommen habe» oder «Es tut mir immer leid, dass ich zu wenig Zeit für alles habe», können zu paradoxem Erleben führen: Irgendwann geht es nicht mehr perfekter; nicht mehr schneller.
Positive oder negative Überhöhungen eines Aspekts der Realität bezeichnet die Transaktionsanalyse als Grandiosität. Wir über- oder minderbewerten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung. So geraten wir in Situationen, in denen uns das Alltagserleben vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Ebenso tut es das Märchen: In einer einzigen Nacht sollen Berge abgetragen, Schlösser gebaut oder ein Diadem aus Morgentau hergestellt werden.
Was im Märchen am Ende meist gelingt, ist vorgängig oft mit grossen Aufgaben verbunden. Nicht selten steht auf das Verfehlen einer Aufgabe gar eine grausame Todesstrafe. Diese Märchenmotive drücken symbolisch die zu tragende Last solcher Selbstabwertungen aus. Sie wirken nicht lustbezogen lebendig, sondern destruktiv. Das Empfinden, nie gut genug zu sein oder nie Zeit vergeuden zu dürfen, staut den Fluss der Lebensenergie.
Hören wir sklavisch auf diese Botschaften, schränken wir uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein. Womöglich haben «Kopfbewohner», die lohnende Handlungsalternativen für das Hier und Jetzt anbieten, just in diesem Moment zu schweigen? Neue zu entdecken, kommt dem märchenhaften Zauber gleich, in dem Märchenheldinnen und -helden Zugang zu stillen Helfern finden. Es kommen wie bei Aschenputtel beispielsweise Tauben und legen «die rechten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen». So ist die Aufgabe wie von selbst gelöst und es reicht doch noch zum Tanz auf dem Ball im Königsschloss.
Schön wär’s. Nur: Das Volksmärchen ist in seiner Struktur selbst perfektionistisch. Es fällt ihm leicht, das Extreme zu suchen, die hohen Grade zu übertreffen oder verbotene Türen zu öffnen. Was sich immer in einem Märchen auch zu erkennen gibt: Es wird in der Fantasie wirklich und wahr; denn Märchen sind «Träger von Wirklichkeit und Dichtung»8.
Im Denken, Fühlen und intuitiven Erspüren entwickelt der Mensch als Held seiner biographischen Erzählung im Heranwachsen sein Lebensdrehbuch.
In der Beratung erfahre ich immer wieder, wie aktivierend die Fähigkeit zum magischen Denken auf das Verhalten Erwachsener wirkt. In ihm findet sich die für das Erfassen der Wirkkraft des Märchens notwendige Imaginationsfähigkeit. Märchen beschreiben den Weg, wie Not überwunden werden kann in ihrer eigenen Weise. Als zertifizierter Erzähler schätze ich seine Wirkmechanismen sehr. Sie betonen nicht Flucht oder Kampf als Leitstern zum Handeln, sondern die Perspektive wandelt sich «zum freien, bejahenden Kind»9.
Diese Energie fördert im Antreiberverhalten Ressourcen, die zu beeindruckenden Leistungen beflügeln können. So ist die Stärke von «Sei perfekt!» eine «beeindruckende Gründlichkeit und Genauigkeit»10. Menschen mit bevorzugtem Antreiberverhalten «Beeil dich!» können in kurzer Zeit sehr viel schaffen. «Sie sind besonders gut für Aufgaben geeignet, in denen Tempo und Dynamik gefragt sind» (ibid)11.
Von Grandiosität und abwertenden Verhaltensweisen in eine bezogene Autonomie zu gelangen wird im Antreiberverhalten durch den Glaubenssatz «ich bin nur OK, wenn …» verhindert. Die «bezogene Autonomie» kann als das Entwicklungsziel der Transaktionsanalyse betrachtet werden. Sie drückt das Paradox aus, dass wir uns hingeben und gleichzeitig abzugrenzen suchen. Den Glauben an diese «Nur-Wenn»-Annahme haben wir in uns oder möglicherweise in einem Gründermythos bei Organisationen verinnerlicht. In Stresssituationen greifen wir darauf zurück.
Das Lassen der «Nur-Wenn»-Annahme fällt in einem angstfreien, vertrauensvollen Umfeld leichter. Dabei sind Erlaubnisse hilfreich. Erlaubnisse ermutigen, neue Denk- und Verhaltensmuster auszubilden. Manchmal gelingt es uns, uns selbst Erlaubnisse zu geben. Für die Entwicklung einer bezogenen Autonomie kann es zusätzlich unterstützend wirken, eine Beratung oder gar therapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. In der Literatur finden wir zahlreiche Varianten von Antithesen. Gührs und Nowak12 haben in ihrer Arbeit wesentliche gesammelt (siehe Kasten S. 5).
Im Märchen finden sich viele Motive, solche neuen Wege zu suchen. Gerade das Bild der Königin resp. des Königs im Märchen lohnt sich, erforscht zu werden. Denn der Weg zur Herrschaft, liegt nicht darin, möglichst schnell oder perfekt zu sein. Wahres Königtum liegt darin, das eigene Leben frei, spontan, in Beziehung und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts zu gestalten. Sich zu erlauben, sich selbst lebendig und authentisch im Hier und Jetzt auszudrücken; darin liegt der Königsweg. Auf diesem ist es eine heldische Tat, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und sich selbst als Mensch mit seinen wahren Bedürfnissen zu entdecken.
1. https://inkovema.de/blog/das-antreiber-konzept-der-transaktionsanalyse-als-diagnose-und-interventionskonzept-fuer-die-mediation/ [17.07.2020]
2. https://blog.derbund.ch/berufung/index.php/35779/es-gibt-sehr-viele-arten-das-leben-zu-verpassen/ [17.07.2020]
3. Schnell, N. et Schnell, A. (2019: 16): New work hacks. Springer. Berlin.
4. Rifkin, J. (2011: 26): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 3. aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch. Berlin.
5. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/phantasie/11488 [16.07.2020]
6. Korpiun, M. et al. (2017: 97): Vom Ich zum Wir – Warum wir ein neues Menschenbild brauchen. In Relation Publication No. 2. Books on Demand. Norderstedt.
7. Goulding, M. (2011: 17): «Kopfbewohner» oder: Wer bestimmt mein Denken?
8. durchgesehene Auflage. Junfermann. Paderborn
8. Lüthi, M. (2004: 115): Märchen. 10. Auflage. J. B. Metzler. Stuttgart. Weimar.
9. Rosenkranz, H. (2016: 50): Wie wir aus Stroh Gold machen können – Wertorientierte Erfolgsstrategien durch Gruppendynamik, Transaktionsanalyse und systemische Organisationsentwicklung. Team Dr. Rosenkranz. Gräfelfing.
10. Gührs, M. et Nowak, C. (2014: 112): Das konstruktive Gespräch – Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung. Christa Limmer. Meezen.
11. ibid: 110
12. ibid: 115 ff
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