artikeloktober2020

Das perfekte Gefängnis

Autor: Dasa Szekely – Stell dir vor, du bist in einem Gefängnis. Stell dir vor, du weisst nicht, dass du in einem Gefängnis bist und das ist kein Wunder, denn du fühlst dich frei, du kannst gehen wohin immer du willst und tun, was immer du magst. So fühlt es sich jedenfalls an, deshalb hast du dich freiwillig in Gefangenschaft begeben. Dein persönliches Gefängnis rettet dich davor, dich klein, blöd, dick, nicht zugehörig, uninteressant, unliebenswert zu fühlen. Lieber gefangen sein, heisst die Devise, als Schmerz über die eigene Unzulänglichkeit fühlen! Also bringst du dich in Sicherheit. Und für einen Moment fühlt sich das saugut an. Für einen Moment.
Der Transaktionsanalytiker Taibi Kahler hat 1974 diesen Gefängnissen Namen gegeben. Er nannte sie »Driver«, zu deutsch »Antreiber«, weil sie uns in ein Verhalten treiben, ohne dass wir das bewusst wahrnehmen: Wir handeln dann ohne zu denken, ohne zu fühlen, als würden wir auf Autopilot fahren, immer die gleiche Straße lang, abbiegen unmöglich. Gefangen eben.
Taibi Kahler hat fünf Antreiber herausgestellt, die er am wichtigsten fand und noch heute beschränken sich die meisten Transaktionsanalytiker darauf:
Den Sei stark!-Antreiber
Den Streng dich an!-Antreiber
Den Mach’s recht!-Antreiber
Den Beeil dich!-Antreiber
Den Sei perfekt-Antreiber
Wie schafft man es, in eins dieser Antreiber-Verhalten reinzurutschen? Und wie kommt man da wieder raus?
Um darauf zu antworten, nehme ich euch mal mit auf meine persönliche Gefängnis-Tour. Überm Eingangstor steht »Sei stark! Sei perfekt!«, das sind meine beiden Lieblingsgefängnisse, flankiert von »Beeil dich!«
Von den beiden anderen erzähl ich euch im Anschluss.
Wenn ihr mögt, folgt mir in Gedanken und prüft, zu welchem Verhalten ihr in Stress-Situationen tendiert – auf welche der fünf Weisen ihr euch freiwillig eurer Freiheit beraubt.
Los geht’s!
Mein perfekt-Antreiber freut sich: Ich soll einen Artikel für die DSGTA schreiben, da wird er sicher gebraucht werden. In letzter Zeit hab ich ihn ein bisschen vernachlässigt, aber schreiben, das weiß er, das geht nicht ohne ihn!
Und so sitze ich hier an einem Sonntag Morgen auf meiner sonnigen Terrasse und beginne diesen Artikel, aufmerksam beobachtet von meinem altbekannten Gefängniswärter Mr. Perfect (ja, ein Mann, aber das ist eine andere Geschichte).
Noch ist alles okay. Anfänge sind total okay. Ich freu mich drauf!
Ich möchte darüber schreiben, wie mein Streben nach Vollkommenheit sowohl wunderbar als auch eine Bürde sein kann. Dabei möchte ich ganz locker bleiben und deshalb werde ich auf gar keinen Fall kritische Stimmen meiner Leser antizipieren, so etwas wie:
»Uninteressant!«
»Kaschiert ihr Unwissen mit
vermeintlich lustigem Geschwätz.«
»Weiß nicht viel und redet deshalb
nur über sich.«
»Und die ist Certified
Transactional Analyst??«
»Hätte mehr erwartet.«
»Die fragen wir nicht mehr an!«
Obwohl mir bewusst ist, dass diese Stimmen nur in meinem Kopf existieren, verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Mein Herz klopft, ich spüre Druck auf der Brust, atmen geht nicht mehr so gut. Ich kenne das Gefühl, dieses »Ich bin-nicht okay«-Gefühl.
Ich widerstehe meinem Fluchtimpuls (Wäsche abhängen, verdorrte Hibiskusblüten abzupfen, Mails checken usw.) und bleibe bei mir sitzen, beobachtend.
Warum haben diese Fantasie-Stimmen eine solche Macht über mich? Nun, sie haben eine direkte Leitung zu sehr, sehr alten verinnerlichten »Botschaften« über mich, die sehr schmerzhaft sind und mit Ängsten verbunden. Und obwohl sie so weh tun, kann ich für einen Moment nicht anders als ihnen folgen, sie ziehen mich in ihren Bann – in der TA nennen wir sie »Bannbotschaften«.
Gehöre! Nicht! Dazu!
Einer meiner größten Ängste ist, nicht dazuzugehören. Ich bin Flüchtlingskind, in den 60ern als ungarisch-italienische Mischung in einem schwarz-braunen kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen (da waren Ungarn noch Zigeuner und/oder Kommunistenschweine). Meine schwarzen Locken gingen bis zum Po und meine Klappe war so groß wie Afrika. Im Kindergarten belehrte man mich schnell einen Besseren, flocht mir strenge Zöpfe (old school Botox) und bedrohte und bestrafte mich so lange bis Afrika auf Liechtenstein-Größe schrumpfte.
Nein, kein Galgenhumor. Heute kann ich darüber traurig sein und mich gleichermaßen daran erfreuen, was ich aus meinem Leben gemacht habe – gerade deshalb, weil es so war.
Dennoch, manchmal ist sie wieder da, diese Angst. Besonders, wenn ich mich zeigen muss, wie jetzt, gegenüber der DSGTA und deren Leserschaft: Text ist schlecht, du bist eine schlechte TAlerin, keine von uns! Raus!!
Aber – Rettung naht: Wenn ich einen suuuuuuuper perfekten Text abliefere, finden mich andere toll und ich gehöre dazu!
Wäre mein perfekt-Antreiber ein Hund, würde er freudig mit dem Schwanz wedeln: Jetzt geht’s Gassi!
Gemeinsam drehen wir meine Worte auf links. Wir bürsten Sätze so lange bis sie glänzen und streichen dann alles wieder, weil’s einfach immer noch nicht richtig gut ist, nicht gut genug, nicht perfekt genug:
Die Gouldings … Mary und Robert Goulding … die beiden Transaktionsanalytiker Mary und … Das amerikanische Ehepaar Mary und Robert Goulding hat 19 …
Mist. Wann war das? 1973? Nee, das klingt falsch. 1975? Könnte sein … Das muss unbedingt rein, nicht dass man denkt, ich hätte keine Ahnung, ich muss nachschauen (peinlich!! hätte ich wissen müssen!). In welchem ihrer Aufsätze haben sie denn erstmals über Bannbotschaften geschrieben? Ich schau mal im Transactional Analysis Journal. Stopp - hießen die nicht auch mal »Hexenbotschaften«? Das sollte ich vielleicht erwähnen. Campos, Leonard Campos hieß der mit den Hexenbotschaften. Darauf basierend haben die Gouldings … nein, zu kompliziert. Stattdessen vielleicht noch kurz über die Kultur schreiben, aus der dieses Gedankengut kam. Ja, das wäre noch wichtig: ein kurzer Abriss über das Jahrzehnt von 1965 bis 1975.
Mein Herz rast. Das schaff ich nie!!!
Ich höre eine Stimme: »Reiß dich zusammen, Dasa! Das kriegst du hin! Wollen doch mal sehen, wie du es diesen hochwohlgeborenen Transaktionsanalytikern und überkritischen Lesern zeigst!
Ich bin sauer und wir sind jetzt zu dritt: Mein sei stark-Antreiber hat sich dazu gesellt. Ich fühle mich gleich besser: stark, gewappnet. Und dann – wäre doch gelacht! – schau ich mir das alles an, was ich da zusammen geschrieben habe, und mach das mal ordentlich, so wie ich’s von mir gewohnt bin. Ich schaff das, kein Problem. Hab doch alles in meinem Leben geschafft!
Würde ich so – mich immer wieder korrigierend - einen Vortrag halten hätte ich spätestens jetzt alle Zuhörer verloren und würde das im Nachhinein auf die Tatsache zurückführen, dass ich eben nicht perfekt genug vorbereitet war. Das stimmt aber nicht, der eigentliche Grund für mein Verheddern liegt eine Etage tiefer: Bei meinen verinnerlichten Bannbotschaften – die haben mich gestresst.
Das Ehepaar Mary und Robert Goulding hat in den 70er Jahren folgende Bannbotschaften als die relevantesten herausgestellt:
Sei nicht!
Sei nicht du! (Sei kein Junge/Mädchen!)
Sei nicht wichtig!
Sei nicht nahe! (Traue keinem!)
Gehöre nicht dazu!
Sei kein Kind!
Werde nicht erwachsen!
Fühle nicht!
Zeige keine Gefühle!
Denke nicht!
Schaffe es nicht!
Sei nicht gesund!
Sei nicht normal!
Sei nicht glücklich!

»Sind das wirklich die richtigen Bannbotschaften?«, fragt Mr. Perfect, »Es gibt doch noch andere«, sagt er, »solltest du alle auflisten.«
Okay. Ich gehe zum Buchregal. Ich schaue, ich lese. Ich schaue auf meinem Computer nach, widerstehe dem Impuls, den kompletten Originaltext aus dem TA Journal von 1975 zu lesen. Keine Zeit! Das muss ich jetzt schnell hinkriegen. Zackzack! Chopchop! Noch so viel zu tun und so wenig Zeit!
Ah - mein »Beeil dich!!!«-Antreiber ist nun auch dabei. Wir sind jetzt zu viert, ich und meine drei Antreiber kopflos im Gefängnishof. Wir sehen nicht, dass die Sonne scheint. Wir fühlen nicht die angenehme Wärme auf unserer Haut. Wir fühlen nichts mehr, wir rennen um mein Leben.
Kennst du dieses Gefühl? Kennst du dieses Antreiber-Verhalten von dir?
Ich hab mich durchs Beschreiben meiner Situation beruhigt (oder Mr. Perfect holt sich nur schnell was zu trinken) und komme nochmal zurück zu den Bannbotschaften: Was ist das?
Bannbotschaften im transaktionsanalytischen Sinne sind in uns abgespeicherte »Verbote«, die uns daran hindern ein erfülltes Leben zu führen. Wir entwickeln sie selbst von Geburt an in Resonanz auf die Menschen in unserem Umfeld, in der Regel zunächst Eltern und Großeltern. Für welche Botschaften wir uns unbewusst entscheiden ist abhängig von der Art und Weise wie andere uns anschauen, berühren, halten, mit uns sprechen …
Schon als sehr kleine Wesen erfühlen wir, ob wir in ihrer Welt willkommen sind, ob wir als Junge oder Mädchen erwünscht sind, ob wir mehr Liebe bekommen, wenn wir schon sehr früh sehr vernünftig sind, ob wir unseres Lebens froh, erfolgreich sein dürfen …
Noch bevor wir richtig denken und sprechen können entwickeln wir bereits eine Haltung zu uns selbst, anderen und dem Leben gegenüber, die uns unbewusst begleitet bis ins Erwachsenenleben – so lange bis wir sie uns bewusst machen.
Unsere Bannbotschaften stellen das eigentliche Gefängnis dar und mit den Antreibern versuchen wir, deren Bann zu entgehen. Die Antreiber geben uns ein vorübergehendes Gefühl, okay zu sein.
Während unsere Bannbotschaften uns nach unten in die Tiefe ziehen, holen uns unsere Antreiber nach oben.
Drowning Woman

Die Transaktionsanalytikerin Adrienne Lee hat diese Verbindung sehr nachvollziehbar visualisiert und ich hab‘s nachgezeichnet (Zeichnen ist eines meiner bewährten Hausmittel gegen akute Bannbotschafteritis).
Ich hoffe, ich konnte euch deutlich machen, dass es einem als drowning (wo)man nicht gut geht. Die Ballons sind nur besser lebbar, weil sie uns für einen Moment vorgaukeln, wir müssten einfach nur perfekt, stark, sauschnell etc. sein um okay zu sein und von anderen Wertschätzung zu erfahren.
Was kann man tun, fragst du dich vielleicht, um diesen Moment zu verlängern, so etwa bis zum Lebensende? Dazu komm ich gleich – Mr. Perfekt möchte unbedingt noch etwas ergänzen:
Sowohl unsere Bannbotschaften als auch unsere Strategien, ihnen zu entgehen sind wichtige Kapitel in unserem »Lebensdrehbuch« oder »Lebensskript«. Das ist ein Konzept von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, und er bezeichnet damit einen Lebensplan, dem wir von Geburt an unbewusst folgen. Daher ist das Ziel der transaktionsanalytischen Beratung oder Therapie die »Skriptfreiheit«, die »Autonomie«.
Nun folgt eine Teilantwort auf meine obige Frage, was man tun kann.
Ein erster Schritt in Richtung Autonomie ist überhaupt anzuerkennen, dass man sich in einem Gefängnis befindet.
Miniskript – Maxifrust
Mein Antreiber-Prozess, den ich euch gerade beschrieben habe, ist eine Mini-Variante meines großen »Lebensskriptes« - meinem »Miniskript«. Das lässt sich beschreiben als ein Verhaltensmuster, das einem bestimmtem Ablauf folgt. Innerhalb weniger Minuten kann - unbewusst – folgendes passieren:

0 Ich stehe unter Stress, mein Selbstwertgefühl ist »angeknabbert«. Wie könnte ich mich wieder stabilisieren? Was kann ich tun, um mich wieder gut zu fühlen?
1 Als vermeintliche Rettung gehe ich in mein Antreiber-Verhalten. In diesem Zustand spüre ich mich wenig, habe kaum Kontakt zu mir und meinen echten Bedürfnissen. Aber ich erlebe mich handlungsfähig. Ich kann was dagegen tun!
2 Da man nie stark, schnell, perfekt etc. genug sein kann, wenn man im Antreiber-Gefängnis sitzt, geht die Aktion schief. Ich fühle mich schlecht, verletzt, schuldig, besorgt, leer, verwirrt oder verlegen.
3 In einem Aufbäumen versuche ich, der Verzweiflung über mein schlechtes Gefühl zu entkommen, indem ich andere dafür verantwortlich mache. Hier fühle ich mich möglicherweise vorwurfsvoll, triumphierend, euphorisch, gehässig, wütend.
4 Aber es hilft nichts: Letztlich bringt der Angriff auf andere keine Entlastung und Selbstvorwürfe und Lebensskriptüberzeugungen sowie die dazugehörigen Gefühle breiten sich aus. Hier fühle ich mich möglicherweise wertlos, unerwünscht, hoffnungslos, in der Klemme, ungeliebt, aussichtslos – total frustriert.
Diesen Ablauf kenne ich bei mir mittlerweile recht gut, deshalb hat’s bei mir nicht so lange gedauert bis ich bemerkt habe, dass ich »drin« bin in meinem Gefängnis. Als ich mir dabei zuschaute und euch beschreiben habe, was ich gerade erlebe – da war ich mit einem Bein schon draußen.
Jetzt hol ich mir noch das andere Bein und beschreibe euch wie versprochen die beiden noch fehlenden Antreiber-Verhalten »Mach’s (anderen) recht!« und »Streng dich an!« Vielleicht erkennst du dich in diesen Beschreibungen wieder? Dann bist du auch schon mit einem Bein draußen. Was das andere Bein angeht – da brauchst du womöglich Unterstützung von einem Berater oder Therapeuten.
Der »Mach’s recht«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich es anderen recht mache.
Hier zeigen sich Menschen stets bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen. Sie haben immer alle im Blick und versuchen, es ihnen recht zu machen: »Kann ich was tun, brauchst du was?« Oft agieren sie schon im Vorfeld, ohne Aufforderung. Sie können sich gut in andere einfühlen und wissen daher oft schon, was andere brauchen.
Meine Klienten mit diesem Antreiber bezeichnen sich häufig als »harmoniebedürftig«. Sie halten Konflikte nicht gut aus, können schlecht nein sagen und verzichten auf ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der anderen: »Mir egal, wo wir hingehen!«
Das ist nicht zu verwechseln mit bewusster Rücksichtnahme auf andere. Bei einer bewussten Entscheidung würde man wohl eher mal so-mal so entscheiden.
Andere erleben dieses Verhalten oft als konturenlos: »Jetzt sag doch mal, was DU willst!!« Tja, das fällt unter diesem Antreiber schwer …
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen: Sie sind einfühlsame Zuhörer, sie geben anderen viel Raum und schaffen häufig eine angenehme Atmosphäre für alle.
Der »Streng dich an«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich mich total anstrenge.
Menschen, die dieses Antreiber-Verhalten zeigen spüren einen permanenten Leistungsdruck und zweifeln an ihrer Leistungsfähigkeit. Alles fühlt sich dann schwer und unerreichbar an. Sie haben Angst, es nicht zu schaffen – und meistens schaffen sie es dann auch nicht, eben weil sie sich so anstrengen. Sie misstrauen »leichten Erfolgen«: Wenn es zu leicht geht, ist es nichts wert – sind sie nichts wert, nicht okay. Die Mühe, die sie sich mit allem geben steht im Vordergrund, nicht das zu erreichende Ziel.
Andere erleben dieses Verhalten oft als lähmend, erdrückend. Manchmal lassen sie sich vielleicht in die Schwere einladen oder sie machen Hilfsangebote à la »Mach’s dir doch nicht so schwer!«, die dann brüsk abgelehnt werden: »Ja, du machst es dir einfach!!«
Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen:
Sie haben einen langen Atem, sind ausdauernd, beharrlich, geben nicht gleich auf. Sie scheuen keine Mühen und haben oft auch Freude daran, sich in etwas so richtig reinzuknien.
Wohlgemerkt: Wir sind nicht immer im Antreiber-Verhalten! Dieses Verhalten aktivieren wir unbewusst in Situationen, in denen wir uns gestresst fühlen.
Wir »haben« auch nicht nur einen Antreiber, sondern meistens eine Kombination, wobei einer oft am stärksten ist. Meine Erfahrung ist, dass sich das je nach Situation verändern kann: Mal führt der eine, mal der andere Antreiber.


So. Und wie kommt man da raus oder erst gar nicht rein?
Der erste Schritt ist wie gesagt, sich dessen bewusst zu werden, dass man »drin« ist.
Sich mit einem liebevollen Blick (also nicht wertend) beobachten hilft schon ungemein:
Innehalten, Atmen, spazierengehen, zeichnen … was immer dir hilft, um wieder in Kontakt zu dir zu kommen.

Der zweite Schritt ist komplexer:

Superkalifragilistigexpialigetische Bannbrecher


Ich sagte oben, dass unsere Bannbotschaften das eigentliche Gefängnis darstellen. Nun, Bannbotschaften sind unbewusst verinnerlichte Verbote und die lassen sich mit Erlaubnissen entkräften. Diese Idee ist sensationell (und einer der Gründe, warum ich TA liebe), aber das ist natürlich nicht so einfach wie das klingt.
Um seinen Bannbotschaften auf die Spur zu kommen und sie zu entkräften braucht es professionelle Hilfe. Es braucht eine gelingende Beziehung zu einem Menschen, der einem genau das gibt, was man als Kind nicht bekommen hat. Es braucht Zeit, um sich genau so okay zu fühlen wie man ist. Das vielerorts in den sozialen Medien grassierende »Love yourself« ist alleine nicht zu bewerkstelligen, denn der Grund, warum uns das so schwer fällt, liegt in unseren ersten Beziehungen.
Meinen Prozess habe ich als bisweilen schwer und gleichermaßen erfüllend und bereichernd erlebt. Oft hat es auch Spaß gemacht und ich hab’s genossen.
Ich bin noch dabei – ich glaube, wir sind immer dabei – und ich erfreue mich daran, mich immer besser kennenzulernen, immer mehr zu mir zu kommen. Ich teile meine Erfahrungen gerne, weil ich andere dazu ermutigen möchte, auch diesen Weg zu gehen: Den einzigen Weg in die Freiheit.
Freiheit für mich bedeutet zum Beispiel: Ich bin okay, wenn ich einen Artikel schreibe, der nicht superkalifragilistigexpialigetisch ist. Ich hoffe, er gefällt euch und ich kann es aushalten, wenn jemand von euch enttäuscht ist.
Ich mag meinen Hang zu Vollkommenheit, meine Stärke und meine Schnelligkeit. So lange ich nicht im Gefängnis sitze sind das wunderbare Werkzeuge.
Den Schlüssel zu meiner Gefängniszelle halte ich in der Hand – und wenn ich ihn mal nicht finde, weiß ich, wer mir beim Suchen helfen kann.

QUELLEN


Zu allen in diesem Artikel genannten Konzepten gibt es Originalliteratur (Eric Berne, Taibi Kahler) und zahlreiche Sekundärliteratur. Hier einige ausgewählte Quellen (Themen alfabetisch geordnet):

Antreiber (Drivers) -> Taibi Kahler (1975)

journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/036215377500500318

Bannbotschaften -> Mary und Robert Goulding Buch »Neuentscheidung. Ein Modell der Psychotherapie.« (1999) – Mr. Perfect ergänzt: Leonard Campos (1970) Hexenbotschaften. M. u. R. Goulding haben diese Botschaften nach Campos aufgegriffen und zusätzliche beigefügt (R. Goulding 1972a; R. u. M. Goulding 1976; M.u.R. Goulding 1979, p. 34-42/S. 51-60).


Drowning Person Diagram -> Adrienne Lee YouTube:

www.youtube.com/watch?v=OuxCl5A98gE

Lebensskript -> Eric Berne Buch »Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben?« (1972)


Miniskript -> Taibi Kahler, Hedges Capers (1974)

journals.sagepub.com/doi/10.1177/036215377400400110

Dasa Szekely
Transaktionsanalytikerin (CTA-C), Coach, Autorin, Cartoonistin, Lebensgestalterin, Ausbilderin, Mutter, Freundin, Brotbäckerin, Ungarin, Italienerin u.v.a., nicht immer in dieser Reihenfolge.

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artikelnovember2020

Perfekt oder schnell: Wem gehört die Welt

Autor: Armin Ziesemer – Dieser Artikel betont die Notwendigkeit der Reflexionsfähigkeit von Führungspersonen in einer Zeit, in der psychosoziale Belastungen stetig zunehmen. Die Transaktionsanalyse als psychologische Methode beschreibt mit der Idee des Antreiberverhaltens unbewusste lösungsuntaugliche Verhaltensmuster unter erhöhtem Stress.
Dieser Artikel empfiehlt, die Fantasie als Ressource in Gestaltungsprozesse zu integrieren. Dabei wirkt die Arbeit mit Märchen und Geschichten inspirierend, um neue Zugänge für heute unbekannte Lösungen in der Organisationsgestaltung und der Führungsentwicklung zu finden.
Als Entwicklungsziel für Menschen in Organisationen wird abschliessend eine «bezogene Autonomie» vorgeschlagen.
Für die Unternehmensentwicklung gelten heute langfristige, planorientierte Strategieansätze als Mittel der Wahl. Rational und perfekt sollen sie wirken. Dagegen beginnen sich zunehmend aktivitätenorientierte Methoden in die ökonomische Logik zu integrieren. In agilen Organisationen spricht man vom Konzept «Fail fast» (sinngemäss: Untaugliches frühzeitig erkennen und schnell abbrechen). Hier wird spielerisch experimentiert und das Verhalten schnell adaptiert. Dies bedingt eine Kultur, die offen mit Fehlern umzugehen und sie als Lernerfahrung zu verstehen weiss, um rasch vorwärtszukommen. Kurzum: Die Anforderungen an Organisation und Führung wandeln sich. Es scheint, die Perfekten haben ausgedient und den Schnellen gehört die Welt. Für Führungskräfte bedeutet dies, lösungsorientiertes Verhalten neu zu gestalten.
Die Transaktionsanalyse kennt «Sei perfekt!» und «Beeil dich!» als Antreiberverhalten: Von Taibi Kahler, dem amerikanischen Psychologen und Transaktionsanalytiker, stammt die Beobachtung, dass Menschen in Stresssituationen immer tiefer in ein Schlamassel geraten, während sie sich selbst als lösungsorientiert wahrnehmen1.
Als Ausdruck von Antreiberverhalten haben Sie vielleicht schon einmal beobachtet, wie Ihr Mitarbeiter mit einer Arbeit nicht weiterkommt. Termine werden immer wieder verschoben, weil das Ergebnis noch nicht perfekt genug erscheint. Nur schon das Email zur Verschiebung – ein Zweizeiler – dauert Stunden bis zum Versand, weil die richtige Formulierung gesucht wird. Oder jemand spricht sehr schnell und hört gleichzeitig nicht richtig zu, weil er in Gedanken bereits schon wieder woanders ist. Ein solch sprunghaftes Verhalten macht es schwer, wirkliche Nähe zu anderen zu erleben. Von aussen betrachtet wirkt der Anspruch, den diese Mitarbeitenden an sich selbst stellen, übermässig. Wirkliche Lösungen werden nicht gefunden. Neben einer latenten oder offenen Frustration entsteht der Wunsch, diesen Menschen zu sagen: «Befrei dich von dieser fremden, bedrängenden Macht!»
Bereits als Kind kreieren wir Gestalten für psychische Energien, mit denen wir unser Erleben ausdrücken können. Später unterstützen Modelle Erwachsene, passende Worte für Gutes wie Hinderliches im Leben zu finden. Das Volksmärchen kennt für das Gute stille Helfer. Es kennt auch die Widersacher, die die Heldin oder den Helden an der Entwicklung hindern. Antreiberverhalten ist hinderlich und zeigt sich in existenziell und emotional bedrängenden Situationen. Wir meinen, alte, früh erlernte Verhaltensstrategien lassen uns Probleme «wie früher» gut lösen. Doch funktioniert das meist schlecht. Neben einer als anstrengend erlebten oder gar verfehlten Problemlösung liegt darin eine Not. Daraus resultieren inneres Leid, Konflikte oder krankheitsbedingte Absenzen.
Coaching- und Personalentwicklungsmassnahmen unterstützen idealerweise eine integrale Selbstwerdung und fördern eine erlebte psychologische Sicherheit. Antreiberverhalten betreffen über das Verhalten hinaus, so die praktische Erfahrung, emotionale, gedankliche und entwicklungspsychologische Dimensionen. Es ist unbewusst begleitet von einer tiefen Sehnsucht, in der Welt angenommen zu sein. Coachees beschreiben diese oft mit dem Gedanken: «Wenn ich mir noch mehr Mühe geben würde, dann würde ich endlich geschätzt und anerkannt werden.»
In Organisationen werden Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» oder «Beeil dich!» belohnt und damit verstärkt. Hier bewusst hinzuschauen, birgt Potenzial in der Personalentwicklung; denn der Grat zwischen einer gesunden Leistungsbereitschaft und einem ungesund überhöhten Selbstanspruch ist schmal.
Führungspersonen sind in ihren Rollen besonders mit den eigenen Antreiberverhalten konfrontiert. Ihnen gilt für gesundheitsförderliche Organisationen in einer sich rasant verändernden Umwelt hohe Aufmerksamkeit. Sollen Führungsstile diese Aspekte integrieren, sind neue Kompetenzen und Modelle gefragt.
New Work: Fantasie als Ressource
Über den Begriff «New Work» herrscht ein uneinheitliches Verständnis. Frithjof Bergmann, der Begründer des Begriffs, versteht darunter, den Freiheitsbegriff in die Arbeit einzuführen und sich von «versklavender Lohnarbeit» loszulösen und sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen. In einem Interview kritisiert er die heutigen Entwicklungen:
«Ich habe mir diese ‘Neue Arbeit’ schon anders vorgestellt, als sie heute zelebriert wird. Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.»2
In der Praxis beschreibt New Work oftmals die Digitalisierung der Arbeitswelt, welche zu Effizienzgewinnen und Einsparungen von Personalkosten führt. Ich selbst schliesse mich einem Verständnis von Arbeit an, das den Menschen in die Bedeutungszumessung von Arbeit in seinem Lebensplan und unter Berücksichtigung einer digitalen Transformation miteinbezieht.
Die «neue Arbeit» führt zu einem neuen Verständnis von Arbeit. Wir suchen mehr Sinnstiftung. Dieser hohe Selbstverwirklichungswert lädt uns zunehmend ein, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. In einer Welt, die als unsicher, unberechenbar und mehrdeutig erlebt wird, wird das Selbstvertrauen in die eigene Wahrnehmung zu einem Pfeiler für Entscheidungen.
Zusätzlich entsteht in Arbeitsbeziehungen mehr Nähe und Transparenz. Die alte Arbeitswelt trennte Arbeit und Privates. Bei neuen Arbeitsmodellen verschwimmt die Work-Life-Balance, was sich auf unser soziales Miteinander auswirkt. Wir teilen in der Arbeit mehr Privates. So sehen auch Schnell & Schnell3 in der Definition von New Work, dass sie das Miteinander beim Arbeiten fordere, indem die Vermenschlichung und gemeinschaftliche Interaktion gefördert werde.
Nach Rifkin4 benötigt die Entwicklung eines neuen Arbeitsbegriffs einen «Quantensprung der menschlichen Fantasie». Fantasie gilt als Produktionskraft des Bewusstseins und als besondere Verarbeitungsform der Wirklichkeit5. Welche Geschichten wir über uns erzählen, ist von den Vorstellungen abhängig, wie wir uns selbst sehen. Beispielswiese in Beratungen mit Stellensuchenden zeigen sich gerne festgefahrene Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» und «Beeil dich!», die Dämonen gleich, Transformationen im Weg stehen. Ja. Es ist eine heldische Herausforderung, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und bewusst an den gegebenen Kontext anzupassen.
Mit der Analyse des Antreiberverhaltens und den damit verbundenen Verhaltensweisen lernen Führungspersonen ihre Beziehungen neu zu gestalten. Das Mehr an individueller Bewusstheit trägt dazu bei, dass Organisationen spontaner werden und sich gesundheitsförderlicher entwickeln.
In Organisationsentwicklungen stelle ich fest, dass der Rationalität ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Darüber hinaus ist neben dem Erspüren der eigenen Körpersignale, dem impliziten Wissen, die Intuition «überlebenswichtigt, weil wir darüber Entscheidungssituationen vereinfachen.»6 Die Intuition gilt als Quelle der Fantasie. Ihre Akzeptanz erweitert das Blickfeld und ermöglicht treffende Eingebungen. Andererseits gebären wir mit der Fantasie wiederholt dieselben hohlen Gespenster. Wir erfahren so gelegentlich, dass wir in wiederkehrenden und stereotypen Mustern verharren.
In Transformationsprozessen entdecken wir immer wieder Muster des «Mehr desselben». Einem Hamsterrad gleich erkennen wir, wie wir uns in Antreiberverhalten festgefahren erleben. Im einen Fall kann es dauernd «nicht perfekt genug sein» oder im andern «nicht schnell genug gehen». Das Empfinden einer stimmigen, gesunden Qualität, die ein leichtes «Genau so» fühlen lässt, fehlt.
Der Entwurf fantasievoller Handlungsalternativen anstelle einer fixierten Wahrnehmung schafft Entwicklungsoptionen. Damit werden unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Der persönliche Erlebnisraum wird vergrössert und wir nehmen differenzierter wahr. Und es lassen sich Konsequenzen gedanklich vorwegnehmen.
Begegnung: Innerer Dialog als Lernerfahrung
Verständigung lediglich auf sprachlicher Ebene zu suchen, greift zu kurz. Es geht mehr darum, einander zu verstehen, als miteinander zu reden. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung darüber, was Perfektion oder Eile für ihn bedeuten. Wir tragen Prägungen und Bilder in uns, die den Begriffen eine ureigene Bedeutung verleihen. Solche Bedeutungszumessungen abzugleichen schafft offene Lernprozesse für eine gemeinschaftliche Realität in unseren Beziehungen.
Unsere inneren Stimmen hindern uns oftmals, einen Realitätscheck zu wagen. Wir bauen in uns geistige Konstrukte, wie die Welt draussen ist und suchen danach, diese auch laufend zu bestätigen. Als soziale Wesen streben wir immer wieder neu nach Beziehungen, auf die wir existenziell angewiesen sind. Wenn wir es zulassen und offen sind, entstehen in der Begegnung Möglichkeitsräume. In solchen Momenten erfahren wir, wie wir Realität im Hier und Jetzt gemeinsam gestalten können und erweitern damit unseren Horizont. Die Bilder unserer Mitmenschen und von uns selbst verändern sich dadurch laufend.
Die stetige Erneuerung unseres Selbstbildes erfordert ein Lassen und ein Handeln im Moment. Wir selbst haben die Wahl, auf welche inneren Stimmen wir hören. Doch die Vielzahl innerer Stimmen erschwert es uns oft, spontan treffend zu wählen. Denn sobald mehrere Stimmen in unser Denken und Fühlen treten, entstehen innere Konflikte. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, ambivalenzfrei zu leben. Wir können diese inneren Konflikte ignorieren oder wir schöpfen daraus Lernerfahrungen.
Basierend auf der Transaktionsanalyse und gestalttherapeutischen Techniken entwickelten Mary McClure und Bob Goulding in den 60er Jahren die Neuentscheidungstherapie. Sie geht davon aus, dass der innere Dialog vergleichbar unter Feen, Hexen und Geistern als «Kopfbewohner»7 unser Selbsterleben bestimmt. Ein Teil unserer «Kopfbewohner» strebt danach, dass unsere Weltsicht dominiert und ich bestimmend bin. Ein anderer Teil dieser inneren Stimmen, sucht nach Integration und Kooperation. Aus dieser inneren Zerrissenheit heraus in ein bewusstes Handeln zu kommen, benötigt Arbeit mit und an sich selbst. Lebendig und frei zu handeln, während wir unseren inneren Dialog und unser Leiberleben bewusst wahrnehmen, setzt voraus, dass wir unsere zerstörerischen, dunklen Seiten kennen.


Von der Grandiosität zu bezogener Autonomie


Antreiberverhalten geht mit Selbstabwertungen einher. Solche destruktiven «Kopfbewohner» anerkennen wir im äussersten Fall als so gültig wie das Gesetz der Schwerkraft. Gedanken wie «Ich muss mich immer dafür entschuldigen, dass ich es schon wieder nicht vollkommen hinbekommen habe» oder «Es tut mir immer leid, dass ich zu wenig Zeit für alles habe», können zu paradoxem Erleben führen: Irgendwann geht es nicht mehr perfekter; nicht mehr schneller.
Positive oder negative Überhöhungen eines Aspekts der Realität bezeichnet die Transaktionsanalyse als Grandiosität. Wir über- oder minderbewerten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung. So geraten wir in Situationen, in denen uns das Alltagserleben vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Ebenso tut es das Märchen: In einer einzigen Nacht sollen Berge abgetragen, Schlösser gebaut oder ein Diadem aus Morgentau hergestellt werden.
Was im Märchen am Ende meist gelingt, ist vorgängig oft mit grossen Aufgaben verbunden. Nicht selten steht auf das Verfehlen einer Aufgabe gar eine grausame Todesstrafe. Diese Märchenmotive drücken symbolisch die zu tragende Last solcher Selbstabwertungen aus. Sie wirken nicht lustbezogen lebendig, sondern destruktiv. Das Empfinden, nie gut genug zu sein oder nie Zeit vergeuden zu dürfen, staut den Fluss der Lebensenergie.
Hören wir sklavisch auf diese Botschaften, schränken wir uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein. Womöglich haben «Kopfbewohner», die lohnende Handlungsalternativen für das Hier und Jetzt anbieten, just in diesem Moment zu schweigen? Neue zu entdecken, kommt dem märchenhaften Zauber gleich, in dem Märchenheldinnen und -helden Zugang zu stillen Helfern finden. Es kommen wie bei Aschenputtel beispielsweise Tauben und legen «die rechten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen». So ist die Aufgabe wie von selbst gelöst und es reicht doch noch zum Tanz auf dem Ball im Königsschloss.
Schön wär’s. Nur: Das Volksmärchen ist in seiner Struktur selbst perfektionistisch. Es fällt ihm leicht, das Extreme zu suchen, die hohen Grade zu übertreffen oder verbotene Türen zu öffnen. Was sich immer in einem Märchen auch zu erkennen gibt: Es wird in der Fantasie wirklich und wahr; denn Märchen sind «Träger von Wirklichkeit und Dichtung»8.
Im Denken, Fühlen und intuitiven Erspüren entwickelt der Mensch als Held seiner biographischen Erzählung im Heranwachsen sein Lebensdrehbuch.
In der Beratung erfahre ich immer wieder, wie aktivierend die Fähigkeit zum magischen Denken auf das Verhalten Erwachsener wirkt. In ihm findet sich die für das Erfassen der Wirkkraft des Märchens notwendige Imaginationsfähigkeit. Märchen beschreiben den Weg, wie Not überwunden werden kann in ihrer eigenen Weise. Als zertifizierter Erzähler schätze ich seine Wirkmechanismen sehr. Sie betonen nicht Flucht oder Kampf als Leitstern zum Handeln, sondern die Perspektive wandelt sich «zum freien, bejahenden Kind»9.
Diese Energie fördert im Antreiberverhalten Ressourcen, die zu beeindruckenden Leistungen beflügeln können. So ist die Stärke von «Sei perfekt!» eine «beeindruckende Gründlichkeit und Genauigkeit»10. Menschen mit bevorzugtem Antreiberverhalten «Beeil dich!» können in kurzer Zeit sehr viel schaffen. «Sie sind besonders gut für Aufgaben geeignet, in denen Tempo und Dynamik gefragt sind» (ibid)11.
Von Grandiosität und abwertenden Verhaltensweisen in eine bezogene Autonomie zu gelangen wird im Antreiberverhalten durch den Glaubenssatz «ich bin nur OK, wenn …» verhindert. Die «bezogene Autonomie» kann als das Entwicklungsziel der Transaktionsanalyse betrachtet werden. Sie drückt das Paradox aus, dass wir uns hingeben und gleichzeitig abzugrenzen suchen. Den Glauben an diese «Nur-Wenn»-Annahme haben wir in uns oder möglicherweise in einem Gründermythos bei Organisationen verinnerlicht. In Stresssituationen greifen wir darauf zurück.
Das Lassen der «Nur-Wenn»-Annahme fällt in einem angstfreien, vertrauensvollen Umfeld leichter. Dabei sind Erlaubnisse hilfreich. Erlaubnisse ermutigen, neue Denk- und Verhaltensmuster auszubilden. Manchmal gelingt es uns, uns selbst Erlaubnisse zu geben. Für die Entwicklung einer bezogenen Autonomie kann es zusätzlich unterstützend wirken, eine Beratung oder gar therapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. In der Literatur finden wir zahlreiche Varianten von Antithesen. Gührs und Nowak12 haben in ihrer Arbeit wesentliche gesammelt (siehe Kasten S. 5).

Erlaubnisse zu «Sei perfekt!»
- Du darfst Fehler machen, ohne dich unzulänglich zu fühlen, und kannst daraus lernen. - Du darfst dich so zeigen, wie du bist, und deinen eigenen Stil entwickeln. - Du darfst die Zusammenarbeit mit anderen geniessen.
Erlaubnisse zu «Beeil dich!»
- Du darfst dir Zeit nehmen und herausfinden, was du selbst willst. - Du darfst nachdenken, bevor du es auf deine Art tust. - Du hast das Recht auf eine eigene Meinung.
Wem gehört nun die Welt
Die zunehmende Beschleunigung wandelt Arbeitsbeziehungen und digitale Arbeitsmodelle bergen die Gefahr zur Entfremdung. Gängige Rezepte sind nach wie vor im «Mehr desselben» zu finden. Beschleunigung und Perfektion heizen unter dem Deckmantel von Begriffen wie «New Work» oder «Digitaler Transformation» Organisationen auf, was die psychosoziale Belastung erhöht. Führungspersonen tragen die Verantwortung darüber, ob sie Arbeitsbeziehungen abwertend oder wertschätzend gestalten. Dafür ist es wesentlich, welchen «Kopfbewohnern» wir das Zepter überreichen. In klassisch hierarchischen Strukturen wird der Mut zur Eigenverantwortung unterbunden und Dialog auf Augenhöhe gemieden. Der Regent sitzt auf dem Thron und die Untertanen passen sich an – das Bild eines grandiosen Herrschers. Eine Transformation hin zu einer bewussten Gestaltung konstruktiver Arbeitsbeziehungen erfordert neue Kompetenzen und Fantasie, Arbeit schliesslich als sinnstiftende Lebenszeit neu verstehen zu lernen.
Im Märchen finden sich viele Motive, solche neuen Wege zu suchen. Gerade das Bild der Königin resp. des Königs im Märchen lohnt sich, erforscht zu werden. Denn der Weg zur Herrschaft, liegt nicht darin, möglichst schnell oder perfekt zu sein. Wahres Königtum liegt darin, das eigene Leben frei, spontan, in Beziehung und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts zu gestalten. Sich zu erlauben, sich selbst lebendig und authentisch im Hier und Jetzt auszudrücken; darin liegt der Königsweg. Auf diesem ist es eine heldische Tat, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und sich selbst als Mensch mit seinen wahren Bedürfnissen zu entdecken.
Fußnoten
1. https://inkovema.de/blog/das-antreiber-konzept-der-transaktionsanalyse-als-diagnose-und-interventionskonzept-fuer-die-mediation/ [17.07.2020]
2. https://blog.derbund.ch/berufung/index.php/35779/es-gibt-sehr-viele-arten-das-leben-zu-verpassen/ [17.07.2020]
3. Schnell, N. et Schnell, A. (2019: 16): New work hacks. Springer. Berlin.
4. Rifkin, J. (2011: 26): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 3. aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch. Berlin.
5. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/phantasie/11488 [16.07.2020]
6. Korpiun, M. et al. (2017: 97): Vom Ich zum Wir – Warum wir ein neues Menschenbild brauchen. In Relation Publication No. 2. Books on Demand. Norderstedt.
7. Goulding, M. (2011: 17): «Kopfbewohner» oder: Wer bestimmt mein Denken?
8. durchgesehene Auflage. Junfermann. Paderborn
8. Lüthi, M. (2004: 115): Märchen. 10. Auflage. J. B. Metzler. Stuttgart. Weimar.
9. Rosenkranz, H. (2016: 50): Wie wir aus Stroh Gold machen können – Wertorientierte Erfolgsstrategien durch Gruppendynamik, Transaktionsanalyse und systemische Organisationsentwicklung. Team Dr. Rosenkranz. Gräfelfing.
10. Gührs, M. et Nowak, C. (2014: 112): Das konstruktive Gespräch – Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung. Christa Limmer. Meezen.
11. ibid: 110
12. ibid: 115 ff
Armin Ziesemer
Verfügt als zertifizierter Märchenerzähler über ein tiefes Wissen von den Wirkmechanismen der Volksmärchen. Er verbindet dieses als Betriebsökonom mit der Transaktionsanalyse (Praxiskompetenz/ unter Supervision) im Feld Organisation, in der Organisationsentwicklung und im Coaching.

www.synop-sys.ch, info@synop-sys.ch