artikelmai2020
Der Röstigraben(1) – eine Goldgrube für Diversity-Erfahrungen
Autor: Franz Liechti-Genge
Manchmal kommt es mir vor, dass auch die Schweiz aus solchen "verübten Orchestern" besteht, bei denen nur die eigenen Stücke "rein und richtig" gehen. Neben dem "Kantönligeist" denke ich vor allem an die grossen Orchester diesseits und jenseits des Röstigrabens, nicht zu vergessen das Kammerorchester im Tessin und das Musikensemble in Graubünden.
In diesem Essai möchte ich davon sprechen, wie viel "Geist des Lebens aufgehen kann" wenn wir lernen, die Worte und Musikstücke der anderen Musikensembles zu lernen, wie vielfältig und vielstimmig, wie laut und leise, harmonisch und anregend disharmonisch die Musik werden kann, wenn wir uns von den "verübten" Stücken verabschieden, und uns für Anderes öffnen oder sogar Neues wagen. Dabei gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen aus, der ich als "Stockberner" vor knapp fünfzehn Jahren in den französischsprachigen Kanton Jura gezogen bin und werde ein paar Reflexionen anfügen, die hoffentlich dazu einladen, den Röstigraben als Chance zu erkennen und auch zu nutzen, sich im Umgang mit Vielstimmigkeit bzw. Diversity zu üben.
Und ich erinnere mich, wie ich mit staunenden Augen und Ohren am Familientisch sass, wenn manchmal der französischsprachige Arbeitskollege meines Vaters mit seiner ausserordentlich elegant gekleideten Gemahlin aus Paris bei uns zu Gast war. Das tönte - und roch - sehr anders, als ich es mir in unserer eher biederen und braven Familie gewohnt war. Und mit Aufregung beobachtete ich den Wandel, der sich mit meinem Vater vollzog. Der "Geist des Lebens" kam über ihn, wenn er so charmant wie fehlerhaft französisch zu parlieren versuchte.
Seit ich in der Romandie wohne, freue ich mich mehr und mehr über das, was im Kontakt mit der Frankophonie entsteht. Meine Grammatik ist nicht besser geworden und mein "Vocabulaire" ist immer noch mager im Vergleich zu den unglaublich reichen Möglichkeiten der französischen Sprache, verschiedene Nuancen und Stimmungen auszudrücken. Ich habe alle Scham abgelegt und das Schweigen aufgegeben und bin daran den Reichtum zu geniessen, der sich entfaltet, wenn ich mich auf das für mich "dissonante" Französisch einlasse.
Szenenwechsel: ich sitze nach einem Schulanlass meiner Tochter im Gartenrestaurant mit anderen Eltern, eine neue Familie kommt hinzu und ein kleines Mädchen begrüsst alle der Reihe nach mit "la bise"(5) , ich bin auch in der Reihe und strecke dem Kind - wie ich es gewohnt bin (ich küsse doch keine fremden Kinder!) - meine Hand hin, um es zu begrüssen, das Kind bleibt irritiert stehen, gibt mir die Hand nicht, was mich wiederum irritiert, bis ich merke, was ich "falsch" gemacht habe. Ich lasse die Hand fallen und neige ihr mein Gesicht einen halben Centimeter zu und - schwups - werde ich herzlich rechts, links, rechts auf die Wange geküsst.
An den Strategietagen der SGTA-ASAT(6) geht es darum, am zweiten Tag am Morgen das weitere Vorgehen zu besprechen. Ein deutschsprachiger Kollege macht einen ziemlich detaillierten Vorschlag, Schritt 1, Schritt 2, Schritt 3 ... und fast gleichzeitig werden die Teilnehmenden aus der Romandie unruhig, fühlen sich eingeengt und geschulmeistert. Sie hätten das lieber in einem gemeinsamen Gespräch geklärt. Erst nach einer Aussprache gelingt es wieder, die Gemüter zu beruhigen, die Dissonanz zu klären und das Zusammenspiel des Gesamtorchesters wieder zum Klingen zu bringen.
Diese Beispiele stehen für Erfahrungen von Diversität. Sie illustrieren die Irritation, die das Fremde und Andere bei mir auslösen kann. Warum lösen solche Erfahrungen von Anderssein eine Irritation bei mir aus? Warum wirken sie dissonant?
Das Skript und der Bezugsrahmen und vor allem dann deren kulturelle Einflüsse werden grundlegend durch das "Wort" geprägt, d.h. von der Sprache. Jede Sprache generiert ihre eigenen Bilder, findet Ausdrücke, die es nur im jeweiligen Sprachspiel gibt. So hat jede Sprache ihre eigenen Ressourcen und auch ihre Beschränkungen. Das Wahrnehmen dieser Vielfalt und der jeweiligen Unterschiede macht die Begegnung an der Sprachgrenze so anregend.
Kulturelle Prägung, das Skript und der Bezugsrahmen sind Elemente, die Identität vermitteln. So bin ich, so sind wir, das gibt Sicherheit, verschliesst aber gleichzeitig für Anderes. Deshalb wird ein "Rütteln" am Bezugsrahmen, das in Frage stellen des Skripts oder die Konfrontation mit Andersartigkeit manchmal als etwas Erschütterndes erlebt. Das sind "dissonierende Töne", die "ins Schweigen bringen". Zugleich sind es genau diese Grenzerfahrungen, die die Lernprozesse in Gang bringen. Das "verübte Orchester" muss sich neu besinnen und auch neue Stücke lernen.
Identitätsfindung wird immer mehr zu einer Herausforderung. Eric Lippmann(10) beschreibt "Chamäleoneigenschaften", die Menschen brauchen, um in der "Multioptionsgesellschaft" bestehen zu können.(11) Sein Fazit: "Neben dem Streben nach Zusammenhang, Kohärenz und Sinn müssen wir als weitere Kompetenz auch eine Toleranz entwickeln, mit Widersprüchen, Paradoxien und Verrücktem umzugehen. Im Zeitalter des Chamäleons heisst das: flexibel sein und Farbe bekennen."(12)
Die Möglichkeiten in Abständen zu denken und nicht in entweder-oder-Kategorien ermöglicht das "Dazwischen" ernst zu nehmen. Das Denken in Differenzen isoliert und bringt die Menschen zum Schweigen. Das Explorieren des Abstandes lädt ein zu ermitteln: wie ist das bei mir? wie ist das bei Dir? "[Die Ermittlung] will herausfinden - sondieren - bis wohin andere Wege führen können. Sie ist auf Abenteuer aus."(15)
Dadurch wird ein Zwischenraum etabliert, in dem die Verschiedenheiten nicht negiert, sondern als Ressourcen aktiviert werden. "In dem eröffneten Zwischen - einem aktiven, erfinderischen Zwischen - verbindet sich mit dem Abstand eine Aufgabe, da er die einmal voneinander gelösten Terme auch weiterhin miteinander verbindet und da diese trotz der Brüche, die sich aufgetan haben, nicht aufhören, einander in Frage zu stellen. Jeder bleibt vom anderen betroffen und verschliesst sich ihm nicht. Könnten die Beziehungen zwischen Kulturen, die dazu tendieren, sich auf 'Unterschiede' zurückzuziehen, davon profitieren?"(16)
Die Schweiz hat schon eine lange Geschichte, sich mit kultureller Diversity auseinander zu setzen(17), immer wieder wogten die Wogen hin und her, einmal fürchtete sich die Romandie wegen einer Germanisierung ihre Identität zu verlieren, zu anderen Zeiten wehrten sich die Deutschsprachigen gegen ein überhandnehmen der französischen Gebräuche. Daraus entstanden ist ein lebendiges und fragiles Gleichgewicht von Interessenskonflikten und Interessensausgleich. Und auch wenn nicht alles immer optimal läuft - oder vielleicht eben gerade deshalb - ist das ein bemerkenswertes Zeugnis von gelebter Diversität.
Anregende Versuchslaboratorien sind die Städte Biel und Freiburg bzw. Bienne und Fribourg. Das Fazit von Rainer Schneuwly in seinem Buch über den Bilinguismus dieser beiden Städte lautet: "Eine Auskunftsperson sagte im Rahmen einer Umfrage ... 'Le bilinguisme, c'est intéressant, mais c'est fatiguant!' in Deutsch: Zweisprachigkeit ist interessant, aber anstrengend! Der Lohn für die Anstrengungen ist, dass Städte wie Biel und Freiburg etwas Besonderes sind, sie sind spannend, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Frage, ob sie sich Biel jemals als rein französischsprachige Stadt gewünscht hätten verneinten die Welschbieler Stéphane Hofmann und Jean-Philippe Rutz. Seien sie in Genf oder Lausanne, fehle ihnen etwas: die Zweisprachigkeit"(18)
Die Anstrengung lohnt sich auch im zwischenmenschlichen Bereich. Es ist die Anstrengung sich einem Lernprozess zu stellen, der am Bezugsrahmen rüttelt und vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Erfahrungen des Abstandes laden ein, Skriptüberzeugungen zu revidieren. Das ist anstrengend und herausfordernd und zugleich bereichernd und lebensförderlich. Ist es ein Zufall, dass Terri und Jerome White in ihrem Artikel über das kulturelle Skript am Schluss ein - auch in der englischen Originalfassung - französisches Wort verwenden, um den Gewinn zu beschreiben, den eine Öffnung des kulturellen Skripts bewirkt: "joie de vivre"(19)?
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft mich auf die "Fremdsprache" einzulassen und sie mir ein Stück weit anzueignen. Und auch dieser Effort ist manchmal anstrengend. Ich brauche keine perfekten Kenntnisse, es genügt, wenn es mir gelingt, die Noten in einer neuen Partitur einigermassen zu lesen und so am Reichtum der Diversität teilzuhaben.
Ganz praktisch lerne ich im Zwischenraum zwischen den Sprachen besser auf die Unter- und Obertöne zu horchen. "C'est le ton qui fait la musique". Auch wenn ich etwas nicht ganz verstehe, so lerne ich, besser auf den "ton" zu hören. Ich werde überhaupt hellhöriger für Unstimmigkeiten und feinfühliger für Empfindlichkeiten. In Gesprächen über die Sprachgrenze hinweg, gehe ich sozusagen selbstverständlich davon aus, dass wir uns nicht verstehen könnten und ich frage eher nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Das braucht Zeit, ich werde langsamer. Und nicht zuletzt verhilft diese Verlangsamung, die dadurch entsteht, dass ich und mein Gegenüber immer wieder den Abstand zwischen uns explorieren müssen, zu einer qualitativen Vertiefung der Begegnung. Zugleich habe mich auch endgültig von der Illusion verabschiedet, immer alles verstehen zu können oder gar verstehen zu müssen, bevor ich mit jemandem arbeiten kann. Sich verstehen bleibt immer ein offener Prozess. Diese Einsichten helfen mir übrigens auch, wenn ich mit Menschen der gleichen Muttersprache spreche.
Vielleicht können wir das Bild so nutzen, dass es darum geht zu lernen, zusammen Rösti zu essen, von beiden Seiten her, den kreativen Zwischenraum als gemeinsamen Teller zu nutzen. Sich daran zu freuen, wie anders wir sind, uns davon herausfordern zu lassen, zu lernen und zu üben, unsere Bezugsrahmen zu erweitern und im Umgang mit Diversity insgesamt geschmeidiger zu werden. Wenn uns das mit unseren französischsprachigen Nachbarn gelingt, dann können wir das auch mit allen anderen Menschen, die anders sind als wir.(20)
Um noch einmal das Wort von Hoffmann leicht abgeändert aufzunehmen: Jeder Ton des Fremden dissoniert in meinen Ohren, ja das stimmt; und statt ins Schweigen zu kommen, beginne ich heute Kontakt aufzunehmen und zu sprechen.
Einleitung
Beim Lesen der Nachtstücke des romantischen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann, der schon zu seiner Zeit ein Flair für psychologische Feinheiten entwickelt hat, bin ich zufälligerweise auf folgende Lesefrucht gestossen. Der Ich-Erzähler der Geschichte "Die Jesuitenkirche in G." muss wegen einem Kutschenunfall ein paar Tage in einer fremden Stadt verbringen und beklagt sich darüber, dass ihm dabei sicher langweilig wird, weil er befürchtet mit niemandem verständig sprechen zu können und er bemerkt dann: "In dem Wort geht ja erst der Geist des Lebens auf in allem um uns her; aber die Kleinstädter sind wie ein in sich selbst verübtes, abgeschlossenes Orchester eingespielt und eingesungen, nur ihre eignen Stücke gehen rein und richtig, jeder Ton des Fremden dissoniert ihren Ohren und bringt sie augenblicklich ins Schweigen"(2)Manchmal kommt es mir vor, dass auch die Schweiz aus solchen "verübten Orchestern" besteht, bei denen nur die eigenen Stücke "rein und richtig" gehen. Neben dem "Kantönligeist" denke ich vor allem an die grossen Orchester diesseits und jenseits des Röstigrabens, nicht zu vergessen das Kammerorchester im Tessin und das Musikensemble in Graubünden.
In diesem Essai möchte ich davon sprechen, wie viel "Geist des Lebens aufgehen kann" wenn wir lernen, die Worte und Musikstücke der anderen Musikensembles zu lernen, wie vielfältig und vielstimmig, wie laut und leise, harmonisch und anregend disharmonisch die Musik werden kann, wenn wir uns von den "verübten" Stücken verabschieden, und uns für Anderes öffnen oder sogar Neues wagen. Dabei gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen aus, der ich als "Stockberner" vor knapp fünfzehn Jahren in den französischsprachigen Kanton Jura gezogen bin und werde ein paar Reflexionen anfügen, die hoffentlich dazu einladen, den Röstigraben als Chance zu erkennen und auch zu nutzen, sich im Umgang mit Vielstimmigkeit bzw. Diversity zu üben.
Meine Geschichte mit der französischen Sprache
Seit der fünften Klasse und später im Gymnasium tat ich mich schwer mit dem Fach Französisch. Unter einem meiner letzten Aufsatztexte vor der Matur, den ich im Schweisse meines Angesichtes zusammen schusterte, notierte Monsieur Delachaux, unser Franz-Lehrer "vous négligez toute la grammaire française"(3) und entsprechend dem Kommentar fiel auch die Note aus. Zugleich war ich immer auch fasziniert von dem Fremden, irgendwie reizte mich das, was anders klang. Und als unser Sekundarlehrer zusammen mit der "École française" in Bern ein Skilager organisierte, war ich der erste, der mit den französischsprachigen Mädchen auf einmal ganz eloquent wurde, schliesslich hatten wir als Schüler einer "Knabensekundarschule" wenig Gelegenheit mit Mädchen in Kontakt zu kommen.Und ich erinnere mich, wie ich mit staunenden Augen und Ohren am Familientisch sass, wenn manchmal der französischsprachige Arbeitskollege meines Vaters mit seiner ausserordentlich elegant gekleideten Gemahlin aus Paris bei uns zu Gast war. Das tönte - und roch - sehr anders, als ich es mir in unserer eher biederen und braven Familie gewohnt war. Und mit Aufregung beobachtete ich den Wandel, der sich mit meinem Vater vollzog. Der "Geist des Lebens" kam über ihn, wenn er so charmant wie fehlerhaft französisch zu parlieren versuchte.
Seit ich in der Romandie wohne, freue ich mich mehr und mehr über das, was im Kontakt mit der Frankophonie entsteht. Meine Grammatik ist nicht besser geworden und mein "Vocabulaire" ist immer noch mager im Vergleich zu den unglaublich reichen Möglichkeiten der französischen Sprache, verschiedene Nuancen und Stimmungen auszudrücken. Ich habe alle Scham abgelegt und das Schweigen aufgegeben und bin daran den Reichtum zu geniessen, der sich entfaltet, wenn ich mich auf das für mich "dissonante" Französisch einlasse.
Diversity-Erfahrungen mit der französischen Sprache im Jura und anderswo
Eine Erfahrung, an die ich mich schmerzlich erinnere, betrifft eine Begegnung auf eine Hundespaziergang mit unserem damals jungen Hund. Er ist "fou-fou, mais gentil"(4), wie unsere Tierärztin in Porrentruy zu sagen pflegt, und auf diesem Spaziergang ging er - wie es seinem Naturell entsprach - überfallmässig auf eine Familie mit kleinen Kindern los. Begreiflicherweise waren die Kinder verängstigt und der Familienvater kam auf mich zu und deckte mich mit einer Schimpftirade sondergleichen ein, wahrscheinlich mehr als nötig, auch wenn ich sein Erschrecken gut nachvollziehen konnte. Das liess mich einen Moment absoluter Ohnmacht erleben, ich musste die Tirade über mich ergehen lassen, ohne dass ich alles verstand und ich war unfähig adäquat zu reagieren - wie ich das in meiner Muttersprache ohne weiteres gekonnt hätte - mir fehlten die passenden Worte, die Situation zu beruhigen, mich zu entschuldigen. So dumm und wehrlos habe ich mich noch selten gefühlt.Szenenwechsel: ich sitze nach einem Schulanlass meiner Tochter im Gartenrestaurant mit anderen Eltern, eine neue Familie kommt hinzu und ein kleines Mädchen begrüsst alle der Reihe nach mit "la bise"(5) , ich bin auch in der Reihe und strecke dem Kind - wie ich es gewohnt bin (ich küsse doch keine fremden Kinder!) - meine Hand hin, um es zu begrüssen, das Kind bleibt irritiert stehen, gibt mir die Hand nicht, was mich wiederum irritiert, bis ich merke, was ich "falsch" gemacht habe. Ich lasse die Hand fallen und neige ihr mein Gesicht einen halben Centimeter zu und - schwups - werde ich herzlich rechts, links, rechts auf die Wange geküsst.
An den Strategietagen der SGTA-ASAT(6) geht es darum, am zweiten Tag am Morgen das weitere Vorgehen zu besprechen. Ein deutschsprachiger Kollege macht einen ziemlich detaillierten Vorschlag, Schritt 1, Schritt 2, Schritt 3 ... und fast gleichzeitig werden die Teilnehmenden aus der Romandie unruhig, fühlen sich eingeengt und geschulmeistert. Sie hätten das lieber in einem gemeinsamen Gespräch geklärt. Erst nach einer Aussprache gelingt es wieder, die Gemüter zu beruhigen, die Dissonanz zu klären und das Zusammenspiel des Gesamtorchesters wieder zum Klingen zu bringen.
Diese Beispiele stehen für Erfahrungen von Diversität. Sie illustrieren die Irritation, die das Fremde und Andere bei mir auslösen kann. Warum lösen solche Erfahrungen von Anderssein eine Irritation bei mir aus? Warum wirken sie dissonant?
Ein Stück Theorie
Gemäss der Transaktionsanalyse entwirft ein Mensch schon in seinen jungen Jahren seine eigene Lebensgeschichte wie ein Filmskript, das den Verlauf und die Stimmungen des zu realisierenden Filmprojekts festlegt. Dieses Skript gibt mir vor, welche Rolle ich im Leben zu spielen habe, wie ich mich anderen Menschen gegenüber verhalte, was mir erlaubt und was verboten ist, wie ich mich selbst, die Welt und die anderen sehe. Dadurch entsteht ein individueller Bezugsrahmen. Leonhard Schlegel versteht unter "Bezugsrahmen, die Bedeutung, den Sinn und den Wert, den jemand dem, was ihm begegnet, zuordnet"(7). Immer wieder wurde in der Transaktionsanalyse diese individuelle Sichtweise des Skripts dahingehend ergänzt, dass dieses Skript nicht nur auf persönlichen Entscheidungen beruht, sondern auch von kulturellen Einflüssen geprägt wird. "Rollenbücher einer Kultur sind die akzeptierten und erwarteten dramatischen Muster innerhalb einer Gesellschaft und werden bestimmt durch die ausgesprochenen und unausgesprochenen Normen, denen die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe folgt... Die Rollenbücher der Kultur enthalten Bühnenanweisungen für das Ensemble, die auch Details wie Haltung, Gestik und Handlungen vorschreiben. Selbst ob und wie man Gefühle zeigt, kann kulturell bestimmt sein."(8) Und wer in diesem eingespielten Orchester mitspielt, um das Bild von Hoffmann noch einmal aufzunehmen, ist sich dessen meistens nicht bewusst, dass er oder sie sich innerhalb seiner Kultur und Sprache bewegt. Eine solche Person hat keinen Sinn für und keine Einsicht in die Diversität, sondern geht von einem für alle gleichen und einheitlichen Weltbild aus. "Kultur verhüllt mehr als dass sie enthüllt, und eigenartig ist es, dass sie das, was sie verhüllt am wirksamsten vor denen verhüllt, die an ihr teilhaben. Mit anderen Worten, wie die unbewussten individuellen Skriptüberzeugungen, werden die Sitten und Normen als selbstverständlich verstanden und wir sind uns dessen nicht bewusst, wie sie unsere individuellen Bezugsrahmen beeinflussen."(9)Das Skript und der Bezugsrahmen und vor allem dann deren kulturelle Einflüsse werden grundlegend durch das "Wort" geprägt, d.h. von der Sprache. Jede Sprache generiert ihre eigenen Bilder, findet Ausdrücke, die es nur im jeweiligen Sprachspiel gibt. So hat jede Sprache ihre eigenen Ressourcen und auch ihre Beschränkungen. Das Wahrnehmen dieser Vielfalt und der jeweiligen Unterschiede macht die Begegnung an der Sprachgrenze so anregend.
Kulturelle Prägung, das Skript und der Bezugsrahmen sind Elemente, die Identität vermitteln. So bin ich, so sind wir, das gibt Sicherheit, verschliesst aber gleichzeitig für Anderes. Deshalb wird ein "Rütteln" am Bezugsrahmen, das in Frage stellen des Skripts oder die Konfrontation mit Andersartigkeit manchmal als etwas Erschütterndes erlebt. Das sind "dissonierende Töne", die "ins Schweigen bringen". Zugleich sind es genau diese Grenzerfahrungen, die die Lernprozesse in Gang bringen. Das "verübte Orchester" muss sich neu besinnen und auch neue Stücke lernen.
Identitätsfindung wird immer mehr zu einer Herausforderung. Eric Lippmann(10) beschreibt "Chamäleoneigenschaften", die Menschen brauchen, um in der "Multioptionsgesellschaft" bestehen zu können.(11) Sein Fazit: "Neben dem Streben nach Zusammenhang, Kohärenz und Sinn müssen wir als weitere Kompetenz auch eine Toleranz entwickeln, mit Widersprüchen, Paradoxien und Verrücktem umzugehen. Im Zeitalter des Chamäleons heisst das: flexibel sein und Farbe bekennen."(12)
Die Idee vom kreativen Abstand
Bei der Vorbereitung dieses Essais stiess ich auf das schmale Büchlein von François Jullien "Es gibt keine kulturelle Identität"13. Jullien schlägt vor, die Verschiedenheit von Kulturen nicht als Differenz zu beschreiben, sondern als Abstand (französisch: écart). Differenz wird seiner Meinung nach "klassifikatorisch..., die Analyse funktioniert über Ähnlichkeit und Unterschiede; zugleich ist sie identifizierend: Indem man von 'Unterschied zu Unterschied' voranschreitet, wie Aristoteles sagt, gelangt man zu einem letzten Unterschied, der das in seiner Definition ausgedrückte Wesen des Dings zu erkennen gibt". Aus Gewohnheit definiere ich mich, indem ich mich von den anderen abgrenze, mein eigenes Rollenbuch spiele, nur meine eigenen Stücke als "rein und richtig" anerkenne. Das engt ein. Jullien fährt weiter: "Demgegenüber erweist sich der Abstand als eine Denkfigur nicht der Identifikation, sondern der Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert."(14)Die Möglichkeiten in Abständen zu denken und nicht in entweder-oder-Kategorien ermöglicht das "Dazwischen" ernst zu nehmen. Das Denken in Differenzen isoliert und bringt die Menschen zum Schweigen. Das Explorieren des Abstandes lädt ein zu ermitteln: wie ist das bei mir? wie ist das bei Dir? "[Die Ermittlung] will herausfinden - sondieren - bis wohin andere Wege führen können. Sie ist auf Abenteuer aus."(15)
Dadurch wird ein Zwischenraum etabliert, in dem die Verschiedenheiten nicht negiert, sondern als Ressourcen aktiviert werden. "In dem eröffneten Zwischen - einem aktiven, erfinderischen Zwischen - verbindet sich mit dem Abstand eine Aufgabe, da er die einmal voneinander gelösten Terme auch weiterhin miteinander verbindet und da diese trotz der Brüche, die sich aufgetan haben, nicht aufhören, einander in Frage zu stellen. Jeder bleibt vom anderen betroffen und verschliesst sich ihm nicht. Könnten die Beziehungen zwischen Kulturen, die dazu tendieren, sich auf 'Unterschiede' zurückzuziehen, davon profitieren?"(16)
Das Gold der Ressourcen
Die oben von François Jullien gestellte Frage regt mich an, darüber nachzudenken, inwieweit der Röstigraben in der Schweiz als ein "kreativer Abstand" genutzt werden kann.Die Schweiz hat schon eine lange Geschichte, sich mit kultureller Diversity auseinander zu setzen(17), immer wieder wogten die Wogen hin und her, einmal fürchtete sich die Romandie wegen einer Germanisierung ihre Identität zu verlieren, zu anderen Zeiten wehrten sich die Deutschsprachigen gegen ein überhandnehmen der französischen Gebräuche. Daraus entstanden ist ein lebendiges und fragiles Gleichgewicht von Interessenskonflikten und Interessensausgleich. Und auch wenn nicht alles immer optimal läuft - oder vielleicht eben gerade deshalb - ist das ein bemerkenswertes Zeugnis von gelebter Diversität.
Anregende Versuchslaboratorien sind die Städte Biel und Freiburg bzw. Bienne und Fribourg. Das Fazit von Rainer Schneuwly in seinem Buch über den Bilinguismus dieser beiden Städte lautet: "Eine Auskunftsperson sagte im Rahmen einer Umfrage ... 'Le bilinguisme, c'est intéressant, mais c'est fatiguant!' in Deutsch: Zweisprachigkeit ist interessant, aber anstrengend! Der Lohn für die Anstrengungen ist, dass Städte wie Biel und Freiburg etwas Besonderes sind, sie sind spannend, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Frage, ob sie sich Biel jemals als rein französischsprachige Stadt gewünscht hätten verneinten die Welschbieler Stéphane Hofmann und Jean-Philippe Rutz. Seien sie in Genf oder Lausanne, fehle ihnen etwas: die Zweisprachigkeit"(18)
Die Anstrengung lohnt sich auch im zwischenmenschlichen Bereich. Es ist die Anstrengung sich einem Lernprozess zu stellen, der am Bezugsrahmen rüttelt und vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Erfahrungen des Abstandes laden ein, Skriptüberzeugungen zu revidieren. Das ist anstrengend und herausfordernd und zugleich bereichernd und lebensförderlich. Ist es ein Zufall, dass Terri und Jerome White in ihrem Artikel über das kulturelle Skript am Schluss ein - auch in der englischen Originalfassung - französisches Wort verwenden, um den Gewinn zu beschreiben, den eine Öffnung des kulturellen Skripts bewirkt: "joie de vivre"(19)?
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft mich auf die "Fremdsprache" einzulassen und sie mir ein Stück weit anzueignen. Und auch dieser Effort ist manchmal anstrengend. Ich brauche keine perfekten Kenntnisse, es genügt, wenn es mir gelingt, die Noten in einer neuen Partitur einigermassen zu lesen und so am Reichtum der Diversität teilzuhaben.
Ganz praktisch lerne ich im Zwischenraum zwischen den Sprachen besser auf die Unter- und Obertöne zu horchen. "C'est le ton qui fait la musique". Auch wenn ich etwas nicht ganz verstehe, so lerne ich, besser auf den "ton" zu hören. Ich werde überhaupt hellhöriger für Unstimmigkeiten und feinfühliger für Empfindlichkeiten. In Gesprächen über die Sprachgrenze hinweg, gehe ich sozusagen selbstverständlich davon aus, dass wir uns nicht verstehen könnten und ich frage eher nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Das braucht Zeit, ich werde langsamer. Und nicht zuletzt verhilft diese Verlangsamung, die dadurch entsteht, dass ich und mein Gegenüber immer wieder den Abstand zwischen uns explorieren müssen, zu einer qualitativen Vertiefung der Begegnung. Zugleich habe mich auch endgültig von der Illusion verabschiedet, immer alles verstehen zu können oder gar verstehen zu müssen, bevor ich mit jemandem arbeiten kann. Sich verstehen bleibt immer ein offener Prozess. Diese Einsichten helfen mir übrigens auch, wenn ich mit Menschen der gleichen Muttersprache spreche.
Zusammen Rösti essen
Der Röstigraben ist eigentlich gar keine passende Metapher. Vom Wort her stimmt der Begriff nicht, ist doch der Begriff "Rösti" beidseitig der Saane für das Gericht gebratener Kartoffeln geläufig, darüber hinaus stammt "Rösti" etymologisch vom französischen Wort "rôtir" (= braten) ab.Vielleicht können wir das Bild so nutzen, dass es darum geht zu lernen, zusammen Rösti zu essen, von beiden Seiten her, den kreativen Zwischenraum als gemeinsamen Teller zu nutzen. Sich daran zu freuen, wie anders wir sind, uns davon herausfordern zu lassen, zu lernen und zu üben, unsere Bezugsrahmen zu erweitern und im Umgang mit Diversity insgesamt geschmeidiger zu werden. Wenn uns das mit unseren französischsprachigen Nachbarn gelingt, dann können wir das auch mit allen anderen Menschen, die anders sind als wir.(20)
Um noch einmal das Wort von Hoffmann leicht abgeändert aufzunehmen: Jeder Ton des Fremden dissoniert in meinen Ohren, ja das stimmt; und statt ins Schweigen zu kommen, beginne ich heute Kontakt aufzunehmen und zu sprechen.
Fußnoten
1. Scherzhafte Bezeichnung für die "gefühlten" Unterschiede zwischen den beiden grössten Schweizer Sprachregionen: Deutschschweiz und Romandie2. E.T.A Hoffmann: Die Jesuitenkirche in G.; in: Nachtstücke, Insel-Taschenbuch 589, S. 109
3. "Sie vernachlässigen die gesamte französische Grammatik"
4. "er spinnt, ist aber lieb"
5. "faire la bise" = "sich mit Küsschen begrüssen"
6. SGTA-ASAT: Schweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse - Association Suisse d'Analyse Transactionnelle, deren Präsident ich im Moment bin
7. Schlegel, Leonhard: Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Herder, 1993, S. 36
8. James, Muriel; Jongeward, Dorothy: Spontan leben; rororo TB 1290, 1993, S. 95 und 98
9. Shivanath, Shith; Hiremath, Mita: The psychodynamics of race and culture: an anlysis of cultural scripting... in: Sills, Charlotte; Hargaden, Helena: Ego States; Worth Publishing, 2003, p 171, übersetzt von FLG
10. Lippmann, Eric: Identität im Zeitalter des Chamäleons; V & R Verlag, 2018 (3., aktualisierte Auflage)
11. a.a.O., S. 95ff
12. a.a.O., S. 196
13. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität; edition suhrkamp 2718, 2017;
14. a.a.O. S. 36f
15. a.a.O. S. 38
16. a.a.O. S. 43
17. vgl. Büchi, Christophe: "Röstigraben" - Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Schweiz, Geschichte und Perspektiven - Verlag NZZ, 2001
18. Schneuwly, Rainer: bilingue - Wie Freiburg und Biel mit der Zweisprachigkeit umgehen; hier-und-jetzt Verlag, 2019, S. 147
19. White, Terri; White, Jerome D.: Die Bedeutungen des kulturellen Skripts; in: Barnes, G. et al. Transaktionsanalyse seit Eric Berne, Band 2: "Was werd' ich morgen tun?; 1980; S. 169
20. Ein deutschsprachiger Ausbildungsteilnehmer am Eric Berne Institut, der in einem Vorort von Freiburg-Fribourg lebt und als Verkäufer in einem international vernetzten Unternehmen arbeitet, sagte unlängst sinngemäss: wenn ich mit meinem französischsprachigen Nachbarn über die Sprachgrenze zugange komme, dann kann ich auch mit den Chinesen verhandeln.
Franz Liechti-Genge
Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor bso; Theologe; Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich, www.ebi-zuerich.ch; f.liechti-genge@ebi-zuerich.chHier Artikel drucken oder downloaden: info.dsgta.ch/download/A1107/03-dsgta-artikel-mai20.pdf