Schwerpunktthemen

Paarberatung mit TA und Sexualität – ein ungleiches Paar?

© Egon Ochner
Patricia Matt
Transaktionsanalyse, Coaching &
Supervision, Paar & Sexualberatung
TTA-C, Sexualtherapeutin (DGfS)
www.patriciamatt.li
patricia.matt@gmx.li
Eric Berne beschreibt Autonomie als ein Ziel von persönlichen Entwicklungsprozessen (Berne, 1966). Diese zeigt sich durch das Freiwerden oder Wiedergewinnen von drei seelischen Vermögen: Bewusstheit, Spontanität und Intimität.
Bewusstheit definiert er als Fähigkeit, sich und seine Umgebung aufmerksam und mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Spontanität als ein Reagieren mit Wahlmöglichkeiten auf das Hier und Jetzt, ohne in unbewusst übernommene einschränkende Verhaltens- oder Denkmuster zu fallen.
Intimität hat für ihn zwei Bedeutungsebenen: Erstens als eine Möglichkeit, wie Menschen zusammen Zeit verbringen. Zweitens ist Intimität eine Fähigkeit, mit sich selbst und anderen persönlich nahe zu sein, skriptgebundene Ängste und Vorurteile los zu lassen und authentisch Gefühle auszudrücken. Damit kann gegenseitiges Vertrauen entwickelt und eine respektvolle Beziehung im Hier und Jetzt mit anderen eingegangen werden.
Für viele Paare ist die Regulation von entgegengesetzten Bedürfnissen, nämlich Selbstbestimmtheit/Freiheit auf der einen und Bindung/Hingabe auf der anderen Seite, ein herausfordernder Spannungsbogen. Gerade bei langjährigen Paaren besteht ausserdem eine Diskrepanz zwischen dem Liebesbegehren, einer emotionalen Intimität einerseits und dem sexuellen Begehren, einer körperlich genitalen Intimität andererseits. Für die Arbeit mit solchen Themen bietet sich das Konzept der Autonomie an, da es diese scheinbaren Gegensätze zu verbinden vermag.
Ziel dieses Artikels ist, aufzuzeigen wie TA-Konzepte in Verbindung mit sexologischen Sichtweisen, die Einheit von Körper und Geist als Ganzes „Selbst“ verstehen helfen. Ich beschreibe, welche Auswirkungen körperliche Übungen auf innerpsychische Prozesse und die Paardynamik haben können.
Behandlungsvertrag
Die Paar- und Sexualberatung benötigt einen achtsamen, klaren, professionellen und ethischen Rahmen, in dem die Intimsphäre respektiert wird. Grundlage dafür bildet der Behandlungsvertrag. Ziel der Beratung ist, intime Lernräume der Klient/In mit sich selbst und zusammen mit dem Partner/In zu öffnen. Diese werden in der Beratung im Gespräch reflektiert und zu Hause im geschützten, privaten Rahmen erforscht – zum Beispiel anhand von gezielt auf das Paar zugeschnittene „Sensate Fokus Übungen“. Die klärende Beratungsarbeit an der Wirklichkeitssicht des Paares, verbunden mit Übungen, die das Körpererleben aktivieren, ermöglicht Paaren über positive gemeinsame Erfahrungen die Veränderung ihrer Wahrnehmung und ihres Denkens.
Neben mangelndem sexologischem Wissen, führen einerseits Scham und andererseits Ängste dazu, dass Paare oft nicht über sexuelle Themen sprechen. Ängste können beispielsweise sein, den Partner zu verlieren, sich selber zu verlieren oder zu versagen. Scham und Ängste in sexuellen Zusammenhängen benötigen im Behandlungsvertrag darum besondere Beachtung.
Die Integration von sexologischem Wissen und sexualtherapeutischen Methoden verbessert die Behandlung von Paaren mit sexuellen Problemen. In meinen Ausbildungsgruppen und spezifischen Paarkursen stelle ich einen Handwerkskoffer an Spür-, Fühl- und Denklandkarten zur Verfügung. Diese dienen der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bezugsrahmen in Beziehung und Sexualität.
Was in Partnerschaften berührt und Berührung in Partnerschaften
In der Paar- und Sexualberatung arbeite ich mit öffnenden Konzepten, die Kreativität und lustvolles Erleben fördern. In einem ersten Schritt geht es darum, das Paar dort abzuholen wo es sich mit seinen Beziehungsbedürfnissen, sowie mit seinen sexuellen Wünschen und Sehnsüchten empfindet. Es geht darum, die innere Logik dieses Paarsystemes zu verstehen und anzuerkennen, ohne diese zu bewerten. Damit öffne ich einen Begegnungsraum, in welchem ich Wert auf die drei P (Crossmann, 1966) lege: ich gebe die Erlaubnis (Permission), für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, Schutz (Protection), diese äussern zu können, ohne beschämt zu werden. Und ich stelle meine Kompetenz (Potency) zur Verfügung, z.B. durch TA- und sexologisches Wissen verbunden mit einer klaren, selbstverständlichen Sprache, die weder über-, noch untersexualisiert ist und das Paar in seinem „So-Sein“ respektvoll achtet.
Berne beschreibt das Wiedergewinnen oder Freiwerden von Bewusstheit als eine Fähigkeit auf dem Weg in die Autonomie (Berne, 1966). Bewusstheit verstehe ich in diesem Kontext mit Methoden zu arbeiten, die die Wahrnehmung öffnen, diese schärfen und vertiefen. Damit fokussiere ich auf die Wirklichkeitssicht, den Bezugsrahmen (Schmid, 1994), und auf das Wirklichkeitserleben des Paares. Insbesondere interessiert mich, was vom Paar „exkommuniziert“ (Clement, 2006) wird und wie es gelingt, die Achtsamkeit auf die gemeinsame Schnittstelle im Begegnungsraum zu legen. Entsprechend dem Behandlungsvertrag gestalte ich den Prozess so, dass sich die Beziehungsdynamik in Reflektions- und in Körperübungen entfalten kann. Um diese Arbeit etwas genauer zu beleuchten, stelle ich in diesem Artikel Aspekte des „Sensate Fokus Modelles“ (Hamburger Modell, Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung) anhand eines Falles und konkreter Übungsbeschreibungen vor.
Etagenwechsel - Vom Intellekt zur Körperwahrnehmung
Silke und Sebastian sind ein langjähriges Paar. Ihre beiden erwachsenen Kinder sind ausgezogen und leben finanziell unabhängig in eigenen Beziehungen. Immer wieder landen Silke und Sebastian in ihren Gesprächen in gegenseitigen Vorwürfen und Abwertungen. Über die Jahre entstand ein Beziehungsmuster, welches beide mit unguten Gefühlen versorgt. Anstatt dem Wunsch nach Nähe ist eine unangenehme Distanz spürbar, anstatt emotionaler und genitaler Begegnung gestalten sie ihre Zeit mit Beziehungsabbrüchen, teilweise über mehrere Tage hinweg. So wird weder ihr Wunsch nach emotionaler Nähe, noch sein Wunsch nach Erotik und sexueller Begegnung erfüllt. Sie verfügen über ein hohes intellektuelles Reflektionsvermögen, was ihre Beziehungsmuster angeht und beide suchen verzweifelt und frustriert nach neuen Wegen. Ihr Anliegen ist es, aus der Negativspirale ihres aktuellen Beziehungsmusters auszusteigen und wieder miteinander Sinnlichkeit und Sexualität zu geniessen.
Im Vertragsprozess nutze ich eine spezifische Vorgehensweise. Nach einer Beziehungs- und Sexualanamnese mit beiden Partnern je einzeln, führe ich das Paar in einem Round Table wieder zusammen. Inhalte der Einzelgespräche werden nicht offengelegt. Sie können jedoch im Rahmen des Beratungsprozesses thematisiert werden. Ziel ist, bestehende Ressourcen des Paares zu aktivieren. Hierfür arbeite ich stark auf der Ebene des Körpers. Um neue Erfahrungen im direkten Körperkontakt im Beratungssetting zu ermöglichen, lade ich das Paar zu Wahrnehmungsübungen ein (Übungsanleitung siehe S. 26). Im weiteren Verlauf der Beratung werden die Übungen auf dieser Basis weiter ausgebaut.
In der ersten Übung geht es ausschliesslich um das Ankommen bei sich selber. Bei sich zu sein, ermöglicht Spontanität im Sinne von Berne: offen und spielfrei auf das Hier und jetzt reagieren zu können. Dies bildet die Basis für das Paar, um in der zweiten Übung einen ersten Schritt aufeinander zu zugehen. In dieser zweiten Aufgabe berührt jeder der Partner den anderen während fünf Minuten ausschliesslich am Unterarm, so wie es ihm oder ihr gefallen würde. Es wird ausschliesslich über die Berührung kommuniziert. Nach fünf Minuten schliesse ich mit: “Beendet die Berührung, komme jeder wieder bei sich selbst an und spüre nach. Was nimmst du wahr?“ Ich lade die Partner ein, nacheinander anhand öffnender Fragestellungen mit mir die Erfahrung zu reflektieren: «Wie war die Übung für dich? In der Rolle des Berührenden? In der Rolle des Berührten? Was hat dir beim Berühren Freude gemacht? Hast du die Verantwortung für dein Wohlsein übernommen? Etc.»
Nach dieser Reflektion wird die Übung wiederholt, die Bewusstheit über die Berührung zu vertiefen.
Diese Übung hat verschiedene Aspekte zum Ziel.
Dieses Paar erlebte nach längerer Zeit von Beziehungs- und Berührungsdistanz einen einfachen, angenehmen Körperkontakt in einem geschützten Rahmen. Silke war es möglich bei sich selber zu bleiben. In dem klar vorgegebenen Rahmen konnte sie sich hingeben ohne einfach nur herzuhalten, um seine (vermuteten) Bedürfnisse zu erfüllen. Sebastian fiel es leichter, in diesem klar definierten Rahmen die von aussen vorgegebenen Grenzen zu wahren, ohne Druck zu machen. Er genoss es sowohl zu berühren, wie auch berührt zu werden.
Diese Aufgabe fokussiert darauf, von sich ausgehend so zu berühren, wie man selber gerne berührt. Das bedeutet, aktiv im Spürkontakt mit sich selbst zu sein und die Körperlandschaft des anderen erwartungslos zu erforschen (in dieser Übung beschränkt auf den Unterarm). Gleichzeitig geht es darum, dass die Person, die berührt wird, signalisiert, wenn dies unangenehm für sie ist.
Das alte Beziehungsmuster, nämlich in einem psychologischen Spiel (Berne, 1965) zu enden, wurde anhand dieser kurzen, praktischen, positiven Körpererfahrung unterbrochen. Im konkreten Fall war es so:
- Bis jetzt steuerte der Antreiber «mach’s recht» mit der dahinter liegenden Einschärfung, „sei nicht du selbst“ und die Angst „es dem anderen nicht recht zu machen“, also als Frau nicht gut genug zu sein, die intime Begegnung. In dieser Übung steuerte die Freude an der Berührung die Qualität der Begegnung. Das vorgegebene Übungssetting mit klar definierten Grenzen und ohne verbalen Austausch machte ihr Lust auf mehr.
- Sebastian kennt den Antreiber „sei stark“, und die Einschärfung „fühle nicht, was du fühlst“. Gleichzeitig sind seine Skriptsätze, „immer komme ich zu kurz“, „die andere ist unfähig und gibt mir nicht, was ich brauche“, also Abwertung von sich selbst, sowie Vorwürfen und Abwertungen seiner Partnerin gegenüber. All das erlebte Sebastian in diesem Moment nicht, sondern einen Moment von absichtsloser Präsenz, in dem er sich wohl fühlte. Die Übung weckte Lust auf mehr und nährte die Hoffnung, den Weg in einen ersehnten sexuellen Kontakt zu bahnen.
Die Reflektion dieser Übung mit dem Paar aktivierte das eigene Spürbewusstsein und die eigene Körperachtsamkeit. Die innere Haltung, selbstbestimmt, selbstverantwortlich und lustvoll in Kontakt mit sich selbst und mit dem anderen zu gehen, wurde ermutigt. In der Reflektion wurden Erlaubnisse gegeben, wie beispielsweise „ich darf mich selber sein indem ich mich mit Berührungen zeige, die mir Freude machen“. Oder „ich erlebe mich als attraktiv und liebenswert indem ich mich in diesem vorgegebenen Rahmen als der zeige, der ich bin und gleichzeitig die vorgegebenen Grenzen achte, ohne das alte Gleis „ich komme immer zu kurz“ zu betreten“.
Wahlmöglichkeiten entdecken
Das Paar erhält jeweils konkrete, auf das Beratungsanliegen zugeschnittene Körperübungen, die zu Hause ohne Kleidung durchgeführt werden. Der Aufbau der „Sensate Fokus Übungen“ umfasst den Einbezug des ganzen Körpers mit und ohne sexuelle Erregung bis hin zum Geschlechtsverkehr. Das Erleben der Körperbegegnungen wird lediglich in der gemeinsamen Beratungsstunde reflektiert, unterstützt durch persönliche Notizen, die jeder unabhängig vom anderen alleine verfasst.
In der Reflektion mit dem Paar fokussiere ich auf die drei Aspekte Sicherheit, Selbstfürsorge und Präsenz. Wie ging es dir als Berührender und als Berührter? Warst du in einem guten Kontakt mit dir selbst (Präsenz)? Wie ist es dir über den Körper möglich für deinen eigenen Schutz zu sorgen (Sicherheit)? Wie gelingt es dir, dich mit dir zu verbinden und von hier aus liebevoll mit dem/r Partner/In in Beziehung zu treten (Selbstfürsorge)?
Die Übungen werden jeweils ein bis zwei Mal pro Woche durchgeführt. Durch sie erlebt das Paar positive Zuwendung auf Ebene der Berührung, sowie eine Intensivierung des Spürbewusstseins. Die Reflektion der Übungen ermöglicht dem Paar zum einen das Bewusst-Werden automatisierter Berührungsmuster. Zum anderen bietet es Gelegenheit, eine neue „Spielwiese“ zu gestalten. Hier kann sowohl der eigene, als auch der Körper des Partners Schritt für Schritt innerhalb eines klar vorgegebenen, schützenden Rahmen erforscht werden.
Silke erlebte Sebastian bisher oft als grenzüberschreitend. Einerseits schätzt sie seine Neugierde auch in der Sexualität Neues zu erforschen. Andererseits spürt sie eine Angst wieder von ihm kritisiert und abgewertet oder sogar körperlich angegriffen zu werden. Diese Angst drückt sich z.B. körperlich in Schweissausbrüchen aus. Sie fühlt sich von ihm nicht gesehen, in der Sexualität für seine Bedürfnisse benutzt.
Sebastian erlebte sich immer wieder unter Druck. Erfüllte sie seine Bedürfnisse nicht, so spürte er einen tiefen Schmerz und eine unbändige Frustration abgelehnt zu werden. Gleichzeitig spürt er einen sexuellen Drang, den er zu steuern versucht, in dem er sich ganz zurückzieht und sich selbst befriedigt, oder sich vehement für seine sexuelle Lust einsetzt. Werden die gewünschten Praktiken nicht erfüllt, wehrt er den Schmerz ab, kritisiert abwertend die Unfähigkeit seiner Partnerin.
In der Reflektion der Übungen erhält die individuelle Auseinandersetzung mit dieser Beziehungsdynamik Raum. Jeder Partner ist damit konfrontiert die Verantwortung für seinen Part zu übernehmen. Einerseits kann eine korrigierende, neue Erfahrung verbunden mit neuen Entscheidungen gemacht werden, andererseits bauen sich über die Körperübungen eine Vertrautheit und eine Nähe auf, die neues Vertrauen ermöglichen.
Stufenweiser Aufbau der Übungen
Die Übungen werden im Laufe des Beratungsprozesses stufenweise aufgebaut: (Stufen 1 bis 3 explizit ohne Geschlechtsverkehr)

1. Berühren des ganzen Körpers ohne Einbezug des Intimbereiches
2. Berühren des ganzen Körpers mit Erkunden des Geschlechtes
3. Berühren des ganzen Körpers mit einem Spiel mit sexueller Erregung
4. Erkunden des Intimbereiches mit Geschlechtsverkehr (bei diesem Paar noch nicht miteinbezogen)
Weiterhin gilt die Vorgabe, die Erfahrungen für sich selber zu notieren und nur in der Beratungsstunde gemeinsam zu reflektieren. Damit wird sichergestellt, dass die gemeinsame Auseinandersetzung in einem sicheren, professionellen Rahmen stattfindet.
Der langsame Aufbau zeigt sehr genau auf, wo die Themen jeder Person für sich und von ihnen als Paar liegen.
Silke fühlt sich vor allem in der 1. Stufe der Übung – Berühren des ganzen Körpers ohne Einbezug des Intimbereichs – wohl. Der klare, von aussen gesetzte Rahmen gibt ihr Sicherheit und nimmt ihr einen von aussen gespürten und von innen erlebten Druck weg. Wie gewohnt spürt sie, was der andere möchte und gleichzeitig hat sie die Erlaubnis bei sich selbst zu bleiben und nur das zu geben und zu nehmen was sie selber möchte (Selbstfürsorge). Anstatt der inneren Haltung, „wenn ich für den anderen da bin, mich selber zurücknehme und herhalte, bin ich in Ordnung“, erlebt sie sich im Hier und Jetzt (Präsenz) und gibt in der Berührung was ihr Freude bereitet. Ab Stufe 3, als die Übung auch das Berühren des Geschlechtes mit einer Welle von sexueller Erregung miteinbezieht, erlebt Silke Sebastian als grenzüberschreitend. Sie spürt ihren Ärger über die von ihm in den Übungen wiederholt nicht eingehaltenen Grenzen. Ihr wird in der Reflektion immer wieder klar, wie wichtig es für sie ist, die Grenzen der Übung für ihren Schutz zu nutzen und ihre Selbstfürsorge zu aktivieren, indem sie sich aktiver zeigt und vertritt.
Die Reflektion zeigt, dass Sebastian zu Beginn wenig Zugang hat zu seinem Spür- und Fühlbewusstsein (Präsenz) im Sinne von Kontakt zur Atmung, Muskeltonus, sowie zu seiner Befindlichkeit, was fühle ich gerade und was brauche ich (Selbstfürsorge). In einer Übung penetriert Sebastian Silke überraschend. Danach schläft er ein, als sie ihn streichelt. Sebastian hat sich mit seinen sexuellen Wünschen gezeigt, jedoch weder die Grenzen der Übung, noch die zarten Signale seiner Partnerin geachtet. In der Reflektion wird ihm klar, welch sexueller Druck er seit einiger Zeit entwickelt hat. Er befriedigt sich zwar regelmässig selbst, doch sobald er in seiner Erregungskurve in der Beziehungserotik Stufe drei (von zehn) erreicht, zieht er sein Programm durch. Ohne dabei auf Signale von Silke zu achten und ohne die vorgegebenen Grenzen einzuhalten.
Im Rahmen der Beratung beginnen nun offene Auseinandersetzungen und Konfrontationen über das Ausdrücken der unterschiedlichen Bedürfnisse und Grenzen, sowohl der eigenen, als auch derjenigen, die durch die Übung definiert sind. Die Kernfrage, wie das Paar den Begegnungsraum in gegenseitiger Bezogenheit gestaltet, wird thematisiert.
Am Punkt, als Sebastian durch seine überraschende Penetration eine klare Grenzüberschreitung macht (und Silke diese zulässt), erhält das Paar die Aufgabe mit der Übung auf Stufe 1 – Berührung des ganzen Körpers ohne Einbezug des Genitalbereiches – weiter zu fahren. Die Auseinandersetzung mit den individuellen Themen und dem Beziehungsmuster (Selbstwert, Umgang mit Grenzen, Steuerung der sexuellen Erregung) geht sowohl im Paarsetting, als auch in gezielten Einzelgesprächen weiter. Beide erleben sich als gesehen und sind motiviert die Kombination von Kommunikation und Körperarbeit weiter zu führen.
Daneben setzen sie sich mit den verschiedenen Berührungsqualitäten auseinander. Entsprechend den persönlichen Erregungsquellen, sprechen manche Menschen auf die Stimulation der Oberflächensensoren an, während andere Menschen die Stimulation der Tiefensensoren benötigen, um sich wahrzunehmen. Oft gibt ein Partner dem anderen die Art von Berührung, die er selber gerne hätte. Zum Beispiel berührt Sebastian Silke in einer raschen, festen, knetenden Art, und sie antwortet eher mit zarten streichelnden oder auch haltenden Berührungen. Immer, wenn sie ihn bat, sie zarter zu berühren, machte er das kurz und fiel dann wieder in seine gewohnte Art zurück. Erst als ihm klar wurde, dass diese Berührungsqualität seinem eigenen Bedürfnis entsprach, konnte er sich bewusst anderen Berührungsarten widmen.
Intimität erleben
In der Transaktionsanalyse verstehen wir unter Intimität die authentische Begegnung zweier Menschen, ohne dass diese von unbewusst übernommenen elterlichen oder gesellschaftlich einschränkenden Glaubenssätzen und Haltungen fremdgesteuert ist. Ein Erleben von Stimmigkeit, Erfülltheit und Lust stellt sich dann ein, wenn Paare ihr Wesen in vielfältigen Spielarten mit all ihren Sinnen zum Ausdruck bringen und sich aus ihrer Zentriertheit heraus aufeinander beziehen. In diesem Sinne wird in solchen Momenten Autonomie gelebt und erlebt: Bewusstheit über die eigenen Empfindungen, Bedürfnisse und Grenzen erlauben im Hier und Jetzt spontan aufeinander zu reagieren. Dadurch wird echte Intimität möglich.
In den bisher umgesetzten Übungsstufen hat das Paar gelernt, dass es bei Sebastian darum geht, Grenzen zu achten, während es bei Silke darum geht, Grenzen klar zu definieren und nach aussen hin sichtbar zu machen. Gleichzeitig lebt Sexualität aber auch von Grenzverschiebungen und teilweise auch -überschreitungen, die lustvoll und in Übereinkunft vollzogen werden. Das ist nur möglich, wenn klar ist, dass jeder zu jeder Zeit stopp sagen kann und dieses Stopp auch akzeptiert wird. Eine Voraussetzung um Intimität zu erleben, ist das Vertrauen aufzubauen, innerhalb der eigenen Grenzen leben zu können. Sowohl keine Grenzen zu setzen, als auch die Überwindung des Antreibers «machs dem anderen recht», schafft Konflikte. Dies wurde bei diesem Paar in den Körperübungen gut sichtbar. Die Lernschritte sind im konkreten Üben jedoch erfass-, reflektier- und veränderbar und haben auch einen zweiten, nicht unwesentlicher Aspekt: Sie sind angenehm!
Hier eine mögliche Übungsanleitung:
Vereinbart wer in dieser Übung A und wer B ist. Setzt euch gegenüber und schliesst die Augen.


Ankommen bei sich selbst


Nimm den Kontakt mit deinen Füssen mit dem Boden wahr. Wie erlebst du deinen Körper in Kontakt mit dem Stuhl, spüre die Oberschenkel, den unteren Rücken, den oberen Rücken, die Arme, deinen Nacken, den Kopf. Lasse Gedanken, die kommen ziehen und gehe mit deiner Aufmerksamkeit zu deinem Atem. Nimm wahr, wie dieser kommt und geht, lege den Schwerpunkt auf das Ausatmen, in deinem Rhythmus. Lege die rechte Hand auf den Bauch und spüre die Bewegung des Ein- und des Ausatmens. Bewegt dein Bauch sanft deine Hand?
Nimm eine liebevolle Haltung dir selbst gegenüber ein und schenke dir ein inneres Lächeln. Lasse dieses innere Lächeln auf deinen Lippen sichtbar werden und sich im Körper verströmen. Kannst du es spüren? Wie wirkt sich dieses Lächeln auf die Atmung aus? Gehe mit der Aufmerksamkeit zu deinen Augen. Atme in deine Augen. Bewege die geschlossenen Augen sanft nach rechts und nach links. Sind sie weich, sind sie angespannt?
Erlaube dir, dich zu recken und zu strecken, zu gähnen. Wie erlebst du deinen Muskeltonus? Wie erlebst du dich im Kontakt mit deiner Atmung? Komme in deinem Rhythmus im Raum an. Nimm dir Zeit und öffne langsam die Augen.

Ankommen im Berührungskontakt mit dem Partner


Erste Körperübung: Berühren des Unterarmes
Wenn du bereit bist, begegne den Augen deines Partners/in und begrüsse ihn mit einem Lächeln.
Die Person B berührt A, A lässt sich berühren. B holt sich die Erlaubnis von A ein, dass es in Ordnung ist, den Unterarm von A zu berühren und das Kleidungsstück bis zum Ellbogen hoch zu schieben, sodass ein direkter Hautkontakt möglich ist. In den nächsten 5 Minuten berührt B den Unterarm von A. B berührt A entsprechend dem, was B selbst Freude bereitet, seien es z.B. Berührungen mit der ganzen Hand, mit den Fingerkuppen oder mit dem eigenen Unterarm. Während der Übung wird nicht miteinander gesprochen, der Dialog findet ausschliesslich über die Berührung statt.
Wechselt jetzt die Position. A berührt B, B lässt sich berühren. A fragt B um Erlaubnis an, diesen zu berühren und das Kleidungsstück bis zum Ellbogen hochzuschieben. Dann berührt A B (siehe Text oben).

Reflektion der Übung als Paar


Wie war die Übung für dich? In der Rolle des Berührenden? In der Rolle des Berührten?
Wo warst du bei dir selbst? Wie ist es dir gelungen, dich mit dir selbst zu verbinden? Was hat dir beim Berühren Freude gemacht? Was hat dir beim Berührtwerden Freude gemacht? Was hast du in deinem Körper wahrgenommen? (Atmung, Bewegung innen und aussen, Rhythmus, Art der Bewegungen) Welches ist deine bevorzugte Rolle?
Hat es dir Freude bereitet deine/n Partner/In zu berühren oder hast du dich danach gerichtet was du vermutet hast, wie er/sie berührt werden möchte?
Was konnte deine Hand geniessen? Bist du bequem gesessen? War dir wohl in der Übung? Hast du die Verantwortung für dein Wohlsein übernommen?

Wiederholung der Übung


Anschliessend folgt die Reflektion: Wie wird die Übung jetzt erlebt? Hast du dir erlaubt intensiver in Kontakt zu sein mit dir selbst? Zwischen
10 und 1, wieviel warst du in Kontakt mit dir selbst?

Literatur
Arentewicz G. und Schmidt G. (Hg.) (1993) Sexuell gestörte Beziehungen. Stuttgart: Enke
Berne, E. (2001) Die Transaktionsanalyse in der Psychotherpie. Paderborn: Junfermann
Clement, U. (2006) Guter Sex trotz Liebe. Berlin: Ullstein
Cornell, W. & Landaiche N.M. III (2008): Nonconscious Processes and Selfdeveloppement: Key concepts from Erich Berne and Christopher Bollas, in : Cornell, W.F. (2008): Explorations in Transactional Analysis, Pleasonton: TA Press. P. 97-113.
Crossmann, P. (1966) 3 P-Konzept, TA-Bulletin. Nr. 5/1966
Mohr, G. (2014) Achtsamkeitscoaching. Bergisch Gladbach EHP-Verlag
Schmid, B. 1998. Ebenen der Wirklichkeitsbegegnung. Schriftenverzeichnis des Institutes für systemische Beratung. 1998, Nr. 29

Schwerpunktthemen

«Immer musste man über alles reden…»
Entwicklungen in der Kommunikation zwischen Vater und Tochter

Ein ziemlich persönliches Gespräch zwischen Anja Livia Bolliger und ihrem Vater Martin Bolliger, aktueller Präsident der DSGTA
Anja Livia Bolliger (Jg 84) lebt mit ihrem Partner in Aetingen/SO. Das Reiten war seit Kindheit ihr wichtigstes Hobby. Nach ihrer Ausbildung zur Modefachfrau und dem Abschluss der Berufsmaturität arbeitete sie während drei Jahren in der Modeberatung. Es folgten mehrere Jahre der Weiterbildung zur Reitlehrerin und Pferdefachfrau. 2009 hat sie nach einem längeren Aufenthalt in den USA ihr eigenes American Quarter Horse mit in die Schweiz gebracht. 2011 folgte ein fünfjähriges berufliches Engagement bei «Changels Coaching & Consulting», und «Kaos Pilots Switzerland», einer Business-Schule für Social Entrepreneurs in Bern, wo sie unter anderem die Bereiche Workshops, Events und Facility Management verantwortete. Parallel dazu hat sie sich 2012 parttime und ab 2017 fulltime selbständig gemacht als Ausbilderin und Trainerin für Menschen und ihre Pferde. Ihr beruflicher Standort befindet sich in Grafenried/BE. www.empathischreiten.ch
Anja Livia: Wie bist Du eigentlich mit der TA in Berührung gekommen?
Martin: Als ich in den 80er-Jahren Die Dargebotene Hand/Telefon 143 leitete, organisierten wir alle 2 Jahre Ausbildungskurse für die Freiwilligen/Volounteers, die den 24 Std-Dienst am Telefon sicherstellen. Wir arbeiteten mit einem Schulungsbuch von Dr. Helmut Harsch, einem TA-Lehrenden aus den Anfängen, und ich habe für jeden Kurs Dr. Leonhard Schlegel und seine Frau für ein 3-tägiges Seminar in TA eingeladen. Die Beiden waren Goldstücke. Die Teilnehmenden haben sie geliebt.
Doch erst 2000 habe ich meinen ersten Einführungskurs in TA (101) absolviert und dann die weitere Ausbildung zum CTA/O im Verlauf von 10 Jahren gemacht.
A: Inwiefern hat die TA Dein Verständnis von Kommunikation geprägt/verändert?
M: Ich habe mich seit den 80er Jahren kontinuierlich weitergebildet z.B. in Individualpsychologie und Systemischer Paar- und Familientherapie. Insofern will ich nicht von einer starken TA-Prägung sprechen. Viele der Modelle und Erklärungen, die Eric Berne und die TA Community entwickelt haben, finde ich spannend und einprägsam, z.B. das Persönlichkeitsmodell der ICH-Zustände, das Drama-Dreieck oder die Skript-Theorie.
M: Welche Auswirkungen hat denn die Tatsache, dass ich TAler bin, Deiner Meinung nach auf die Kommunikation zwischen uns gehabt?
A: Ich habe früh mitbekommen, über die Dinge – auch die schwierigen – zu reden. Davon profitiere ich heute. Manchmal war es auch anstrengend und nervig; immer musste man über alles reden (lacht). Und immer wusstest Du, wie «richtig» kommuniziert wird.
M: Das Letzte tönt so «besserwisserisch»! War das wirklich Dein Eindruck? Klar habe ich als Kommunikations-Spezi einen ziemlich hohen Anspruch an die Art und Weise, wie wir miteinander reden.
A: Eben!
M: Wovon hast Du denn profitiert?
A: Bereits in der Schulzeit und später als Jugendliche habe ich erfahren und bemerkt, dass offenbar meine Art und Weise, wie ich mit Kolleg*innen, Lehrer*innen, Ausbilder*innen geredet habe, gut angekommen ist. Weiter reflektiert habe ich das damals nicht. Ich fand mich oft in der Rolle der Vermittlerin. Mit der Zeit realisierte ich, dass diese Rolle auch belastend für mich sein kann, da sie mich oft zwischen die Fronten gestellt hat. Darüber hinaus war es mir stets wichtig, dass es immer eine für beide Personen/Parteien gute Lösung geben musste. Das habe ich wohl auch von meiner Mutter mitbekommen, die als Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, praktisch seit ich Laufen kann, Menschen begleitet und zwischenmenschlich sehr fein eingestellt ist. Doch irgendwie hatte ich wohl damals mit meinen beiden Elternteilen auch gleichzeitig einen gewissen Overload an Psychokram.
M: Gibt es denn TA-Modelle, welche Du schon als Jugendliche mitbekommen hast und die Dir vielleicht geholfen haben?
A: Der Grundsatz «Ich bin okay-Du bist okay» ist mir sehr vertraut. Er war immer wieder Orientierungspunkt für einen respektvollen Umgang und Austausch. In meiner Pubertät war der Satz oft Segen und Fluch zugleich. Denn in Momenten der Rebellion und der Grenzüberschreitungen griff der Satz in meinem Empfinden natürlich überhaupt nicht. Da fühlte ich mich klar als «nicht okay» bezeichnet.
A: Warst Du denn nicht manchmal als Vater gefangen in Deiner Kommunikations-Psycho-Professionalität? Wie frei konntest Du Dich diesbezüglich im Kontakt mit mir bewegen? Man kennt das doch: Den andern können sie prima helfen, zu Hause kriegen sie’s nicht auf die Reihe…
M: Ganz grundsätzlich wusste ich tief innen, dass, obwohl Du ab 3 Jahren mit Deiner Mutter gelebt hast, wir zwei einen gleichen Wellengang haben; und dass unsere Beziehung zueinander trotz allem Schwierigen nie zerbrechen wird. Das habe ich Dir immer zu vermitteln und vorzuleben versucht. Eine meiner Maximen heisst: Walk your talk. Wenn ich manchmal mit Dir nicht weiterwusste, habe ich das mit meiner Partnerin und meinen Freunden beredet oder meine Verhaltensvarianten mit meinem Therapeuten/Supervisor reflektiert. Es waren immer Versuche. Ich war mir nie einfach sicher. Aber zuversichtlich, dass wir es zusammen hinkriegen!
A: Ja, an diesen Satz von Dir, dass unsere Beziehung trotz allem nie zerbrechen wird, kann ich mich gut erinnern. Du warst zwar oft nicht da, da wir früh getrennt lebten. Aber da war immer ein tiefes Grundvertrauen, dass Du mich tatsächlich – wie schwierig es auch immer sein möge – nie hängen lassen wirst! Das hängt sicher auch damit zusammen, dass Du in unserer Kommunikation nie lockergelassen hast. Bei Dir konnte ich rebellieren. Ich spürte immer einen kleinen Freiraum bei Dir, dass ich auch mal nicht angepasst sein und mich daneben benehmen konnte.
M: Eine wichtige Funktion in unserer Beziehung hatten seit Deiner frühen Kindheit die Pferde. Heute bist Du professionelle «horse-woman». Wie kam es dazu, dass diese Tiere einen solchen Einfluss auf Dein Leben bekommen haben?
A: Diese Frage habe ich mir oft selber gestellt. Der Antwort darauf komme ich jeden Tag ein Stück näher. Was mir manchmal in meinem Leben fehlt, ist die Erdung. Pferde erden mich. Sie sind für mich wohl die Verbindung zum Ursprung. Mit ihnen zu sein und zu interagieren, hat mich schon immer tief berührt. Ich beginne zu verstehen, dass nicht das Pferd mich braucht, sondern ich das Pferd. Im Coaching z.B. ist das Pferd ein Stellvertreter deiner Situation. Das Pferd muss dort nichts erfüllen. Seine reine Präsenz in der momentanen Situa-
tion und Befindlichkeit ist Basis für den Coachee, sein Selbst, seine Handlungen und Verhaltensmuster zu reflektieren. Wenn das Pferd z.B. einfach vor mir steht, mich anschaut und nichts tut, werde ich je nach Befindlichkeit anders auf diese Situation reagieren. Ich kann auf das Pferd zugehen, das Halterseil packen und zum Pferd sagen: So, jetzt beweg dich mal ein bisschen! Oder ich kann mich ärgern, weil das Pferd einfach keinen Wank tut. Oder ich kann mich einfach entspannt hinsetzen, das Pferd anschauen, warten und erleben, was dann geschieht. Welchen Angang ich wähle, hat erstmal bloss mit mir zu tun.
M: Du hast ja selber 2013 den TA101 bei einer befreundeten Transaktionsanalytikerin in Hamburg besucht. Was war das Spezielle für Dich an diesem Einführungskurs?
A: Ich war damals zum ersten Mal in einer Selbsterfahrungs-Gruppe mit Menschen, die ich - bis auf die Kursleiterin - nicht kannte. Das hat mich auch etwas nervös gemacht. Ich konnte mir bestens vorstellen, dass das je nachdem sehr persönlich werden könnte. Durch die Arbeit an Themen wie z.B. die Ich-Zustände oder das Skript habe ich konkrete Werkzeuge an die Hand bekommen, die mir geholfen haben, mich selbst besser zu verstehen, zu erkennen und aus meiner Sicht «ungünstige» Denkmuster und Verhaltensweisen auch zu verändern. Nach dem TA101 hatte ich zum ersten Mal die Idee, Coaching und die Arbeit mit Pferden zu verbinden.
M: Hat denn Deine Auseinandersetzung mit TA, beziehungsweise Dein psychologisches Verständnis, Dein Kommunikationsverhalten gegenüber Deinen Kund*innen im Pferdebusiness beeinflusst?
A: Für meine Arbeit müssen Pferd und Mensch sich wohlfühlen können. Sein Reiten zu verbessern, bedeutet immer auch, an sich selbst zu arbeiten. Ich suche daher einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht selten erhalte ich von Kund*innen das Feedback, dass unsere Arbeit mit dem Pferd auch einen persönlichen Entwicklungsprozess bei ihnen auslöst. Als Trainerin bin ich dementsprechend immer bei beiden, sowohl beim Pferd als auch bei der Reiterin. Reittechnik und Bewegungslehre des Pferdes ist dabei ein Teil. Ebenso wichtig und unabdingbar für gutes Reiten ist die Schulung der eigenen Körpersprache und Körperwahrnehmung, der Bewegungsmotorik, des Gleichgewichts und der Koordination. Oft geht es nicht darum, das Verhalten des Pferdes zu verändern, sondern seine eigenen Fähigkeiten im Umgang mit demselben zu entwickeln und zu verfeinern.
A: Du bist ja selber 15 Jahre geritten und hattest während 11 Jahren ein eigenes Quarter Horse. Von daher würde mich jetzt schon auch interessieren, inwiefern Deine Erfahrung mit Pferden Deine grundsätzliche Sicht beziehungsweise Deine Perspektiven auf die Kommunikation unter Menschen beeinflusst hat?
M: Ich habe mich während diesen 11 Jahren bemüht, die Sprache meines Pferdes zu lernen – was nicht einfach ist, aber unglaublich beglückend, wenn es funktioniert und das Pferd zu einem echten Partner wird! Ich war im Umgang mit meinem Pferd sehr schnell mit meinem Ärger konfrontiert, wenn etwas nicht so ging, wie ich es wollte. Was mir dabei dann immer geholfen hat, ist das «Nicht-wissen-wollen». Ich habe nicht schon im Voraus die Antworten; ich muss sie zusammen mit meinem Gegenüber suchen, und – vielleicht – finden. Meine erste Reaktion, wenn etwas Unerwartetes kommt, ist: Ah, das ist ja interessant!
Ich habe mich darin geübt, wenn immer möglich mit Neugier und Interesse anstatt mit Abwehr zu reagieren. Und das ist für mich auch die Basis der Kommunikation im Zwischenmenschlichen. Viktor E. Frankl sagt dazu: „Zwischen Stimulus und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum findet sich unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unser Wachsen und unsere Freiheit“. Es ist eine Illusion, dass wir uns irgendwann mal vollständig verstehen. Es ist besser und gesünder, sich immer etwas fremd bleiben zu dürfen. Weil dann die Neugierde erhalten bleibt und man sich immer wieder entdecken kann.
M: Wie erlebst Du denn die Kommunikation zwischen uns heute als erwachsene Frau?
A: Alle Themen der Kommunikation haben in unserer Beziehung immer eine grosse Rolle gespielt. Ich weiss, dass ich mit Dir über persönliche oder berufliche Themen jederzeit sprechen kann. Das hat zwischen uns eine grosse Selbstverständlichkeit und die Gespräche bringen mich und uns beide in irgendeiner Form weiter. Zum Beispiel fragst Du oft nach: Habe ich Dich richtig verstanden, dass Du das und das meinst? Da fühle ich mich als Gegenüber ernst genommen. Es sind Gespräche auf gleicher Augenhöhe.
A: Deine Lebensphase ab 65 startest Du unter anderem mit dem Präsidium der DSGTA. Die TA liegt Dir am Herzen. Du hast beschlossen, Deine berufliche Arbeit als Berater und Coach fortzusetzen. Was willst Du denn noch realisieren mit dem, was Du über TA und Kommunikation weisst?
M: Ach, es gibt noch so viele spannende Dinge, die ich gerne tue und tun will! Und wenn man mich fragt, bin ich eben gerne dabei. Ich will gezielter auswählen, mich auf das konzentrieren, was wirklich Sinn und auch Freude macht. Ich muss nicht mehr – ich darf. Weniger ist mehr. Klar ist mir die Transaktionsanalyse mit den Jahren ans Herz gewachsen! Im Vorstand der DSGTA habe ich das Glück, mit Kolleg*innen zusammenarbeiten zu dürfen, die allesamt hoch professionell sind. Dazu sind wir mit einer prima Mischung aus Ernsthaftigkeit und Spass bei der Sache. So muss es sein, damit man was bewegen kann!
Martin Bolliger (Jg 53) lebt in Gunten am Thunersee. Er war Bankkaufmann, studierte auf zweitem Bildungsweg Theologie und leitete in den 80er-Jahren die Geschäftsstelle AG/SO der Dargebotenen Hand/Telefon 143 in Aarau. Später war er Generalsekretär von IFOTES (International Federation of Telephonic Emergency Services) in Genf. Nach Ausbildungen im psychologischen und therapeutischen Bereich sowie einem Nachdiplom-Studium für Nonprofit-Management machte er sich 1995 selbständig und führt seither seine eigene Firma für Training, Organisations- und Persönlichkeitsentwicklung. Seit 2012 ist er PTSTA im Organisationsbereich und im März 2019 wurde er zum Präsidenten der DSGTA gewählt. www.martinbolliger.com

Gemeinsam bieten Anja Livia und Martin Coachings und Workshops für Teams und Führungskräfte an, in denen mit Unterstützung von Pferden gearbeitet wird.