Schwerpunktthemen

Ethische Kompetenz in Beratung und Führung

Wie wird ethische Kompetenz beschrieben, welche Fähigkeiten gehören dazu, was bewirken diese und wie entstehen sie.
Maya Bentele
TSTA - O/C
maya@bentele.ch
Das Motto des diesjährigen DSGTA-Kongresses heisst «Professionalität und Profession als Transaktionsanalytikerin und Transaktionsanalytiker». Der Begriff der Professionalität wird oft verwendet, wenn zu beschreiben versucht wird, wie jemand eine Aufgabe oder einen Auftrag bewältigt. Die Frage ist, was ist denn nun genau gemeint, wenn gesagt wird, dass sich jemand ‹professionell› oder ‹unprofessionell› verhält. Oder auch, wie kommt es, dass professionelles Handeln möglich wird? Wesentliche Aspekte von Professionalität oder professionellem Handeln zeigen sich darin, ob jemand bewusst und kompetent handelt. Aber auch wie glaubwürdig und authentisch jemand wirkt und, ob jemand seine fachlichen Kompetenzen und Grenzen kennt und mit diesen angemessen umzugehen weiss. Dazu gehört auch, dass jemand klare Werthaltungen hat und diese glaubhaft abwägen und vertreten kann. Damit lässt sich etwas beschreiben, das sich mit dem Begriff ‹ethische Kompetenz› erklären lässt.
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der ethischen Kompetenz als einem spezifischen Aspekt von Professionalität auseinander. Es wird aufgezeigt, wie ethische Kompetenz beschrieben werden kann, welche Fähigkeiten dazu gehören, was diese bewirken und wie sie entstehen.
Was ist nun überhaupt ethische Kompetenz?
Ethische Kompetenz lässt sich mittels drei Grundfähigkeiten gut erfassen:
Die Fähigkeit zur Wahrnehmung, zur Bewertung sowie zur Urteilsbildung. Diese drei Fähigkeiten und deren Auswirkungen möchte ich nun etwas genauer beleuchten.
Fähigkeit zur Wahrnehmung:
Damit ist gemeint, dass jemand fähig ist, einen Sachverhalt oder eine Situation zu erkennen und als ethisch relevant einzuschätzen. Damit das möglich wird, braucht es einige Voraussetzungen. Eine wichtige Voraussetzung ist hier, dass jemand um ethische Fragestellung im jeweiligen Kontext weiss. Das heisst, dass eine Beraterin oder eine Führungskraft sich Gedanken dazu gemacht hat. Sie oder er braucht Bewusstheit darüber, welche Themen und Situationen ethische Implikationen haben können. Dies hilft, eine bewusste Aufmerksamkeit auf diese Aspekte zu erzeugen. Ganz im Sinne: «Man nimmt wahr, was man kennt.»

Beispiel:Eine Beraterin wird von der Personalchefin einer Organisation für einen Coaching-Auftrag angefragt. Im Erstgespräch stellt sich heraus, dass mehrere Personen Fragestellungen für ein Coaching haben. Bei zwei der Personen zeigt es sich, dass es sich um die Chefin und deren Assistenten handelt, die beide ein Einzel-Coaching wünschen. Die Thematik von Rollen und möglichen Rollenthemen ist der Beraterin vertraut, daher hat sie eine gute Wahrnehmung für mögliche Rollenkonflikte.

Fähigkeit zur Bewertung:
Es braucht Wissen und Wertvorstellungen, die dabei helfen, ethische Fragestellungen zu identifizieren und entsprechend zu gewichten. Aber auch Vorgehensweisen oder Hilfsmittel, die unterstützen können, den eigenen Standpunkt zu ergründen und abzuwägen.

Beispiel: Im beschriebenen Beispiel braucht die Beraterin also einerseits Fachwissen zum Thema Rollen und Rollenmanagement, Wissen um hierarchische Systeme und deren Arbeitsweise, sowie Ideen darüber, wem sie in welcher Weise Schutz bieten muss bzw. kann. Und nicht zuletzt muss sie ihre eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen können, um zu beurteilen, ob sie über genügend fachliche und beraterische Kompetenzen verfügt, um in diesem Kontext gute Arbeit zu leisten.

Fähigkeit zur Urteilsbildung:
Bei dieser Fähigkeit geht es darum, den eigenen Standpunkt zu finden und zu vertreten. Den eigenen Standpunkt zu finden heisst auch, sich bewusst zu sein, dass nicht alle Aspekte gleichermassen berücksichtigt werden können. Es braucht eine bewusste Bewertung und Entscheidung bezüglich der eigenen Position. Das bedeutet auch, die Folgen, die ein Standpunkt und die damit verbundene Entscheidung haben, abwägen zu können.

Beispiel: Beim hier erläuterten Beispiel wägt die Beraterin ab, dass sie den Schutz für die betroffenen Personen nicht sicherstellen kann, wenn sie mit Personen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen gleichzeitig arbeitet. Das hat unter anderem damit zu tun, dass es Abhängigkeiten gibt. Ausserdem schätzt sie ein, dass es ihr wohl nicht möglich ist, neutral zu bleiben, wenn sie von der Vorgesetzten Informationen über ihren Mitarbeiter bekommt und umgekehrt. Im Übrigen hat die Beraterin im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der Ausbildung für sich den Standpunkt entwickelt, dass sie achtsam wird, wenn sich Hierarchie-Ebenen vermischen. Für sich hat sie entschieden, dass sie, wenn immer möglich, dann Kollegen einbezieht. Daher schlägt sie der Personalchefin vor, dass sie selbst mit der Chefin arbeitet und empfiehlt einen Kollegen für das Coaching mit dem Assistenten. Die Personalchefin versteht zwar nicht ganz, was das Problem sein soll, lässt sich dann aber auf diese Art der Zusammenarbeit ein. Die Vorgesetzte reagiert mit grossem Verständnis und einer gewissen Erleichterung.


An diesem Beispiel wird deutlich, wie sich ethische Kompetenz zeigen kann. Die Wirkung davon war in diesem Fall, dass die Vorgesetzte sich sicher fühlt im Kontakt und Vertrauen entwickeln kann in die Beraterin. Das führt in der Regel dazu, dass Beratungsprozesse erfolgreich verlaufen können. Für die Beraterin hat dies allerdings zu Folge, dass sie einen Auftrag nicht annimmt und an einen Kollegen abgibt.
Wie entsteht nun ethische Kompetenz? Oder anders gefragt, wie lassen sich die oben beschriebenen Fähigkeiten entwickeln?
Bleiben wir zunächst bei der Fähigkeit zur Wahrnehmung. In einer TA-Ausbildung lernen Ausbildungskandidat/innen, die in Führungsfunktionen tätig oder als Berater/innen unterwegs sind, dass es wichtig ist, die eigene Wahrnehmung immer wieder zu hinterfragen. Sie werden darin unterstützt, sich mit ihren persönlichen Themen auseinanderzusetzen. Mit der Zeit erkennen sie, wann, wo und wie sie sich in Spiele einladen lassen. Aber auch was es braucht, um sich davor zu schützen und sich abzugrenzen. Ihr Erwachsenen-Ich wird gestärkt. Ein wichtiger Aspekt aus meiner Sicht ist ausserdem die Fähigkeit, auf der Metaebene reflektieren zu können.Die Fähigkeit zur Bewertung entsteht durch verschiedene Elemente. Theoretisches Wissen ist ein wichtiger Bestandteil (z.B. geistige Landkarten). Dies bildet die Grundlage, um zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden. Ausserdem ist es wichtig, dass Ausbildungskandidat/innen darin unterstützt werden, sich eine eigene Meinung zu bilden, anstatt sich an richtig oder falsch zu orientieren. Es geht vielmehr darum, einen Standpunkt einzunehmen, und diesen schlüssig vertreten zu können. Als Ausbildnerin ist es mir wichtig, dies ganz bewusst zu fördern. Dazu gehört auch, dass sich die Ausbildungskandidat/innen ihrer Werte und Werthaltungen bewusst werden. Die Basis dazu bildet das Menschenbild, das jede/r hat.
Die Fähigkeit zur Urteilsbildung führt dann dazu, dass sich Ausbildungskandidat/innen entscheiden können, welche Schwerpunkte sie für sich in ihrer Rolle als Vorgesetzte oder Berater/innen setzen. In gemeinsamen Diskussionen können sie voneinander lernen, wer warum wie entscheidet. Das hilft oft, sich bewusst zu werden, wo der eigene Standpunkt ist und wie in konkreten Situationen eine stimmige Entscheidung oder ein angemessenes Verhalten aussehen kann. Dabei ist es sehr wichtig, als Ausbildnerin darauf zu achten, dass diese Diskussionen in einer erlaubenden Atmosphäre stattfinden.
Das Erwachsenen-Ich einer ‹integrierten› Person, das Berne in «Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie» (Berne 1961/2001, S. 187 ff) beschreibt, enthält die drei Aspekte Ethos, ER / Logos und Pathos und kann den oben beschriebenen drei Fähigkeiten zugeordnet werden.
Logos enthält die Fähigkeit zur Wahrnehmung beziehungsweise objektiver Informationsverarbeitung, Ethos zeigt alle Aspekte, die in der Fähigkeit zu Bewertung oder in ethischem Verantwortungsbewusstsein enthalten sind und Pathos beschreibt die Art der Bezogenheit zu sich und anderen oder wie Berne es ausgedrückt hat, persönliche Anziehungskraft und Aufgeschlossenheit, die notwendig ist, um abzuwägen und zu entscheiden.
Die Verbindung oder Integration dieser drei Fähigkeiten führen am Ende dazu, dass jemand ethisch kompetent auftreten und handeln kann. Fast noch bedeutsamer erscheint mir, dass dies nicht unbewusst ist, sondern reflektiert und bewusst geschieht.
Im Laufe einer TA-Ausbildung erlebe ich immer wieder, dass Führungskräfte und Berater/innen sich erst nach und nach bewusst werden, welche ethischen Fragestellungen es in ihrem Kontext gibt und, wie sie damit umgehen. Bewusstheit darüber gehört für mich auch zu ethischer Kompetenz. Damit schliesst sich aus meiner Sicht der Kreis zu professionellem Handeln.
Unterstützt werden dabei professionelle Anwender/innen der TA mit den Ethik-Richtlinien der EATA und dem dazugehörigen Raster, das einerseits hilft alle diese Fähigkeiten zu entwickeln und andererseits in ganz konkreten Fragestellungen Unterstützung gibt, um sich zu reflektieren.



Literatur zum Thema:
Berne, Eric (2001). Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann Verlag.

Dick, M., Marotzki W. & Mieg, H.A. (Hrsg.) (2016). Handbuch Professionsentwicklung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Dietrich, Julia (2008).http://www.dgphil2008.de/programm/sektionen/abstract/dietrich-1.html
abgerufen am 13.2.2018

Ethik-Richtlinien der EATA, enthalten in den Standesregeln der SGTA (www.sgta.ch)

Hassler, Astrid.https://www.ahassler.ch/media/docs/Von-der-guten-Absicht-zur-guten-Praxis.pdf abgerufen am 13.2.2018

Kreuzburg, B., Klingenberg, S., Hallstein, G., Risto K.-H. (1/2009). Ethik und Professionalität. Zeitschrift für Transaktionsanalyse. Seite 55 ff. Paderborn: Junfermann Verlag.

Schwerpunktthemen

Pluripotente-Transaktionsanalyse

Dieser Beitrag handelt von der Herausforderung und den Möglichkeiten, Transaktionsanalyse professionell zeitgemäß neu zu erfinden. Und davon, wie wir unseren Kopf dafür gebrauchen könnten.
Bernd Schmid
Stiftungsvorstand,
Schmid Stiftung Isb GmbH,
info@schmid-stiftung.org
Dieser Beitrag handelt von der Herausforderung und den Möglichkeiten, Transaktionsanalyse professionell zeitgemäß neu zu erfinden. Und davon, wie wir unseren Kopf dafür gebrauchen könnten. Ich weiß, manchen TA-Freunden scheint ein solches Ansinnen verdächtig, scheint doch direkt Fühlbares oft wichtiger und plausibler zu sein. Doch ich halte es mit meiner verehrten, mittlerweile über hundertjährigen Lehrerin Fanita Englisch. Sie soll einst im Kollegenkreis, in dem einmal wieder emotionale Betroffenheit gegen theoretische Diskussion ausgespielt wurde, ausgerufen haben: «Lasst mir meinen Kopf. Das ist das Wertvollste, das ich habe!» Und ich möchte ergänzen: Kluges Denken schafft bedeutungsvollem Fühlen sinnvolle Rahmen!
Ich bin jetzt selbst im Ruhestand und genieße diesen (1). Zum Abschied von den TA-Gemeinschaften habe ich 2017 meine Beiträge zur TA noch einmal ausführlich auf Deutsch in Zürich und auf Englisch in Berlin dargestellt. Ich schließe mich mit dieser Skizze an eine Diskussion mit Leonard Schlegel aus dem Jahr 1997 an (2). Ausführliche Abhandlungen würden diesen Rahmen sprengen, doch stehen solche für Interessierte bereit. Videos und alle Materialien stehen kostenlos zur Verfügung. (3)
Was meint professionell?
Selbstverständlich verstehen sich Transaktionsanalytiker als professionell. Doch was meint das? Professionell meint einem alltäglichen Verständnis nach meist kompetent im Sinne von etwas versiert, methodisch bewusst und in einer gesicherten Qualität tun zu können. Eine TA’lerin gilt dann als professionell, wenn sie die bekannten Konzepte der TA verstanden hat und bei der Einschätzung von Menschen und in der Kommunikation mit diesen anwenden kann. Meist geht es dabei darum, anderen irgendwie zu helfen. Dazu gehört, sich selbst und andere aus Verwicklungen befreien, sowie Erlebens- und Verhaltensmuster positiv weiterentwickeln zu können.
Mittlerweile deutlich breiter angelegt findet sich auf der Website der DGTA die Beschreibung «Die Transaktionsanalyse ermöglicht einen qualifizierten Umgang mit der Gestaltung von Wirklichkeiten durch Kommunikation.» (4) Hierdurch entsteht die Herausforderung, zur Gestaltung von Wirklichkeit in vielen Bereichen und aus der Sicht vieler Professionen beitragen zu können. Dafür müsste die TA zu einem pluripotenten Ansatz weiterentwickelt werden. Bevor diese Metapher weiter ausgeführt wird, zunächst eine kurze Bestandsaufnahme.
So weit, so gut
Die Transaktionsanalyse wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts im Feld der Psychotherapie in den USA entwickelt. Als Welt- und Menschenbild wie auch als Vorstellung vom gesunden Leben transportiert sie daher entsprechende Kulturvorstellungen. Wäre TA in Japan im Feld Militär entwickelt worden, hätte sie sicher andere Züge angenommen. Westliche Psychotherapie meinte seinerzeit, Individuen vorwiegend in Einzelbegegnungen zu helfen, ihre biographischen Belastungen zu identifizieren und sich durch korrigierende Erlebnisse von ihnen zu befreien.
Zu den Kern-Ideen der TA gehört, Menschen in Teile und zwar in Ich-Zustände zu unterteilen. Je nachdem werden eher strukturelle oder funktionale Betrachtungen angestellt. Dabei hängen innere Dynamik einerseits und Handlungsqualitäten andererseits zusammen, wobei letztlich ein mechanisches Modell «Funktion ist Struktur in Aktion» zugrunde liegt. Diese Implikation suggeriert als Konsequenz, dass man mit Funktion nur dann wirklich arbeiten kann, wenn man verursachende Struktur versteht: Fundierte Arbeit mit Ich-Zuständen erfordert ein Verständnis biographischer Hintergründe. Dieser gewohnheitsmäßig gelebte Teil der Identität der TA (5) macht es schwierig, sich dort von biographischen Betrachtungen und psychotherapeutischen Denk- und Verhaltensweisen zu lösen, wo TA für ganz andere Felder und Dienstleistungen weiterentwickelt werden soll (z.B. Politikberatung).
Wie weiter?
Eine weitere Kern-Idee der TA: Gesellschaftliche Entwicklung wird als die Summe der Entwicklung Einzelner gedacht und aus psychologischer Perspektive zu befördern versucht. In vielen Bereichen müsste es jedoch mehr um die Entwicklung von Systemen, Strukturen und Prozessen gehen. Diese können für Rahmen, in denen sich Einzelne und Gemeinschaften verstehen, handeln und entwickeln können, viel wichtiger sein. Stimmen die Verhältnisse nicht, gerät jeder unter dieser Belastung aus der Spur, wenn auch in seiner eigenen Weise. Hier durch Einzelhilfe zu helfen, wäre ein Fass ohne Boden. Die Gestaltungsbemühungen sollten sich gleichermaßen auf die Entwicklung der Verhältnisse richten. Auch dafür braucht es transaktionale Kompetenz. System- und Kulturentwicklung kann auch unter psychologischen Gesichtspunkten für viele Einzelne mehr bewirken. Die Organisation von Schwimmunterricht für alle kann auch mehr Leben retten als die Rettung Einzelner.
Für solche Kulturentwicklungen braucht es die Berücksichtigung von Inhalten, von Rollen und Kontexten und von Systemzusammenhängen und die «Orchestrierung» des Zusammenwirkens vielfältiger Gestaltungsfaktoren und -ebenen. All dies muss in transaktionale Kompetenz einfließen, die dabei Gütekriterien aus ganz verschiedenen Perspektiven genügen muss. Die Optimierung unter psychologischen Gesichtspunkten allein greift zu kurz. Professionelle müssen heute fast immer «Zehnkämpfer» sein. In der Praxis nehmen daher fast alle TA`ler weitere Ansätze mit hinzu. Dringend erforderlich wäre allerdings, sie mit TA-Konzepten programmatisch zu integrieren. Damit hält das Selbstverständnis von TA mit tatsächlichen Entwicklungen Schritt, und kluge Programmatik hilft Praxisentwicklungen zu steuern.


Viele Professionsfelder
Schon die Gründergeneration legte Wert darauf, TA nicht auf Psychotherapie zu beschränken, sondern auch Feldern wie Erziehung und Bildung oder anderen Berufsgruppen, wie dem Krankenpflegepersonal zugute kommen zu lassen. Allerdings wurden die Modelle und Vorgehensweisen der TA dafür kaum neu entwickelt. Trotz der zunehmenden Bemühungen, die Verwendung von TA in weitere Gesellschaftsfelder, wie beispielsweise Organisationen auszuweiten, blieb es meist beim nicht wirklich reflektierten «Export» von gewachsenen Selbstverständlichkeiten psychotherapeutischer Ansätze in andere Felder. Zu den heutigen Herausforderungen gehört, für andere Felder fragwürdige Spezifikationen solcher Exporte zu erkennen. In vielen Fragestellungen im Organisationsbereich zum Beispiel wäre der im Strukturmodell der Ichzustände implizierte biographische Bezug infrage zu stellen.
Als Alternative habe ich das Rollenmodell für Persönlichkeit und Kommunikation entwickelt. Dieses legt nicht Biographie, sondern Lebenswelten als vorrangigen Bezug nahe (6). Um für solche Entwicklungen Ausgangssituationen zu schaffen, muss man TA-Konzepte auf ihre Grundfiguren und -ideen zurückführen. Mit diesen sind dann Angehörige vieler Professionen und Dienstleister in vielen Gesellschaftsfeldern frei und aufgefordert, eigene, jeweils passende Spezifikationen vorzunehmen. Muss TA für solche Professions- und Feldspezifischen Belange neu gedacht werden? Wie muss dabei gedacht werden?
PLuripotente Qualitäten
Man kann sich das wie die Rückverwandlung spezifischer Körperzellen in pluripotent (7) Stammzellen vorstellen. Solche Zellen verlieren ihre Spezialisierung und können dann wieder in vielfältiger Weise neu spezifiziert werden. Interessanterweise waren viele Ursprungsdefinitionen der TA von pluripotenter Qualität. Eric Berne definierte einen Egostate allgemein als «coherent system of feelings, thoughts and behavior». Das Eltern-Ich etwa als Zusammenfassung im strukturellen Ichzustands-Bereich (8) folgte als eine mögliche Spezifikation, dominierte aber schließlich das Bild. John Watkins, der wie Eric Berne bei Paul Federn studiert und die Idee der Egostates parallel weiterentwickelt hatte, definierte Egostate als «.... organized system of behavior and experience whose elements are connected by a common principle …».
Wird man sich der Konzeptkonstruktionen bewusst, dann können statt reflexhafter Exporte passende Spezifizierungen bewusst gewählt und wenn erforderlich für unterschiedliche Arbeitsfelder neu differenziert werden. Beispielsweise spezielle strukturelle Betrachtungen für Trauma-Therapie oder spezielle funktionale Betrachtungen für Karriere-Beratung. Diese müssen dann nicht untereinander übersetzbar sein. Man erwartet ja auch nicht, dass zwischen den Spezifikationen Leberzelle und Sehnerv ein Zusammenhang hergestellt werden muss.
Denk-Übungen
Ein bewusster Umgang mit Implikationen und Konsequenzen erfordert Abstrahieren, dann neu Spezifizieren und Konkretisieren. Beim Abstrahieren geht es um das Herausarbeiten der Prinzipien und Grundgedanken. Dafür kann eine bei Berne übliche Übung genutzt werden: Man nimmt ein konkretes Vorgehen oder Konzept und fragt: Wofür ist das ein Beispiel? Symbiotische Beziehungen sind dann etwa ein Beispiel dafür, wie Verantwortung vermieden und zum «Mitmachen» eingeladen wird. Ist diese allgemeine Fragestellung benannt, kann man sie auf andere Bereiche übertragen. Beispielsweise können im Organisationsbereich durch Strukturen, Prozesse und Zuständigkeiten initiierte Verantwortungs-Vermeidung identifiziert und transaktionale Konzepte zum Umgang damit entwickelt werden. Für das neue Spezifizieren kann man immer wieder nach den für die anstehende Kommunikation entscheidenden Unterschiede fragen. Also Unterscheide, die Unterschiede machen. Für die Konkretisierung kann sozusagen mit der Theatermetapher9 nach konkreten Szenen und Handlungsaufbau gefragt werden.
Goodluck
Nicht jedem liegen solche grundsätzlichen Überlegungen und oft kommt man in der Praxis mit einem Sammelsurium von Konzepten gut voran. Die Evolution lebt von Kompromissen, die sich ohne Programmatik herausgebildet haben. Sie hatte dafür aber auch viel, viel Zeit. Wer bei sich Talente und Interessen entdeckt, zu einer Professionen übergreifenden Entwicklung der TA beizutragen, der sei mit dieser Skizze inspiriert und eingeladen, einerseits mein reichliches Material zu nutzen, und andererseits eigene Entwicklungswege zu gehen.


1. Das Filmchen über meinen Ruhestand 2017https://www.youtube.com/watch?v=txsFBaJzE14&t=18s&spfreload=10
2. Bernd Schmid 1997: TA – auch eine professionenübergreifende Qualifikation – Stellungnahme zu Leonhard Schlegels Aufsatz «Was ist Transaktionsanalyse?»Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 1-2 1997 (14. Jahrgang), S. 31-42
3. Deutsch: www.youtube.com/watch?v=3Y__aMhM-6Y&list=PLUEMue3Ihake1S3csJADJDvUU_S4U2wgR und klassisch www.youtube.com/watch?v=6510k8847X8&list=PLUEMue3IhakeyJ4YmJD--jDPi3jWY5WkC Englisch: www.youtube.com/watch?v=Nf1sfe2M4k4&t=1945s und klassisch www.youtube.com/watch?v=le_K3Yd73ak&list=PLUEMue3IhakejADItJgN7vM4NeRjunNbn
4. https://www.dgta.de/fileadmin/user_upload/TA-eine_elegante_Theorie.pdf
vermutlich angelehnt an meine Definition von 1990: Die Transaktionsanalyse meint einen professionellen Umgang mit der Gestaltung von Wirklichkeit durch Kommunikation. Siehe Bernd Schmid 1990: Eine neue TA: Leitgedanken zu einem erneuerten Verständnis unseres professionellen Zugangs zur Wirklichkeit. Zeitschrift für Transaktionsanalyse 4,7, S. 156-172
5. Bernd Schmid 1988: Überlegungen zur Identität als Transaktionsanalytiker.ZeitschriftfürTransaktionsanalyse 5, 2, S. 75-77
6. 2008: The role concept of TA and other approaches to personality, encounter and co-creativity for all professional fields Anlässlich der Verleihung des Eric Berne Memorial Awards in San Francisco (Aug. 2007) Transactional Analysis Journal Vol. 38, No. 01, January 2008
7. https://de.wikipedia.org/wiki/Pluripotenz
8. Bernd Schmid 1994 Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Professionalität und Transaktionsanalyse aus systemischer Sicht. Junfermann, Paderborn. Als kostenloses active-book (Junfermann) verfügbar. www.active-books.de/kategorien/buch/350-wo-ist-der-wind-wenn-er-nicht-weht/
9. Bernd Schmid 2004: Der Einsatz der Theatermetapher in der Praxis.LO - Lernende Organisation. Zeitschrift für systemisches Management und Organisation, Nr. 18, März/April 2004, S. 56-63