Schwerpunktthema
Fragmente zu Scham mit Blick auf
Migration und Integration
Migration und Integration
Eine Diskussion über ‹Migration› umfasst rasch verschiedenste Lebensbereiche und aktiviert unerwartete Gefühle. Wer redet in diesem Kontext von Scham? Scham bei wem? Wofür? Wann? Etwa für das Wissen um unmenschliche Strapazen und unvorstellbare Willkür, denen Flüchtlinge zurzeit in allen Teilen der Welt ausgesetzt sind. Oder für Gefühle der eigenen Ohnmacht angesichts der stattfindenden Völkerwanderungen?
Auf den nächsten Seiten beleuchte ich Situationen von Immigranten und verbinde sie mit TA-Konzepten.
Der Refrain aus dem Migranten-Choral von Ernst Mehring1 (Emigrant im zweiten Weltkrieg) dient als Einstimmung:
Die ganze Heimat,
und das bisschen Vaterland,
die trägt der Emigrant,
von Mensch zu Mensch –
von Ort zu Ort,
an seinen Sohl´n,
in einem Sacktuch
mit sich fort.
Was trägt der Emigrant an seinen Sohlen, in seinem Sacktuch von Ort zu Ort, von Land zu Land? Was trage ich an meinen Sohlen, in meinem Sacktuch? Darüber nachzudenken lohnt sich für mich stets neu.
Die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Migranten zeigt mir die Bedeutung des Bezugsrahmens (BR) in einer Tiefendimension auf, welche ich während der Grundausbildung nie erahnt habe. Heimat umfasst alles, was einen Menschen von Anbeginn seiner frühesten Existenz geprägt hat. Dazu gehört auch das entscheidende ‹Stäubchen› an den Sohlen, worüber niemand spricht, welches – je nachdem – Integration fördernd oder hindernd wirken kann: Scham.
Wie ergeht es Menschen aus anderen Kulturkreisen, aus anderen Erdteilen, die hier eine neue Heimat suchen, und welche ihr Fremdsein nie verleugnen können?
Zuunterst im Sacktuch versteckt, kaum (er)tragbar, lauern Erinnerungen an entwürdigende (Gewalt-)Erlebnisse auf der Flucht 2/3. Eine andere, Integration erschwerende Schambelastung kann Asylsuchende in grosse Not bringen; unausgesprochen kommt sie im Sacktuch aus der Heimat mit. Sie bleibt im Alltag beinahe unbeachtet. Es ist der Erwartungsdruck ihrer zurückgelassenen Familien oder der existentielle Druck unter dem zurückgelassene Familien stehen, wenn sie Geld für die Flucht ihres Sohnes oder ihrer Tochter in einem gewissen Zeitraum zurück zahlen müssen. Beeindruckend weisen das Buch ‹Das geträumte Land›4 sowie der Film ‹Neuland›5 auf diese Zusammenhänge und deren Auswirkungen hin.
Alltägliche Rituale und Gepflogenheiten im Immigrationsland sind im Herkunftsland, in der Heimat, schambehaftet. Migranten geraten in Gewissenskonflikte. In vielen Ländern schauen sich die Menschen bei der Begrüssung nicht in die Augen. Das ist unanständig. Hier in der Schweiz, im Immigrationsland, gilt als unanständig, wenn mir das Gegenüber nicht in die Augen schaut. Ich erinnere an die Geschichte mit dem Begrüssungsritual des Handgebens an einer Schule. Geht es um Machtdemonstration oder um Schamvermeidung? Gegensätzliche Bezugsrahmen treffen aufeinander. Beide Seiten sind herausgefordert.
Wann sind Sie das letzte Mal in ein Fettnäpfchen getreten? So wie mein Kollege, der im Ausland bei einer befreundeten Familie seines Cousins zum ersten Mal im Leben türkischen Kaffee serviert bekam. Weil er gut erzogen war, bemühte er sich auch den Kaffeesatz noch zu trinken, bis ihm sein Begleiter zuflüsterte: ‹Den kannst du lassen.›
Vielleicht spüren Sie allein beim Lesen schon innerliches Erröten.
Wenn wir uns schämen, reagieren wir körperlich. Wir würden am liebsten verschwinden, die Tarnkappe aufsetzen und uns unsichtbar machen. Wir tun alles, um Situationen zu vermeiden, in denen wir Scham erleben könnten. Scham als ‹nicht okay› oder ‹daneben-sein› fühlen wir, wenn wir uns nicht der Norm gemäss verhalten. (Im Miniskript 2. Position, wenn wir unserem Primärantreiber nicht genügen – im selben Augenblick finden wir uns total verärgert über das Gegenüber in der 3. Position, oder gar in der 4. Position bei der Verzweiflung wieder.)
Obige Beispiele zeigen Anpassungsscham. Stephan Marks unterscheidet in seinem Buch ‹Scham, die tabuisierte Emotion›6 verschiedene Ausprägungen von Scham: Anpassungsscham, Gruppenscham, empathische Scham, Schamhaftigkeit/Intimitätsscham, traumatische Scham, Gewissensscham.
‹Scham ist so etwas wie das Aschenputtel unter den Gefühlen. Über Scham redet man nicht; man zeigt sie auch nicht, sondern verbirgt sie, hält sie geheim. Scham ist selbst zu etwas geworden, dessen sich viele Menschen schämen.› 7
Ich richte in diesen Betrachtungen den Fokus auf die Anpassungsscham. ‹Anpassungsscham bezieht sich auf die eigene Person. Man entspricht nicht den herrschenden Normen und Erwartungen. Das kann sich auf Aussehen oder persönliche Fähigkeiten und Eigenarten beziehen›.8 Die Konzepte von Bezugsrahmen und Grundhaltungen erlebe ich dabei als selbstverständlich. ‹Dazugehören›, ‹sich OK-Fühlen› ist für jeden Menschen bedeutend. In der eigenen Erfahrung bestätigt zu werden, gehört zu den acht Beziehungsbedürfnissen von Erskine. ‹Jede Familie, jede Gruppe oder Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass ihre Normen von seinen Mitgliedern mitgetragen werden. Das Erlernen dieser Normen ist mit natürlichen Anpassungs-Schamgefühlen verbunden›.9
Menschen mit dunkler Haut, anderer Sprache, anderem Temperament, anderen kulturellen Gepflogenheiten werden sich in unserem Land kaum restlos zugehörig fühlen, auch ihre Kinder und Kindeskinder nicht. Menschen mit heller Haut haben es auf den ersten Blick leichter. Sobald sie jedoch zu sprechen beginnen, outen sie sich als ‹Ausländer›. Sie sind Fremde. Die meisten bemühen sich um Anpassung. Nur ja nicht auffallen und sich im Aussen den Gepflogenheiten des Gastlandes anpassen – oder erst recht auffallen! Was bringt sie dazu? Agitation lässt schmerzliche Gefühle von ‹Fremdsein, Nichtdazugehören› weniger aufkommen.
Bei einer Frau aus Afrika, welche ich seit Jahren begleite, ist ‹Scham› immer wieder ein Thema. Sie war Analphabetin. Der Schulbesuch war ihr als einzigem Mädchen einer Grossfamilie verwehrt. In ihrer Heimat gehörte es zur Norm (BR), dass sie ihrer Mutter half, im Haushalt und mit dem Vieh. Schulbesuch war Männersache. Nun ist sie in der Schweiz. Sie hat Deutsch über das Gehör gelernt. Ihr starker Akzent ist gewöhnungsbedürftig. Sie erzählt: ‹Ich schäme mich, dass ich nicht schreiben und lesen kann. Es ist so. Ich sage es den Leuten: Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich brauche Hilfe.› Dann seien die Menschen meistens nett und helfen. Sie steht zu ihren Grenzen und bleibt dadurch in ihrer Kraft und in ihrer Autonomie. Die Frau hat Scham als Antrieb genützt und hat in ihrer Lebensmitte, trotz unüberwindbar scheinender Hürden, den Alphabetisierungsprozess noch geschafft. In ihrer persönlichen Entwicklung ist das ein Quantensprung. TA redet von Bezugsrahmenerweiterung.
Beim Einkaufen, bei Ämtern, bei der Arbeit wird sie selten auf Anhieb verstanden. Die Frau, traditionell gekleidet, erlebt an Schaltern alle Reaktionsarten von respektvoll bis gehässig und vorwurfsvoll. Schwingt bei ihrem jeweiligen Gegenüber womöglich Scham unbewusst mit, wenn die Klientin nicht unmittelbar verstanden wird? Dieses Nicht-verstanden-werden, obwohl sie ihre Hemmungen überwindet und Deutsch spricht, löst bei dieser Frau Unverständnis und Schamgefühle aus. Sie kann es nicht einordnen. ‹Was mache ich falsch, ich spreche doch Deutsch?›, fragt sie sich und fragt sie mich. Ich erkläre ihr, dass sie mit einem Akzent spricht, der nicht so leicht zu verstehen ist. Dass für Menschen mit anderer Muttersprache das Aussprechen der schweizerischen Laute und unserer Satzmelodie kaum möglich ist; dass ich Wörter aus ihrer Muttersprache auch nicht richtig aussprechen kann. Ermutigend erzähle ich von einer Freundin, die Deutsch mit französischem Akzent spricht. Da entfährt der verunsicherten Frau ein mitfühlendes ‹Ohhh›. Ich realisiere, wie nahe ihr dieses Nicht-verstanden-werden geht. In unseren Gesprächen schone ich sie nicht und frage nach, bis ich ihre Aussage verstehe und danach oft eine Lautverwechslung klären kann. Damit bleibe ich in der OK-OK-Haltung: Weder sie noch ich müssen des Nichtverstehens wegen Schamgefühle entwickeln. Beide können wir die Schamgrenze überwinden und voneinander lernen.
Häufig gehen Migranten nicht allein zum Arzt, zu Elterngesprächen oder zu öffentlichen Ämtern. Sie lassen sich von ihren Kindern, die gut Deutsch sprechen, begleiten. Dadurch, dass Kinder besser Deutsch können als ihre Eltern, entstehen Rollenkonflikte innerhalb der Familie. Kinder müssen notgedrungen Elternfunktion übernehmen für ihre Mütter und Väter. Unsere Vorstellung der systemischen Ordnung gerät durcheinander. Jeder Beteiligte erlebt oder bewirkt auf seine Weise unausgesprochen Scham und/oder Beschämung.
Gefühle des Ungenügens tun weh, sind kaum auszuhalten. Ich vermute, dass die Angst vor diesem Schmerz ein Grund dafür ist, dass Menschen, welche schon lange als Flüchtlinge oder Gastarbeiter hier leben, nicht deutsch sprechen. Es ist besser, sich nicht aufs Glatteis zu begeben. Schamvermeidung kann Integration behindern. Es kommt auf den einzelnen Menschen an, genauso wie auf die Menschen im Umfeld.
Schamvermeidung kann sich auch anders zeigen: In Selbstüberschätzung und Abwerten von anderen; Machogehabe, Verachtung oder auch Gewalt als Schamabwehr. Wenn ich schon nicht gesehen, nicht wertgeschätzt wurde und werde, dann sollt Ihr euch wenigstens vor mir fürchten. Wie viel ‹Nichtbeachtung und Beschämung› Immigranten erlebt haben und erleben, kann niemand ermessen. Sie tragen es in ihrem Sacktuch, an den Sohlen. Sie reden nicht darüber. Es ist zu schmerzhaft. Die ganze Vielfalt der passiven Verhaltensweisen ist beobachtbar, sowohl bei Migranten als auch bei Einheimischen.
Stehen womöglich Schamerleben und Radikalisierung in einem inneren Zusammenhang?
Hier meine Gedanken, wie Grundhaltungen sowohl bei Migranten als auch bei Eingesessenen zu Radikalisierung führen können:
Vor hundert Jahren proklamierte Albert Schweitzer11 ‹Ehrfurcht vor dem Leben› als ethischen Grundsatz und als den einzig gangbaren Weg zu friedlicher Koexistenz und fruchtbarem Zusammenleben. Wie schwierig das Erringen dieser Grundhaltung sein kann, wissen wir alle. Mir jedenfalls gelingt es nicht, in einer konstanten +/+-Haltung zu leben. Wir sind auf einem Bewusstwerdungsweg. Ich hoffe, dass das Bemühen vieler einzelner Menschen Wellen schlägt und wir ‹Ein-Ander› immer mehr mit Respekt und Achtung vor der persönlichen Einzigartigkeit begegnen können. Da wo mir mit Respekt und Offenheit begegnet wird, da fühle ich mich zugehörig, angenommen. Da kann ich Beziehung, ein Stück ‹neue Heimat› spüren.
Ein weiteres, selten bewusstes Phänomen sind die heissen Kartoffeln12, wie Fanita English sie nennt. In den Worten von Stephan Marks: ‹Beschämungen und Scham wirken wie ein transgenerationaler Teufelskreis; sie werden von Generation zu Generation weitergegeben … Daher kann die Weitergabe von Scham auch über mehr als drei oder vier Generationen erfolgen.›13 Afrikaner waren Jahrhunderte lang kolonialisiert und versklavt. Sie wurden/werden beschämt und ausgenützt. Jetzt kommen sie nach Europa und die Spirale geht weiter.14 Die meisten arbeiten im Niedriglohnbereich und gehören erneut zur Unterschicht in der Gesellschaft. Wer weiss wie viel Demütigung sie erleben, wenn sie als Zimmermädchen, Putzfrauen oder als Kehrichtmänner arbeiten? Wie sich Angehörige verschiedener Ethnien vermutlich aus Schamabwehr15 gegenseitig schikanieren und beschämen, erfahre ich aus Erzählungen von Betroffenen. ‹Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz›.16 Davon erzählen auch Migrantinnen und Migranten, welche beruflich erfolgreich sind. Gerade weil sie Erfolg haben, herausstechen, erleben sie Anpassungsscham, erregen sie bei ihren weniger prosperierenden Landsleuten Neid und Misstrauen in allen Schattierungen.
Wir alle sind Menschen, jedem steht Würde zu. Wir im Immigrationsland sind gefordert, unsere Bezugsrahmen zu öffnen. Wir sind gefordert, uns unsere eigenen Schamgefühle einzugestehen und sie anzunehmen. Wir sind gefordert, zu unseren Unfähigkeiten im Umgang mit Fremden und Randständigen zu stehen und einen Weg zu finden zu einem konstruktiven, wertschätzenden Miteinander. TA hat Werkzeuge dazu. Die Umsetzung liegt an jedem Einzelnen, im Interesse am Mitmenschen, in den alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen.
Auf den nächsten Seiten beleuchte ich Situationen von Immigranten und verbinde sie mit TA-Konzepten.
Der Refrain aus dem Migranten-Choral von Ernst Mehring1 (Emigrant im zweiten Weltkrieg) dient als Einstimmung:
Die ganze Heimat,
und das bisschen Vaterland,
die trägt der Emigrant,
von Mensch zu Mensch –
von Ort zu Ort,
an seinen Sohl´n,
in einem Sacktuch
mit sich fort.
Was trägt der Emigrant an seinen Sohlen, in seinem Sacktuch von Ort zu Ort, von Land zu Land? Was trage ich an meinen Sohlen, in meinem Sacktuch? Darüber nachzudenken lohnt sich für mich stets neu.
Die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Migranten zeigt mir die Bedeutung des Bezugsrahmens (BR) in einer Tiefendimension auf, welche ich während der Grundausbildung nie erahnt habe. Heimat umfasst alles, was einen Menschen von Anbeginn seiner frühesten Existenz geprägt hat. Dazu gehört auch das entscheidende ‹Stäubchen› an den Sohlen, worüber niemand spricht, welches – je nachdem – Integration fördernd oder hindernd wirken kann: Scham.
Wie ergeht es Menschen aus anderen Kulturkreisen, aus anderen Erdteilen, die hier eine neue Heimat suchen, und welche ihr Fremdsein nie verleugnen können?
Zuunterst im Sacktuch versteckt, kaum (er)tragbar, lauern Erinnerungen an entwürdigende (Gewalt-)Erlebnisse auf der Flucht 2/3. Eine andere, Integration erschwerende Schambelastung kann Asylsuchende in grosse Not bringen; unausgesprochen kommt sie im Sacktuch aus der Heimat mit. Sie bleibt im Alltag beinahe unbeachtet. Es ist der Erwartungsdruck ihrer zurückgelassenen Familien oder der existentielle Druck unter dem zurückgelassene Familien stehen, wenn sie Geld für die Flucht ihres Sohnes oder ihrer Tochter in einem gewissen Zeitraum zurück zahlen müssen. Beeindruckend weisen das Buch ‹Das geträumte Land›4 sowie der Film ‹Neuland›5 auf diese Zusammenhänge und deren Auswirkungen hin.
Alltägliche Rituale und Gepflogenheiten im Immigrationsland sind im Herkunftsland, in der Heimat, schambehaftet. Migranten geraten in Gewissenskonflikte. In vielen Ländern schauen sich die Menschen bei der Begrüssung nicht in die Augen. Das ist unanständig. Hier in der Schweiz, im Immigrationsland, gilt als unanständig, wenn mir das Gegenüber nicht in die Augen schaut. Ich erinnere an die Geschichte mit dem Begrüssungsritual des Handgebens an einer Schule. Geht es um Machtdemonstration oder um Schamvermeidung? Gegensätzliche Bezugsrahmen treffen aufeinander. Beide Seiten sind herausgefordert.
Wann sind Sie das letzte Mal in ein Fettnäpfchen getreten? So wie mein Kollege, der im Ausland bei einer befreundeten Familie seines Cousins zum ersten Mal im Leben türkischen Kaffee serviert bekam. Weil er gut erzogen war, bemühte er sich auch den Kaffeesatz noch zu trinken, bis ihm sein Begleiter zuflüsterte: ‹Den kannst du lassen.›
Vielleicht spüren Sie allein beim Lesen schon innerliches Erröten.
Wenn wir uns schämen, reagieren wir körperlich. Wir würden am liebsten verschwinden, die Tarnkappe aufsetzen und uns unsichtbar machen. Wir tun alles, um Situationen zu vermeiden, in denen wir Scham erleben könnten. Scham als ‹nicht okay› oder ‹daneben-sein› fühlen wir, wenn wir uns nicht der Norm gemäss verhalten. (Im Miniskript 2. Position, wenn wir unserem Primärantreiber nicht genügen – im selben Augenblick finden wir uns total verärgert über das Gegenüber in der 3. Position, oder gar in der 4. Position bei der Verzweiflung wieder.)
Obige Beispiele zeigen Anpassungsscham. Stephan Marks unterscheidet in seinem Buch ‹Scham, die tabuisierte Emotion›6 verschiedene Ausprägungen von Scham: Anpassungsscham, Gruppenscham, empathische Scham, Schamhaftigkeit/Intimitätsscham, traumatische Scham, Gewissensscham.
‹Scham ist so etwas wie das Aschenputtel unter den Gefühlen. Über Scham redet man nicht; man zeigt sie auch nicht, sondern verbirgt sie, hält sie geheim. Scham ist selbst zu etwas geworden, dessen sich viele Menschen schämen.› 7
Ich richte in diesen Betrachtungen den Fokus auf die Anpassungsscham. ‹Anpassungsscham bezieht sich auf die eigene Person. Man entspricht nicht den herrschenden Normen und Erwartungen. Das kann sich auf Aussehen oder persönliche Fähigkeiten und Eigenarten beziehen›.8 Die Konzepte von Bezugsrahmen und Grundhaltungen erlebe ich dabei als selbstverständlich. ‹Dazugehören›, ‹sich OK-Fühlen› ist für jeden Menschen bedeutend. In der eigenen Erfahrung bestätigt zu werden, gehört zu den acht Beziehungsbedürfnissen von Erskine. ‹Jede Familie, jede Gruppe oder Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass ihre Normen von seinen Mitgliedern mitgetragen werden. Das Erlernen dieser Normen ist mit natürlichen Anpassungs-Schamgefühlen verbunden›.9
Menschen mit dunkler Haut, anderer Sprache, anderem Temperament, anderen kulturellen Gepflogenheiten werden sich in unserem Land kaum restlos zugehörig fühlen, auch ihre Kinder und Kindeskinder nicht. Menschen mit heller Haut haben es auf den ersten Blick leichter. Sobald sie jedoch zu sprechen beginnen, outen sie sich als ‹Ausländer›. Sie sind Fremde. Die meisten bemühen sich um Anpassung. Nur ja nicht auffallen und sich im Aussen den Gepflogenheiten des Gastlandes anpassen – oder erst recht auffallen! Was bringt sie dazu? Agitation lässt schmerzliche Gefühle von ‹Fremdsein, Nichtdazugehören› weniger aufkommen.
Bei einer Frau aus Afrika, welche ich seit Jahren begleite, ist ‹Scham› immer wieder ein Thema. Sie war Analphabetin. Der Schulbesuch war ihr als einzigem Mädchen einer Grossfamilie verwehrt. In ihrer Heimat gehörte es zur Norm (BR), dass sie ihrer Mutter half, im Haushalt und mit dem Vieh. Schulbesuch war Männersache. Nun ist sie in der Schweiz. Sie hat Deutsch über das Gehör gelernt. Ihr starker Akzent ist gewöhnungsbedürftig. Sie erzählt: ‹Ich schäme mich, dass ich nicht schreiben und lesen kann. Es ist so. Ich sage es den Leuten: Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich brauche Hilfe.› Dann seien die Menschen meistens nett und helfen. Sie steht zu ihren Grenzen und bleibt dadurch in ihrer Kraft und in ihrer Autonomie. Die Frau hat Scham als Antrieb genützt und hat in ihrer Lebensmitte, trotz unüberwindbar scheinender Hürden, den Alphabetisierungsprozess noch geschafft. In ihrer persönlichen Entwicklung ist das ein Quantensprung. TA redet von Bezugsrahmenerweiterung.
Beim Einkaufen, bei Ämtern, bei der Arbeit wird sie selten auf Anhieb verstanden. Die Frau, traditionell gekleidet, erlebt an Schaltern alle Reaktionsarten von respektvoll bis gehässig und vorwurfsvoll. Schwingt bei ihrem jeweiligen Gegenüber womöglich Scham unbewusst mit, wenn die Klientin nicht unmittelbar verstanden wird? Dieses Nicht-verstanden-werden, obwohl sie ihre Hemmungen überwindet und Deutsch spricht, löst bei dieser Frau Unverständnis und Schamgefühle aus. Sie kann es nicht einordnen. ‹Was mache ich falsch, ich spreche doch Deutsch?›, fragt sie sich und fragt sie mich. Ich erkläre ihr, dass sie mit einem Akzent spricht, der nicht so leicht zu verstehen ist. Dass für Menschen mit anderer Muttersprache das Aussprechen der schweizerischen Laute und unserer Satzmelodie kaum möglich ist; dass ich Wörter aus ihrer Muttersprache auch nicht richtig aussprechen kann. Ermutigend erzähle ich von einer Freundin, die Deutsch mit französischem Akzent spricht. Da entfährt der verunsicherten Frau ein mitfühlendes ‹Ohhh›. Ich realisiere, wie nahe ihr dieses Nicht-verstanden-werden geht. In unseren Gesprächen schone ich sie nicht und frage nach, bis ich ihre Aussage verstehe und danach oft eine Lautverwechslung klären kann. Damit bleibe ich in der OK-OK-Haltung: Weder sie noch ich müssen des Nichtverstehens wegen Schamgefühle entwickeln. Beide können wir die Schamgrenze überwinden und voneinander lernen.
Häufig gehen Migranten nicht allein zum Arzt, zu Elterngesprächen oder zu öffentlichen Ämtern. Sie lassen sich von ihren Kindern, die gut Deutsch sprechen, begleiten. Dadurch, dass Kinder besser Deutsch können als ihre Eltern, entstehen Rollenkonflikte innerhalb der Familie. Kinder müssen notgedrungen Elternfunktion übernehmen für ihre Mütter und Väter. Unsere Vorstellung der systemischen Ordnung gerät durcheinander. Jeder Beteiligte erlebt oder bewirkt auf seine Weise unausgesprochen Scham und/oder Beschämung.
Gefühle des Ungenügens tun weh, sind kaum auszuhalten. Ich vermute, dass die Angst vor diesem Schmerz ein Grund dafür ist, dass Menschen, welche schon lange als Flüchtlinge oder Gastarbeiter hier leben, nicht deutsch sprechen. Es ist besser, sich nicht aufs Glatteis zu begeben. Schamvermeidung kann Integration behindern. Es kommt auf den einzelnen Menschen an, genauso wie auf die Menschen im Umfeld.
Schamvermeidung kann sich auch anders zeigen: In Selbstüberschätzung und Abwerten von anderen; Machogehabe, Verachtung oder auch Gewalt als Schamabwehr. Wenn ich schon nicht gesehen, nicht wertgeschätzt wurde und werde, dann sollt Ihr euch wenigstens vor mir fürchten. Wie viel ‹Nichtbeachtung und Beschämung› Immigranten erlebt haben und erleben, kann niemand ermessen. Sie tragen es in ihrem Sacktuch, an den Sohlen. Sie reden nicht darüber. Es ist zu schmerzhaft. Die ganze Vielfalt der passiven Verhaltensweisen ist beobachtbar, sowohl bei Migranten als auch bei Einheimischen.
Stehen womöglich Schamerleben und Radikalisierung in einem inneren Zusammenhang?
Hier meine Gedanken, wie Grundhaltungen sowohl bei Migranten als auch bei Eingesessenen zu Radikalisierung führen können:
–/+ Ich bin anders, die andern sind besser. Ich muss mich im fremden Land bemühen.
–/– Wir sind anders, wir gehören nicht dazu und die andern sind auch nicht in Ordnung.
Als Kompensation kann die Grundhaltung zu +/– wechseln: Unsere Kultur ist besser, sie ist richtig. Die Kultur des Immigrationslandes ist ‹falsch›. Oft leben Immigranten die heimatliche Tradition in der Fremde stärker, radikaler als Menschen in der angestammten Heimat. Im Gegenzug und aus Angst verteidigen Einheimische ihre Kultur und radikalisieren sich ihrerseits.
OK-OK-Haltung: In ihrer Abhandlung ‹Bedürfnisse der Seele› schreibt Simone Weil: ‹Fundamental ist die Pflicht zum bedingungslosen, gegenseitigen Respekt›.10
Sie fordert auf zur OK-OK-Grundhaltung und spricht das Gemeinsame an: Das Mensch-Sein mit Leib und Seele. Gegenseitiger Respekt.Vor hundert Jahren proklamierte Albert Schweitzer11 ‹Ehrfurcht vor dem Leben› als ethischen Grundsatz und als den einzig gangbaren Weg zu friedlicher Koexistenz und fruchtbarem Zusammenleben. Wie schwierig das Erringen dieser Grundhaltung sein kann, wissen wir alle. Mir jedenfalls gelingt es nicht, in einer konstanten +/+-Haltung zu leben. Wir sind auf einem Bewusstwerdungsweg. Ich hoffe, dass das Bemühen vieler einzelner Menschen Wellen schlägt und wir ‹Ein-Ander› immer mehr mit Respekt und Achtung vor der persönlichen Einzigartigkeit begegnen können. Da wo mir mit Respekt und Offenheit begegnet wird, da fühle ich mich zugehörig, angenommen. Da kann ich Beziehung, ein Stück ‹neue Heimat› spüren.
Ein weiteres, selten bewusstes Phänomen sind die heissen Kartoffeln12, wie Fanita English sie nennt. In den Worten von Stephan Marks: ‹Beschämungen und Scham wirken wie ein transgenerationaler Teufelskreis; sie werden von Generation zu Generation weitergegeben … Daher kann die Weitergabe von Scham auch über mehr als drei oder vier Generationen erfolgen.›13 Afrikaner waren Jahrhunderte lang kolonialisiert und versklavt. Sie wurden/werden beschämt und ausgenützt. Jetzt kommen sie nach Europa und die Spirale geht weiter.14 Die meisten arbeiten im Niedriglohnbereich und gehören erneut zur Unterschicht in der Gesellschaft. Wer weiss wie viel Demütigung sie erleben, wenn sie als Zimmermädchen, Putzfrauen oder als Kehrichtmänner arbeiten? Wie sich Angehörige verschiedener Ethnien vermutlich aus Schamabwehr15 gegenseitig schikanieren und beschämen, erfahre ich aus Erzählungen von Betroffenen. ‹Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz›.16 Davon erzählen auch Migrantinnen und Migranten, welche beruflich erfolgreich sind. Gerade weil sie Erfolg haben, herausstechen, erleben sie Anpassungsscham, erregen sie bei ihren weniger prosperierenden Landsleuten Neid und Misstrauen in allen Schattierungen.
Wir alle sind Menschen, jedem steht Würde zu. Wir im Immigrationsland sind gefordert, unsere Bezugsrahmen zu öffnen. Wir sind gefordert, uns unsere eigenen Schamgefühle einzugestehen und sie anzunehmen. Wir sind gefordert, zu unseren Unfähigkeiten im Umgang mit Fremden und Randständigen zu stehen und einen Weg zu finden zu einem konstruktiven, wertschätzenden Miteinander. TA hat Werkzeuge dazu. Die Umsetzung liegt an jedem Einzelnen, im Interesse am Mitmenschen, in den alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen.
1 Niklaus Stark, Peter Riesterer, Porzio Verlag
2 Emmanuel Mbolela, ‹Mein Weg aus dem Kongo nach Europa›, ISBN 978-3-85476-456-4
3 DRS 2, Sendung ‹Kontext› vom 9.5.2017: ‹Der bange Blick auf die zentrale Mittelmeerroute›
4 Imbolo Mbue, ‹Das geträumte Land›
5 Anna Thommen, Neuland, FAMA FILM AG
6 Stephan Marks, ‹Scham die tabuisierte Emotion›, ISBN 978-3-8436-0052-1
7 Ebenda, S.12
8 Ebenda, S.13
9 Ebenda, S.56
10 Weil Simone, www.oya-online.de/article/read/1153-die_entwurzelun
11 Christoph Wyss, AISL, internationale Albert Schweitzer-Vereinigung
12 Fanita English, ‹Transaktionsanalyse›, Seite 173
13 Stephan Marks, ‹Scham›, Seite 50
14 Emmanuel Mbolela, ‹Mein Weg vom Kongo nach Europa›, ISBN 978-3-85476-456-4
15 Stephan Marks, ‹Scham›, Seite 106/107
16 Ebenda S.10
2 Emmanuel Mbolela, ‹Mein Weg aus dem Kongo nach Europa›, ISBN 978-3-85476-456-4
3 DRS 2, Sendung ‹Kontext› vom 9.5.2017: ‹Der bange Blick auf die zentrale Mittelmeerroute›
4 Imbolo Mbue, ‹Das geträumte Land›
5 Anna Thommen, Neuland, FAMA FILM AG
6 Stephan Marks, ‹Scham die tabuisierte Emotion›, ISBN 978-3-8436-0052-1
7 Ebenda, S.12
8 Ebenda, S.13
9 Ebenda, S.56
10 Weil Simone, www.oya-online.de/article/read/1153-die_entwurzelun
11 Christoph Wyss, AISL, internationale Albert Schweitzer-Vereinigung
12 Fanita English, ‹Transaktionsanalyse›, Seite 173
13 Stephan Marks, ‹Scham›, Seite 50
14 Emmanuel Mbolela, ‹Mein Weg vom Kongo nach Europa›, ISBN 978-3-85476-456-4
15 Stephan Marks, ‹Scham›, Seite 106/107
16 Ebenda S.10