Redaktionelles
Rezension

Judith Herman: Die Narben der Gewalt

Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden
Judith Herman leitet als Professorin ein Programm, in welchem sie – seit über 30 Jahren – Opfer von Gewalttaten in direktem therapeutischem Kontakt begleitet.
Ihr Buch richtet sich an Menschen, welche mit Traumatisierten arbeiten oder diese besser verstehen wollen. In einem ersten Teil werden traumatische Störungen fundiert und reichlich ausführlich behandelt, im zweiten Teil geht es um die Genesung dieser Störungen.
Weil Traumata generell verdrängt werden und mit dem Thema Scham (Schwerpunkt dieses Heftes) in direkter Verbindung stehen können, ist ein Zusammenhang dieser Themen offensichtlich.
Judith Hermann beschreibt drei Stossrichtungen in der Psychotraumaforschung: Hysterie, traumatische Kriegsneurosen und Neurosen im Zusammenhang mit dem Geschlechterkampf. Geschichtliches wird erläutert (so Hysterie-Forschung durch Freud), dann werden viele Zusammenhänge aufgezeigt, welche mich persönlich sehr angesprochen haben.
Im Weiteren geht Hermann auf die traumatischen Folgen der Angst ein. Der Geist wird gelähmt, das innere Gleichgewicht wird zerstört, Gefühlsüberflutung, aber auch Gefühllosigkeit ist möglich.
Für uns Transaktionsanalytiker/-innen ist das Kapitel der ‹Nichtzugehörigkeit› von grosser Bedeutung, weil wir hier transaktionsanalytische Zusammenhänge zum Miniskript erkennen können.
Traumata zerstören jedwelchen Autonomie-Ansatz, eine der drei negativen Grundpositionen (–/+, –/–, +/–) wird zur dominanten Einstellung. Interessant ist ein weiterer Zusammenhang zu Bowlby’s Bindungssystem: Da traumatische Ereignisse das Vertrauen zum Mitmenschen (transaktionsanalytisch: Intimität) völlig zerstören und damit in eine unsichere Bindungsform überführen, muss der/die Traumatisierte neues Vertrauen in Menschen entwickeln. Dazu ist die Solidarität des Umfeldes von zentraler Bedeutung. Nur so kann das Opfer – wenigstens ansatzweise – wieder eine sichere Bindung erreichen. Durch positive Strokes kann das traumatisierte Opfer am ehesten wieder in die Gesellschaft integriert werden. Leider wird John Bowlby’s Bindungstheorie – obwohl als ständiges Erklärungsmodell verwendet – mit keinem Wort erwähnt. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass der Text sich sehr in die Länge zieht und es recht häufig zu Wiederholungen von bereits Gesagtem kommt.
In weiteren Kapiteln werden die häusliche Gewalt, Entführungen und Geiselnahmen behandelt. Pathologische emotionale Bindungsformen und deren psychosomatische Reaktionen, die sich (ohne Behandlung) lebenslänglich zeigen können, werden klar erläutert.
Auch der Kindsmissbrauch wird thematisiert: Sexuelle Ausbeutungen führen häufig zu unerträglichem emotionalem Schmerz. Es werden Abwehrmechanismen gebildet, was eine integrierte Persönlichkeit (Integriertes ER) praktisch verhindert und oft erst im mittleren Erwachsenenalter therapeutisch erfolgreich angegangen werden können.
Im 2. Teil des Buches geht es um die Heilung. Dieser Teil richtet sich hauptsächlich an Therapeutinnen und Therapeuten. Heilung kann nur in einem Klima gegenseitiger OK-OK-Beziehung gelingen. Ein Trauma kann niemals alleine behandelt werden, es braucht therapeutische Hilfe. Ziel ist immer: Wiedererlangung von Autonomie, eigenständiger Identität und gelingende Beziehungsfähigkeit. Dazu ist bewusste Erinnerung, sowie Trauerarbeit notwendig. Das häufig ‹verordnete› Schweigegebot ist zwingend zu brechen (siehe die beiden Kurzberichte in diesem Heft von SB und MS).
Judith Herman’s Buch ist höchst beunruhigend und fordert gleichzeitig zu aktivem Handeln auf. Passivität von Seiten des Umfeldes oder gar aktives Verschweigen (meist aus Scham-Gründen) führt zu keiner Heilung des Traumas und sanktioniert letztlich die zerstörerischen Übergriffe.
Es geht immer um die Würde des Menschen und bei Verlust derselben um die Wiederherstellung. Der Täter oder die Täterin darf nicht vor Verantwortung ausgeklammert und damit geschont werden. Er oder sie soll zur Rechenschaft gezogen werden, damit dem Opfer überhaupt noch eine gewisse ‹Gerechtigkeit› und erneute Autonomie verschafft werden kann.
Das Buch ist einerseits fachwissenschaftlich fundiert und gleichzeitig für Laien gut les- und verstehbar, und ich kann es nur empfehlen.
Jürg Schläpfer

Redaktionelles

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