Jürg Schläpfer
Pädagoge, Grafologe SGG,
Transaktionsanalytiker TSTA-E
info@juerg-schlaepfer.chIch selbst hatte in meinem Leben viele Beschämungen hinzunehmen. Von einer will ich hier einleitend berichten. Sie war für mich prägend in meiner Ausbildungszeit zum Lehrer. Ich hatte als Seminarist im letzten Ausbildungsjahr vor einigen Kolleginnen und Kollegen eine Schulstunde in einer 4. Klasse zu erteilen. Neben dem Klassenlehrer war auch der oberste Verantwortliche der Übungsschule anwesend, der für meine Qualifikation zuständig war. In der Schlussbesprechung – vor anwesendem Publikum – meinte dieser erprobte Fachmann, der von allen recht gefürchtet wurde: ‹Werden Sie Fotograf, junger Mann, aber bitte niemals Lehrer, das muss jetzt und hier deutlich gesagt werden!›
Am liebsten wäre ich im Boden versunken … und erzählte in der Folge keinem Menschen etwas über dieses Erleben, weil ich mich schämte.
Das Beispiel zeigt: Scham kann zur vollständigen Lähmung/Blockierung (ang. K) führen. Sie kann aber auch Ansporn sein (reb. K, welches bestenfalls seine enorme Energie dem ER zuführt).
Scham führte im erwähnten Beispiel bei mir zur sofortigen Blockierung im Frontalhirnkomplex. Das viel ältere Reptilienhirn mit seinen Automatikfunktionen tritt dann jeweils sofort in Aktion. Hier gibt es drei Möglichkeiten: Angriff, Flucht oder Verstecken. Weil ich damals am liebsten im Boden versunken wäre, traf das ‹verstecken wollen› zu.
Trotzdem: Ich schwor mir – nachdem ich wieder bei Sinnen war – ‹Rache› und besetzte mein rebellisches Kind mit Energie. ‹Jetzt erst recht!› und: ‹Dem zeige ich es!› Und noch etwas später legte ich mir einen Plan zurecht, wie das denn zu schaffen wäre (ER). Zwei Jahre später stand ich – mit abgeschlossenem Lehrerdiplom – vor meiner eigenen Schulklasse, und in den folgenden 28 Jahren erteilte ich mit grosser Freude und innerem Engagement Schulunterricht (und auch Foto-Unterricht).
In einer Schamdefinition von Eva Wieser (Doktorarbeit, 2002) ist Folgendes zu lesen: ‹Scham wird verursacht durch den Verlust von liebevoller Verbindung zu bedeutungsvollen anderen, die für das psychische und physische Überleben notwendig sind oder für notwendig gehalten werden›.
Auch Jacobi (1999) verweist auf Blickkontaktunterbrechung zwischen Mutter und Säugling. Er schreibt: ‹Der Augenkontakt und das Aufeinander-bezogen-sein von Angesicht zu Angesicht ist für die Entstehung jeglicher Bindung von entscheidender Bedeutung.›
Eine weitere Scham-Definition von Kaufmann in ‹Die Psychologie der Scham›, 1989: ‹Phänomenologisch ist sich schämen das Gefühl, in einer schmerzhaft erniedrigten Weise gesehen zu werden›.
Alle drei Definitionen, so verschieden sie auch sind, nehmen Bezug zu den Bindungsformen von John Bowlby (1907–1990) und unterstellen, dass die beiden unsicheren Bindungsformen zu SCHAM-Produzenten werden können.
Zu John Bowlby’s Bindungsformen habe ich einen längeren Artikel geschrieben. Dieser steht im Kongressreader 2016 Tore und Brücken zur Welt (37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse, Seite 353–360. Dieser Artikel kann auch via E-Mail bei mir direkt bezogen werden.)
Im Weiteren ist festzuhalten, dass Scham in sehr unterschiedlichen Qualitäten mit völlig unterschiedlichen Endresultaten erlebt werden kann. So vergleicht Salman Rushdie in seinem Buch Scham und Schande die Scham mit einer Flüssigkeit. Wenn diese Flüssigkeit in ein Glas gegossen wird bis etwa zur Mitte, dann können wir das Bild einer normalen Schambesetzung, die wir alle kennen, sehen. Scham ist dann die Hüterin der menschlichen Würde, wie Leon Wurmser in seinem Buch Die Maske der Scham, 2016 schreibt.
Nun wird das Bild mit dem Wasserglas erweitert: Es wird noch mehr Wasser ins Glas gegossen, bis zum oberen Rand und dann noch weiter, das Glas wird zum Überlaufen gebracht. Kein Problem, sagt Salman Rushdie und nimmt eine grössere Papierserviette. Damit wischt er das verschüttete Wasser weg, macht einen Knäuel. Dieser Knäuel, sagt er nun, ist die abgewehrte Scham, welche nun auf andere Menschen und Volksgruppen projiziert oder ausgelagert werden kann. Zuviel Scham muss abgewehrt werden, weil sie nicht auszuhalten wäre. Dazu eigneten sich, im Laufe der Geschichte, immer wieder spezielle Menschengruppen: So die Juden, Zigeuner, Osteuropäer im 2. Weltkrieg, Völkermord an den Armeniern 1915, dann aus neuester Zeit Völkermord 1994 an den Hutu, die während 100 Tagen zu 75 % von der Tutsi-Minderheit ausgerottet wurden und viele mehr.
Transaktionsanalytisch wird die Grundeinstellung –/+ (‹Schameinstellung›) kompensatorisch in die Grundeinstellung +/– verwandelt. Damit kann man sich (wenigstens vorübergehend) besser fühlen.
Dazu noch ein letztes Beispiel (beschrieben von Stefan Marks und in seinem Buch genauer und ausführlicher beschrieben) aus der Fussball-Geschichte: Im Jahre 2006 fand das Weltmeisterspiel zwischen den Finalisten Frankreich und Italien statt. Auf französischer Seite spielte einer der besten Fussballer aller Zeiten, der bescheidene, freundliche und hoch disziplinierte Zinedine Zidane. Auf italienischer Seite spielte Marco Materazzi. Bis zur Verlängerung war unentschieden. Dann wurde Zidane, der Spitzenspieler und Spielemacher der Franzosen vom Platz verwiesen, weil er seinen Kopf in die Brust von Materazzi gerammt hatte. Die Italiener gewannen das Spiel und dies in den letzten 10 Minuten vor etwa 1 Milliarde TV-Zuschauern in der ganzen Welt.
Hintergrund dieser Angelegenheit: Scham. Materazzi hat im Verlaufe des Spieles Zinedine Zidane mehrmals vorgehalten, seine Mutter und seine Schwester seien Huren. Diese schrecklichste Beschämung liess in Zinedine Zidane unkontrollierbare, überschäumende Scham aufkommen (–/+), die er in einem Frontalangriff (+/–) auf seinen Gegner abreagierte.
So sagt es auch Daniel Hell in seinem neuesten Buch (Depression als Störung des Gleichgewichts): ‹Scham gehört zum Schlimmsten, was ein Mensch erleben kann. Manchmal ist es zu spät, und es lässt sich dann nur noch beschämt auf früheres Verhalten blicken. Die Bewältigung der Scham ist schwierig, eben weil die Vorkommnisse schmerzhaft sind und diese lieber versteckt werden wollen. Deshalb wird das Aufarbeiten verdrängt›. (Zit. Daniel Hell, Zürichsee-Zeitung, 4.10.2013)
Transaktionsanalytisch kann das Scham-Geschehen mit dem Miniskript-Ablauf sehr gut erklärt werden. Mittels Antreiber-Verhalten kann ich in einem bedingten OK-OK-Verhalten bleiben und meine Schamgefühle mehr oder weniger vermeiden (Position 1). Gelingt das Gebot des Antreibers nicht, werde ich in die Position 2 katapultiert. Dort fühle ich mich schlecht, weil gleichzeitig Kontakt zur unterschwelligen Bannbotschaft aufkommt, welche eine sehr schmerzhafte Auswirkung hat. Diese entspricht Zidane’s Position nach der Beschimpfung durch Materazzi. Zidane ‹verarbeitet› diesen Schmerz kompensatorisch, mittels Schamabwehr, in der Position 3 und schlägt in einer fussballerisch verbotenen Art zurück.
Ich füge hier das Miniskript ein und versehe es mit ‹Scham-Zuschreibungen›:
Miniskriptablauf
Das Miniskript beschreibt eine Sequenz (Dauer einige Sekunden bis einige Minuten) von skriptgebundenen Verhaltensweisen und Maschengefühlen, die immer mit einem der fünf bekannten Antreiber anfängt. ‹Ich bin OK, wenn ich immer …
1. Antreiber:
bedingtes OK-Sein: kann als Schamvermeidung gesehen werden +/+ bedingt
2. Einhalt:
kann als Scham in normaler Ausprägung gesehen werden –/+
3. Tadel:
kann als kompensatorische Schamabwehr gesehen werden +/–
4. Verzweiflung:
kann als traumatische Scham gesehen werden –/–
Ich postuliere:
Wenn wir den Schambegriff in normale Scham (halb gefülltes Wasserglas) und in traumatische Scham (überlaufendes Wasserglas) separieren, können wir in den Positionen 1, 2 und 3 einen sich häufig wiederholenden Schamzyklus erkennen. Je nach Schamstärke und Lebenszyklus der Scham (oft lebenslänglich) kommt irgendwann auch Punkt 4 dazu. Punkt 4 bedeutet dann völlige Verzweiflung, oft Suizid. Voraussetzung, um im ‹kleinen Kreislauf› 1, 2 und 3 zu bleiben, wäre eine sichere Bindungsform. Traurige Voraussetzung für den grösseren Kreislauf 1, 2, 3 und schliesslich 4 ist eine stark traumatisierte, unsichere Bindungsform, worüber meist nicht gesprochen werden kann.
Insbesondere die traumatische Scham führt:
zum Verlust der Selbstachtung
zum Skript-Glaubenssatz ‹Mit mir stimmt etwas nicht!› oder auch ‹Ich bin nicht zugehörig!›
zu Selbstgerechtigkeit als Abwehrform und Verleugnung des Bedürfnisses nach Beziehung
zu narzisstischen Wunden
zu Einsamkeit (Aufmerksamkeit und Wahrnehmung richten sich nur noch auf sich selbst)
zu Kontaktvermeidung (gemäss John Bowlby meist vermeidende unsichere Bindungsform)
zum Verstecken (Beziehungen zum Mitmenschen werden dann schlagartig abgebrochen)
Der oben beschriebene Schamzyklus kann – wie der uns allen bekannte Miniskriptablauf – unterbrochen oder gar vermieden werden.
Dies geschieht durch seelische Reife, durch Aufarbeiten seiner persönlichen Geschichte, durch psychoanalytisches Bearbeiten traumatischer Scham, durch Offenlegung der Schamerlebnisse und durch Umwandlung der früher erlebten unsicheren Bindungsform in eine reife und sichere Bindungsform. Eine sichere Bindungsform kann im Laufe des Lebens nachgeholt werden und entspricht transaktionsanalytisch der wechselseitigen und bereichernden Autonomie oder auch dem integrierten ER.
Dann noch einige Worte zur Schamabwehr resp. zu den Kompensationsstrategien:
Angriff als beste Verteidigung: andere werden beschämt, verachtet, zynisch behandelt
Perfektionismus (transaktionsanalytisch: sei perfekt!)
Schwerverständliche Sprache
Logorrhoe
Projektionen
Grössenphantasien
Narzissmus
Diese verschiedenen Methoden haben immer etwas mit ‹verstecken› zu tun und gewähren dem entsprechenden Anwender ‹Schutz› vor weiteren seelischen Verletzungen. Reife und echte Entwicklung kann auf diesen scheinbaren Schutz verzichten.
Sehr schöne Beispiele dazu lieferte Hilde Anderegg Somaini in ihrem berührenden Buch ‹Der verschlossene Umschlag› 2014 und auch Klara Obermüller in ‹Spurensuche›, 2016.
Beide Bücher sind ausserordentlich geeignet, eine persönliche Öffnung und damit Befreiung zu fördern.
Literatur:
Stephan Marks: Scham – die tabuisierte Emotion
Leon Wurmser: Die Maske der Scham
Salman Rushdie: Scham und Schande
M. Jacoby: Scham und Angst und Selbstwertgefühl
Eva Bänninger Doktorarbeit zur Bedeutung von Scham bei stotternden Menschen, 2002 an der Universität Innsbruck
John Bowlby: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung
Hilde Anderegg Somaini: Der verschlossene Umschlag
Klara Obermüller: Spurensuche
Daniel Hell: Depression als Störung des Gleichgewichts
S. Kaufmann in ‹Die Psychologie der Scham›, 1989
Kongressreader 2016 Tore und Brücken zur Welt (37. Kongress in Hamburg), Artikel von Jürg Schläpfer auf Seite 353–360). Separater Artikel abrufbar unter
info@juerg-schlaepfer.ch